Enter. Die Wahrheit wird dich töten. Willem Asman

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fällt auf eine rostige Geldkassette auf einem Regal. Er nimmt sie an sich, obwohl es sich anhört, als wäre sie voller Büroklammern. Vielleicht wird man es für einen Raubüberfall halten.

      »Bist du fertig hier? Wir müssen weg.«

      »Alles klar.«

      Knapp fünf Minuten später fahren sie wieder bei normaler Geschwindigkeit über die Interstate Richtung Südwesten. Das auseinandergenommene iPhone des Marshals werfen sie aus dem Fenster, ein Stück weiter auch die Geldkassette, die SIM-Karte und den Akku. Die beiden Cousins, armenische Amerikaner der dritten Generation, sind auf dem Weg zu einer verlassenen Textilfabrik südlich von Tampa Bay, Florida, wo sie mit ihrem Auftraggeber Johannes Grün verabredet sind.

      Ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene kommt ihnen entgegengerast.

      Die beiden Cousins schweigen wie immer nach einem Job. Nachkarten, zweifeln oder bereuen … das ist was für Loser. Im Rückspiegel sieht der Fahrer den vertrauten Blick, die Besessenheit, den Adrenalinrausch.

      Erst als der Krankenwagen in der Ferne verschwunden ist, ist es Zeit für eine Zigarette und ein bisschen Gequatsche.

      »War’s was Wichtiges?«

      »Was meinst du?«

      »Was die Frau gesagt hat. Das Weib an dem verfickten Telefon.«

      »O Garf. O Garf.« Er imitierte eine hohe Frauenstimme.

      »Ogarf, Ogarf? Was ist das denn für ein bescheuerter Name? Tust du mir einen Gefallen?«

      »Jetzt?«

      »Angenommen, bei meinem letzten Telefongespräch rede ich mit dir …«

      »Dann soll ich ›Ogarf‹ zu dir sagen?«

      »Nein. Alles, nur das nicht.«

      »›Alles, nur das nicht?‹ Okay, das kann ich mir merken.«

      Kapitel 12

      Tyler, jetzt,

      Buitenveldert, Amsterdam

      »Garf. O Garf«, schreit Tyler ins Telefon. Sie kann hören, dass er zu kämpfen hat, hört ihn schwer atmen, keuchen, röcheln.

      »Hau ab, Lou, hau ab!«

      Sie versteht, was er sagt, und ist doch unfähig, sich zu bewegen. Sie weigert sich zu akzeptieren, was gerade geschehen ist. »O Garf. O Garf.«

      »Der Marshal ist gerade gegangen«, sagt eine männliche Stimme. Sie kann sein widerliches Grinsen geradezu hören. Es ist Garfs Mörder. Kennt sie die Stimme?

      »Danny?«, flüstert sie und schlägt sich die Hand vor den Mund.

      »Er lässt dich grüßen.«

      Dann bricht die Verbindung ab.

      Eine Weile bleibt Lou noch mit dem schweigenden Telefon am Ohr stehen, als könnte sie Garf, wenn sie nur lange genug aushielte, wieder zum Leben erwecken.

      Garf ist tot, da ist sie sicher, und ihre Schuldgefühle melden sich sofort. Zu lange hat sie geglaubt, ihrer Vergangenheit entkommen zu können, wenn sie sie einfach verschwieg. Sie kann es nicht fassen, doch es ist wahr: Danny sucht Vergeltung. All die Jahre lag er auf der Lauer. Diese Erkenntnis trifft Tyler tief im Innern wie ein Schlag in die Nieren.

      Sie ruft noch einmal Charlies Handy an. Noch aufgeregter als beim letzten Mal hört sie sich Charlies Mailboxnachricht an: »Hi, ich bin’s. Bin gerade nicht erreichbar.«

      »Komm schon, Charlie. Geh ran«, sagt Tyler vergebens zu der Mailbox.

      »Hinterlass doch eine Nachricht. Ich rufe schnell zurück. Oder nicht so schnell. Oder gar nicht, wirst du ja sehen.«

      Nach dem Signal sagt Tyler: »Charlie, ruf mich an. Sofort!« Ihre Stimme klingt so schrill, dass sie zusammenzuckt. Sie fügt hinzu: »Bitte, Liebling. Keine Scherze jetzt.« Ihre Stimme überschlägt sich bei dem Wort »Scherze«. Sie legt auf und eilt die Treppe hoch.

      Sie ruft Mark an. Er geht fast sofort ran, zumindest scheint es so. »Mark?«

      Sie hört, wie er Passanten zuruft, fragt, ob jemand etwas gesehen oder das Kennzeichen aufgeschrieben hat.

