Enter. Die Wahrheit wird dich töten. Willem Asman

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nach dem Speech stellt er sich vor, wie es wäre, auf der anderen Seite zu sitzen. Nicht der allwissende Oz, sondern der verzweifelte Ubbink zu sein. In seiner Fantasie ist Josie mit den Kindern verschwunden. Und heute Nacht schreckt Sem aus dem Schlaf, untröstlich, weil sie die Katze vergessen haben.

      Oz geht die Treppe hoch zu seinem Arbeitszimmer im Dachgeschoss. Bevor er die oberste Schublade seines Schreibtischs öffnet, kontrolliert er, ob das Haar noch dort steckt. Er holt sein privates Smartphone heraus, baut es zusammen, Akku, SIM … und ruft sie an, was sie freut.

      Mit Bahn und Bus sind sie gefahren. Was für ein Abenteuer. Jetzt sitzen sie vor diesem Strandlokal und essen Pommes. Bisschen spät, aber die Kinder haben ja morgen frei. Es ist noch so schön draußen. Sie klingt heiter. Doch dann hält sie inne. Anscheinend ist ihr aufgefallen, dass er nicht viel sagt.

      »Alles in Ordnung?«

      »Ja, ja.«

      »Ganz bestimmt?«

      »Wirklich, alles gut«, sagt er.

      »Ich habe versucht, dich anzurufen, aber ich habe wieder keine Verbindung bekommen.«

      »Schon wieder nicht? Ich habe mein Handy doch nachschauen lassen.« Die Lüge kommt automatisch. Die Regel lautet, niemals ein Privatgerät mit zur Arbeit zu nehmen. »Und meine Dienstnummer?«

      »Die soll ich doch nur im Notfall anrufen. Willst du kurz mit den Kindern sprechen?«

      Bevor er antworten kann, ruft sie die beiden schon. »Sem? Sas? Papa ist am Telefon.« Oz hört dem lauten Geplapper zu, den Kaskaden der Erzählungen von Bruder und Schwester, die durcheinandersprechen und einander übertrumpfen wollen.

      Nach einem Tag voller Eindrücke, Zucker und Junkfood bei Flip, der sie immer verwöhnt, ist deutlich spürbar, wie aufgedreht die siebenjährigen Zwillinge sind. Oz versucht vergeblich, aus ihrer Quasselei schlau zu werden.

      ***

      »Bist du ganz sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragt Josie, als sie ihn wieder an der Strippe hat.

      Sie hört sich seine beruhigenden Worte an, doch der Klang seiner Stimme sagt ihr genug. Bei Oz stecken die Sorgen zwischen und hinter den Worten. Sie liebt ihn von ganzem Herzen und versteht, dass es eine Erklärung dafür gibt (auch wenn sie nicht weiß, welche), dass ihr Mann, der selbst nie erreichbar ist, unbedingt wissen muss, wo sie sich aufhalten.

      Sie denkt an das Foto seiner verstorbenen Eltern an der Pinnwand zu Hause, auf ihrer Wall of Fame, das Oz erst nach langem Drängen hervorholte. Am Tag ihrer Hochzeit aufgenommen, im Hintergrund eine Dattelpalme und eine niedrige Mauer irgendwo in einem Kibbuz bei Tel Aviv. Das einzige Foto, das er noch von ihnen hat, ein unscharfes Polaroid, also musste sie sich damit zufriedengeben.

      Und dort ist die Erklärung zu finden, vermutet Josie, irgendwo in der Geschichte, die Oz nicht mit ihr teilen kann. Irgendwo unter diesem strahlend blauen Himmel.

      Seine Mutter schaut verloren drein, sein Vater düster.

      Oz schaut auch manchmal so, wenn er glaubt, dass sie es nicht sieht.

      Kapitel 4

      Tyler, jetzt,

      zu Hause,

      Buitenveldert, Amsterdam

      Nach der SMS von Charlie aus London hat Tyler in der Nacht – trotz der Flasche Rotwein – kein Auge zugemacht. »Mom, ich sollte doch nichts tun, was du nicht auch tun würdest? Also habe ich einfach alles getan, was Papa getan hätte. Grüße von Mark, hab dich lieb.«

      Tyler hat die Nachricht schon zwanzigmal gelesen und überlegt, was sie bedeuten könnte.

      Der Hinweis auf Charlies Vater könnte natürlich völlig harmlos sein. Aber auch der Zeitpunkt, zu dem ihre Tochter die SMS verschickt hat, kurz nach ein Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit, hat Tyler den Schlaf geraubt. Nach langem Überlegen hat sie geantwortet: »Viel Spaß, mein Schatz, und grüß Mark herzlich zurück. Lass es nicht so spät werden, okay? Lieb dich.« Worauf sie schlaflos liegen blieb, während sie einerseits auf eine beruhigende Antwort hoffte und sich andererseits fragte, ob sie Charlie nicht zu sehr bemutterte.

