Jan in der Schusslinie. Carlo Andersen
überall außer in den bewohnten Gästezimmern», antwortete sie. «Hanne kennt das Schloß inund auswendig, eine bessere Fremdenführerin könnten Sie gar nicht haben.»
Als er kurz darauf mit Hanne auf dem Kopfsteinpflaster des Schloßhofs stand, sagte er: «Für die Geschehnisse der letzten Zeit werden wir schon eine Erklärung finden – jedenfalls hoffe ich es –, aber die Sache mit dem verschwundenen deutschen Offizier verstehe ich einfach nicht.»
«Könnte es sich dabei nicht um die Massensuggestion gehandelt haben, die dein Vater gestern erwähnte?» meinte Hanne.
Jan wiegte den Kopf. «Möglich. Eine Massensuggestion entsteht aber nicht von einer Minute auf die andere. Sie ist immer irgendwie psychologisch unterbaut oder vorbereitet. Na, lassen wir das, es geht uns ja nichts an. Wir wollen uns zuerst einmal die Kirche ansehen, wo die Orgel von selbst gespielt hat.»
Sie überquerten den Hof und betraten die fliesenbelegte Vorhalle, von der eine Tür in die Schloßkirche führte. Der handgeschmiedete große Türschlüssel lag auf einem Brettchen, und im Nu hatte Hanne die Tür geöffnet. Jan betrachtete das alte Schloß und sagte: «So, ein Rätsel wäre immerhin gelöst.»
«Wieso?»
«Wir sind uns doch einig, daß eine Orgel nicht spielen kann, ohne daß sie von einem Menschen bedient wird. Folglich befand sich an dem fraglichen Abend ein Mensch in der Kirche.»
«Die Tür war aber abgeschlossen, und der Schlüssel lag an seinem Platz», entgegnete Hanne.
«Hat gar nichts zu bedeuten. Dieses Schloß ist mit den meisten großen Schlüsseln oder mit einem Dietrich zu öffnen, und natürlich geht es von innen ebenso leicht. Als deine Tante dem geheimnisvollen Orgelspiel nachging, war der Mann, der offenbar gehört werden wollte, längst verduftet.»
«Aber warum vollführt ein Mensch einen solchen Streich?»
«Vielleicht handelt es sich um einen schlechten Spaß... hm... oder um einen Geisteskranken.» Als Jan Hannes zweifelnde Miene sah, fügte er hinzu: «Es wäre nicht der erste Geisteskranke auf Dragsholm – denk an Bothwell!»
«Das glaubst du wohl selbst nicht», entrüstete sie sich.
«Also gut, ich will ehrlich zu dir sein, Hanne. Ich habe eine ganz bestimmte Idee, aber ich will erst damit herausrücken, wenn wir das ganze Schloß untersucht haben. Schauen wir uns drinnen um.»
Die Schloßkirche war nicht groß, aber mit ihren schlichten, klaren Linien sehr schön. Oben links war die Kanzel, auf der rechten Seite die Orgel. Auf der Bank des Organisten lag eine Felldecke, die Jan geistesabwesend betrachtete.
Schließlich fragte er: «Ist das hier eine Pfarrkirche?»
«Ja», antwortete Hanne, «jeden zweiten Sonntag wird hier ein Gottesdienst abgehalten, an den übrigen Sonntagen in der Kirche von Faareveile. Warum fragst du das?»
«Ach, mir ist nur ein neuer Gedanke gekommen, aber vielleicht ist er falsch. Es wird sich später zeigen.»
«Du redest in Rätseln.»
«Ich möchte mich nicht lächerlich machen. Augenblicklich sammle ich bloß Bruchstücke eines ziemlich verwickelten Mosaiks, und wenn mir das Zusammensetzen gelingt, werde ich dir alles erklären.»
«Vielen Dank», spöttelte sie.