      Ihr Samsung zwischen Kinn und Schulter geklemmt kniet sie sich hin. Wühlt wild unter dem Bett herum, schiebt Schuhe, Schlafsäcke, Plastiktaschen mit vergessenem Inhalt zur Seite, bis sie ihre Reisetasche findet.

      »Mark? Ist Charlie wieder aufgetaucht?« O Gott, bitte, lass sie wieder da sein, denkt sie, während sie aufsteht. Aber als er endlich reagiert, hört sie schon an seinem Tonfall, dass es nicht so ist. Seine Stimme überschlägt sich, klingt panisch, bestätigt, was sie schon weiß. So sicher, wie sie weiß, dass Garf tot ist.

      Jammernd führt er seinen unzusammenhängenden Bericht fort: Dass sie sich von der Klasse entfernt haben und Charlie eine Verabredung mit einem jungen Mann mit einer Zeitung unterm Arm hatte, den sie aus dem Internet kannte, der Sohn eines Privatdetektivs, der behauptete, Informationen über Charlies Vater zu haben.

      »Mark?«, ruft Tyler. »Mark, beruhig dich!« Als er endlich verstummt, hört sie Verkehrsgeräusche und laute Stimmen. »Hör zu, Mark. Ihr müsst die Polizei rufen, falls das noch nicht geschehen ist, okay? Ich komme sofort nach London. Sobald ich da bin, rufe ich dich an. Mark? Hast du mich verstanden?«

      »Ja, ist gut«, sagt er. »Sie kommen also her?«

      »Ich mache mich sofort auf den Weg.« Sie hört ihn weinen. »Halte durch, Mark.«

      Als er nicht mehr reagiert, legt sie auf und lässt das Handy aufs Bett fallen. Sie darf keine Sekunde verlieren.

      Nach einem Blick in die Gärten zieht sie die Vorhänge zu und nimmt den Freemantle von der Wand. Sie wirft das kostbare Ölgemälde in die Ecke. Dann gibt sie die Kombination ein. Mit einem Klicken öffnet sich der Safe. Und wie von diesem Klicken ausgelöst, dringt endlich zu ihr durch, was passiert ist, und Tyler fängt an zu weinen. Aber sie kann sich keinen Zusammenbruch leisten. Jetzt ist nicht die Zeit für Selbstvorwürfe.

      Mit einer resoluten Geste schiebt sie den Inhalt des Safes in die Reisetasche: den Ordner, den braunen Umschlag mit den Reisepässen, Bargeld, Kreditkarten, das neue Handy samt Ladekabel.

      Moment. Sie steckt den Zettel mit der Notfallnummer in ihre Tasche und greift nach dem Handy. In dem Moment klingelt ihr altes Samsung. Sie hechtet zum Bett, greift daneben, das Smartphone rutscht über den Rand und fällt mit einem lauten Knall auf den Boden. Fluchend kriecht sie auf allen vieren übers Bett, doch als sie das Gerät erreicht, hat der Anrufer schon aufgelegt.

      1 Anruf in Abwesenheit, Nummer anonym, steht auf dem Display. Ein Laut, nicht mehr als ein Wimmern, entfährt ihr.

      Aus den Schubladen im Kleiderschrank holt sie Unterwäsche, ein sauberes T-Shirt, Socken, einen Pullover, Jeans, eine Baseballmütze und eine alte Sonnenbrille. Hektisch an den Senkeln zerrend schnürt sie ihre Timberlands.

      Tyler zögert kurz und betrachtet ihr altvertrautes Samsung auf dem Bett. Wer hat da wohl angerufen? Sie könnte noch einmal versuchen, Charlie zu erreichen. Aber ist das überhaupt sicher? Sie denkt an Garfs Anweisungen für diesen Fall. Wenn Garf über Sicherheit sprach, hörte man zu. Er ließ einem keine Wahl. »Zuerst du selbst, dann Charlie«, hört sie ihn sagen. »Denk dran, was die Stewardessen immer sagen: Leg zuerst dir selbst eine Sauerstoffmaske an.«

      Gegen seine Anweisung nimmt sie das alte Samsung und ruft noch einmal Charlie an. Plötzlich macht sich eine schaurige Vorstellung in ihrem Kopf breit: Diesmal geht Charlie ran, und Tyler hört ihre letzten Worte, ihren letzten Atemzug.

      Ungeduldig hört sie erneut die fröhliche Nonsensbotschaft, über die Charlie und Mark damals so gelacht hatten. »Oder gar nicht, wirst du ja sehen

      »Liebling, ich rufe dich gleich von einer anderen Nummer aus an. Ich simse auch, okay?« Was noch? Irgendwas Liebes. Etwas, das ihr zeigt, dass ihre Mutter alles unter Kontrolle hat. Tyler schluckt. Keine


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