      Früh am nächsten Morgen ruft sie in der mittelgroßen Modelagentur an, für die sie arbeitet, um sich krankzumelden: Sie fühle sich nicht gut, habe gestern Abend vielleicht etwas Falsches gegessen.

      Nach elf hält sie es nicht länger im Bett aus. Alle zehn Minuten aufs Handy zu starren, um zu sehen, ob Charlie sich gemeldet hat, bringt auch nichts. Sie überlegt, Mark zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Mark, Sohn eines schottischen Diplomaten und Charlies Schulkamerad auf der International School. Charlie hasst es, wenn Tyler Mark ihren »Lover« nennt.

      Gegen Trübsinn und Selbstvorwürfe ankämpfend zieht Tyler sich an: ärmelloses Top, abgeschnittene Jeans und ihre Timberlands. Die blonden Haare bindet sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie geht raus in den Garten. An die Arbeit; sie muss etwas tun, um sich abzulenken.

      Mit einem Spaten aus dem Schuppen gräbt sie die Stelle um, wo schon vor Monaten ihr Gemüsegarten entstehen sollte. Eine Aktivität, die plötzlich keine Sekunde Aufschub mehr duldet. Natürlich unsinnig, dass sie das selbst tut. Sie hätte einen Gärtner anrufen sollen.

      Wütend hackt sie auf die Wurzeln ein, bis sie mit einem Schrei voller Widerwillen und Selbstmitleid den Spaten hinwirft.

      Die Hände auf den Hüften begutachtet sie keuchend die Fortschritte, die sie gemacht hat.

      Verdammte Wurzeln, nicht kleinzukriegen.

      Garf würde irgendeinen philosophischen Kommentar dazu abgeben, etwa: »Wurzeln sind zäh. Man sieht sie vielleicht nicht und sie sind auch nicht wirklich schön, aber sie sind da. Ohne Wurzeln kein Leben.«

      Dann würde er Tyler fragen, ob sie sicher sei, dass der Gemüsegarten ausgerechnet an diese Stelle muss, zu Füßen der Eibe neben dem Schuppen.

      Sie lächelt grimmig in sich hinein.

      Wurzeln, verdammt, was bringen die schon, außer Probleme? Wenn sie ohne leben kann, dann kann Charlie das auch.

      Als sie sich umdreht, sieht sie etwas aus dem Augenwinkel. Ist es Ted, der Nachbarsjunge, im offenen Fenster seiner Dachkammer? Im Gegenlicht der Sonne hat sie Mühe, etwas zu erkennen. Als sie die Augen mit der Hand abschirmt, sieht sie nur noch die Bewegung der Vorhänge. Unwillkürlich schaudert sie. Hat der kleine Widerling sie etwa begafft? Scheiße, Charlie sonnt sich hier oben ohne.

      Sie geht wieder rein, schließt die Hintertür ab und klemmt den Papierstreifen ein. Wieder hat sie das Gefühl, dass jemand im Haus war. Es ist ein unentrinnbarer Teufelskreis, wie sie aus Lehrbüchern weiß: Man erleidet einen emotionalen Schaden, wird achtsamer und deshalb ängstlicher.

      Als sie oben an Charlies Schlafzimmertür vorbeikommt, fällt ihr ein Gesprächsfetzen ein.

      Charlie, empört: »Hast du mein Tagebuch gelesen?«

      Tyler, sich keiner Schuld bewusst: »Dein Tagebuch? Ich wusste nicht mal, dass du eins hast.«

      Charlie fünfzehn, der Nachbarsjunge achtzehn … Welche Mutter würde da nicht ein bisschen rumschnüffeln, wenn sie bemerkt, wie viel Aufmerksamkeit ihre Tochter auf sich zieht? Die größten Lügner sind zugleich die misstrauischsten Menschen, wie Tyler sich nicht zum ersten Mal gewahr wird.

      Sie betritt ihr eigenes Schlafzimmer. Bevor sie die Vorhänge zuzieht, wirft sie noch einen Blick in ihren Garten und die Gärten der Nachbarn. Dann nimmt sie den Freemantle von der Wand.

      Sie gibt auf dem Ziffernblock die Kennzahl ein und drückt ENTER. Die schwere Safetür öffnet sich mit einem Klicken. Tyler holt den großen braunen Umschlag mit den Reisepässen und Kreditkarten, dem Bargeld, dem Handy und der Notfallnummer heraus, den sie vor langer Zeit von Garf, ihrem »Guardian«, bekommen hat. Den Umschlag, der für alle Fälle bereitliegt.

      Nach kurzem Zögern holt sie auch den Ordner mit den Zeitungsausschnitten heraus, die sie aufbewahrt


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