Jan in der Schusslinie. Carlo Andersen

Jan in der Schusslinie - Carlo Andersen


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Orgelmusik und die knirschenden Schritte auf dem Dachboden gehört haben, bleiben noch bis zum Monatsende.»

      «Hat deine Tante die Polizei benachrichtigt?»

      «Nein, sie sagt, man würde sie doch nur auslachen. Statt dessen hat sie dich und mich für acht Tage eingeladen. Mir paßt das sehr gut, denn ich habe noch eine Woche Ferien, und du liegst ohnehin auf der faulen Haut.»

      «Ich soll also mit dir auf Gespensterjagd gehen?»

      «Nein, ich will mit dir zusammen ein Geheimnis aufklären. Ich habe meiner Tante erzählt, daß du ein zweiter Sherlock Holmes bist.»

      «Nett von dir», sagte Jan lächelnd. «Obwohl ich kein Fachmann bin, nehme ich die Einladung an, weil sich die Sache interessant anhört. Hoffentlich kann ich Boy mitnehmen?»

      «Natürlich, dafür habe ich gesorgt. Tante Grethe weiß schon, wie gut er ausgebildet ist.»

      «Wann fahren wir?» fragte Jan kurz entschlossen.

      «Morgen vormittag, wenn es dir recht ist.»

      «Abgemacht.»

      Beim Abendessen wurde natürlich über das geplante Unternehmen gesprochen, und wie stets zeigte sich Frau Helmer ängstlich besorgt. «Mußt du dich denn immer auf gefährliche Dinge einlassen, Jan?» rief sie.

      Jan klopfte ihr beruhigend den Arm. «Gespenster haben noch nie einem Menschen etwas zuleide getan.»

      «Die Schwedin ist immerhin in Ohnmacht gefallen.» Sie wandte sich an ihren Mann: «Was sagst du dazu, Mogens?»

      «Ich finde die Sache nicht uninteressant», antwortete der Kommissar nachdenklich. «Wenn verschiedene Menschen unabhängig voneinander etwas Rätselhaftes erleben, muß ja etwas dahinterstecken. Von einer Massenhysterie kann in diesem Fall keine Rede sein, auch wenn ein mittelalterliches Schloß vielleicht dazu herausfordert. Sehen wir einmal von Spuk und übernatürlichen Dingen ab, so bleiben zwei vernünftige Fragen: Was geschieht augenblicklich auf Schloß Dragsholm, und warum geschieht es? Sag, Hanne, könnte deine Tante darauf aus sein, für ihre Pension Propaganda zu machen?»

      «Ausgeschlossen», antwortete Hanne. «Wenn es ruchbar würde, daß es im Schloß nicht mit rechten Dingen zugeht, würden sich ja die meisten Leute abgeschreckt fühlen.»

      «Da irrst du dich, mein Kind», entgegnete Helmer. «Im allgemeinen siegen Neugier und Sensationslust über die Angst. Im übrigen ist es durchaus möglich, daß irgendein Spaßvogel sein Spiel treibt, und es kann nichts schaden, wenn ihm das Handwerk gelegt wird. Sollte aber etwas Kriminelles dahinterstecken...»

      «Das sage ich ja!» rief Frau Helmer. «Die beiden begeben sich in Gefahr!»

      «Glaubst du wirklich, es könnte etwas Kriminelles dahinterstecken?» fragte Jan aufgeregt.

      «Wie soll ich das wissen?» erwiderte sein Vater. «Jedenfalls habe ich nichts dagegen, wenn ihr beide die Sache näher untersucht. Aber du erinnerst dich an unsere Abmachung, Jan?»

      Jan nickte. «Ja, ich habe dir versprochen, mich nicht unnötig in Gefahr zu begeben und die Polizei zuzuziehen, sobald es brenzlig wird.» Zu seiner Mutter sagte er: «Ich weiß sogar die Nummer – Holbaek 1448.»

      Hanne staunte. «Woher weißt du sie?»

      «Ich habe schon vor Jahren die Nummern aller größeren Polizeistationen auswendig gelernt», erklärte er. «Man kann ja nie wissen...»

      Damit sollte Jan recht behalten.

      Zweites kapitel

      Dragsholm, das ehemalige königliche Schloß und Staatsgefängnis, wo Graf Bothwell 1573 bis 1578 gefangen saß, liegt auf der dänischen Insel Seeland zwischen der Seierö-Bucht und dem trockengelegten Lammefjord in schönster Landschaft, umkränzt von Meer, Wäldern und weichgeschwungenen Hügelzügen; aber als es von einem streitbaren Roskilder Bischof erbaut wurde, geschah es gewiß nicht im Hinblick auf die Naturschönheiten. Damals schnitt der Lammefjord noch tief in Odsherret ein, und da es nur ein kurzer Weg bis zur Seierö-Bucht war, bildete Dragsholm sozusagen den Schlüssel für Odsherret und diente als stärkste Festung der damaligen Zeit, auf drei Seiten von Sümpfen umgeben und nur von Norden her zugänglich.

      An ein so altes Schloß knüpfen sich natürlich viele Sagen und unheimliche Erzählungen. Doch waren die heutigen Schloßbewohner nie unerklärlichen Ereignissen ausgesetzt gewesen; aber seit einem Monat ging es auf Dragsholm wirklich seltsam zu. Die sonst so nüchterne und kaltblütige Frau Grethe Voigt, die auf dem Schloß eine Pension für Feriengäste führte, war sich darüber klar, daß wirksam eingegriffen werden mußte. Da sie sich nicht an die Polizei wenden mochte, kam ihr der Vorschlag ihrer Nichte Hanne Beyer sehr gelegen. Sie glaubte zwar nicht recht daran, daß dieser Jan Helmer das Rätsel lösen würde, aber ein Versuch würde ja nicht weiter schaden. Frau Voigt gestand sich selbst ein, daß sie, milde gesagt, ein wenig nervös geworden war. Die Schwedin, die dem «Gespenst» begegnet war, hatte auf der Stelle ihre Rechnung verlangt, und wenn es mit den übrigen Gästen so weiterging, konnte die Pension zumachen. Bei Tisch herrschte neuerdings eine düstere Stimmung, und wenn die Gäste auch bestrebt waren, keinen Aberglauben zu zeigen, so konnte man doch merken, daß sie sich ungemütlich fühlten.

      Hanne und Jan wurden von Grethe Voigt herzlich empfangen und in ihrer Privatwohnung sogleich mit Tee und Kuchen bewirtet. Die Schloßherrin musterte Jan mit forschendem Blick und sagte: «Ja, junger Mann, mit Muskelstärke dürfte diese unheimliche Geschichte nicht zu klären sein.»

      «Jan hat aber auch einen klugen Kopf, Tante Grethe», wehrte sich Hanne für ihren Freund. «Außerdem hat er mich als Gehilfin.»

      «Deine Bescheidenheit ziert dich», antwortete Frau Voigt ein wenig spöttisch. «Wie wollen Sie die Sache nun angreifen, Jan?»

      Er zuckte die Schultern. «Einen bestimmten Plan habe ich noch nicht. Es wird wohl von den Umständen abhängen. Aber zuerst würde ich gern Genaueres über die Vorfälle in der letzten Zeit hören.»

      Während Frau Voigt sie ihm in allen Einzelheiten schilderte, warf er ab und zu eine Frage ein, und nach zehn Minuten glaubte er einen ganz guten Überblick über die Lage zu haben. Dann wies er lächelnd auf Boy und sagte: «Mein Hund hat sich von Gespenstern nie imponieren lassen, und zu dritt werden wir das Rätsel gewiß lösen. Ich habe die interessante Geschichte des Schlosses bis zum Zweiten Weltkrieg nachgelesen, aber was ist eigentlich danach geschehen?»

      «Während des Krieges war das Schloß von den Deutschen besetzt, und bei der Befreiung 1945 rückten die Widerstandskämpfer ein...» Frau Voigt schwieg einen Augenblick, als ob ihr etwas eingefallen wäre. Ihr Gesicht war nachdenklich, als sie fortfuhr: «Damals ereignete sich übrigens etwas Sonderbares, das nie aufgeklärt wurde. Als die Widerstandskämpfer einrückten, kannten sie die Zahl der Deutschen, die sich im Schloß aufhielten; aber es zeigte sich, daß ein Offizier fehlte. Man suchte ihn überall, vom Keller bis zum Dach, doch er war und blieb verschwunden, und keiner wußte etwas von ihm. Und dann geschah das Merkwürdige. Mehrere Freiheitskämpfer – lauter ruhige und besonnene Leute – hielten sich in einem Salon auf, als plötzlich der vermißte Deutsche quer durch den Raum ins Nebenzimmer ging. Natürlich stürzten die Freiheitskämpfer hinterdrein... aber er war verschwunden!»

      «Verschwunden?» wiederholte Jan verblüfft. «Wie konnte er denn so schnell entkommen?»

      «Das Nebenzimmer, ein kleinerer Salon, hat keinen andern Zugang, und sämtliche Fenster waren von innen zugehakt. Nirgends war der Mann zu finden. Wenn nur einer ihn gesehen hätte, könnte man eine Sinnestäuschung vermuten, aber sie hatten ihn ja alle zusammen gleichzeitig gesehen.»

      «Wirklich sonderbar», murmelte Jan.

      «Es war ein höherer Offizier, und es ging das Gerücht, er wäre in einer besonderen Mission nach Dragsholm gekommen.» Frau Voigt machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte. «Aber das hat gewiß nichts damit zu tun, daß es jetzt hier spukt. Das Schloß hat zwar unzählige Räume, aber ein Mann kann sich unmöglich so viele Jahre unbemerkt versteckt halten, und wozu auch?»


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