In der nächsten Stunde wurde das Schloß einer gründlichen Besichtigung unterzogen, wie sie noch kein Tourist erlebt hatte. Mit Boy auf den Fersen gingen Jan und Hanne in Bothwells Verlies, ins sogenannte «Hundeloch», wo die Verbrecher einst ihre Sünden abgebüßt hatten, durch den Wehrgang mit den Schießscharten, durch die recht baufälligen Zimmer und Flure des Kavaliersflügels, durch die schönen Säle des Hauptflügels, ja, sogar den Heizungskeller sah sich Jan genau an.
Zuoberst im südlichen Flügel war ein kleiner Raum vollgestopft mit Plunder und Gerümpel. Die dumpfe, beklemmende Luft ließ sich kaum atmen, und in dem verschleierten Halblicht konnte man sich vom Inhalt des Zimmers kein richtiges Bild machen.
Jan bückte sich und befühlte einen verstaubten, gräulichen Stoff, der zu einem Bündel zusammengeklebt war. «Was ist denn das?» rief er überrascht. «Wenn ich mich nicht irre, haben wir hier einen Fallschirm!»
«Möglich», antwortete Hanne gleichmütig. «Tante Grethe erzählte mir, daß die Deutschen eine Menge altes Zeug zurückgelassen haben. Wahrscheinlich hat man es in dieser Kammer verstaut.» Sie lachte. «Würde mich wundern, wenn Tante Grethe jemals die Nase in dieses stickige Loch gesteckt hat. Gibt es hier etwas Interessantes, Jan?»
«Ich will es morgen untersuchen, wenn’s hell ist.»
Boy schnüffelte neugierig an dem aufgehäuften Plunder, aber Jan befahl kurz: «Weiter, Boy!»
Kurz darauf standen sie im sogenannten Theatersaal, und Hanne erläuterte: «Das ist das sonderbarste Theater der Welt. Wie du siehst, ist die Bühne doppelt so groß wie der Zuschauerraum, doch das hat seinen Grund. Wenn die Könige und Fürsten früher zu Besuch nach Dragsholm kamen, wurden sie oft von Wanderschauspielern unterhalten; aber außer den hohen Herrschaften bestand das Publikum nur aus Lehnsleuten und einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten, so daß es auf ein paar Bankreihen Platz fand. Ob das wohl das kleinste Theater der Welt ist?»
«Ja, kleiner könnte es kaum sein», räumte Jan ein.
Auf dem zerlumpten Bühnenvorhang hatte ein unbekannter Maler eine hübsche Meerjungfrau abgebildet, die das alte Schloß Dragsholm betrachtete. Jan zog den mürben Vorhang vorsichtig auf und betrat die abgeschrägte Bühne. Hanne und Boy folgten ihm.
Der Bretterboden ruhte auf festen Holzböcken; dichter Staub wirbelte auf, als er betreten wurde. Jan begnügte sich mit einem Blick unter die Bühne, weil der Staub eine nähere Untersuchung unmöglich machte; aber plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er wies mit dem Befehl «Such, Boy, such!» hinunter.
Obwohl Boy ebensowenig wie Jan wußte, was er suchen sollte, befolgte er das Kommando und kroch in den dunklen Hohlraum.
Hanne fragte verwundert: «Was treibt Boy dort unten?»
«Er vergnügt sich», antwortete Jan lächelnd. «Er macht sich gern nützlich, doch ich fürchte, diesmal wird er enttäuscht werden.»
Darin irrte er sich, denn Boy schleppte gleich darauf ein verstaubtes, zusammengerolltes Bündel herbei. Zu seiner großen Überraschung stellte Jan fest, daß er eine Mütze und Uniform mit deutschen Offiziersabzeichen vor sich hatte.
Es dauerte eine Weile, bis er sich gefaßt hatte. «Etwas wäre damit aufgeklärt», sagte er schließlich. «Diese Uniform hat sicher dem verschwundenen deutschen Offizier gehört, von dem deine Tante erzählt hat. Als die Freiheitskämpfer einrückten, hat er sich wahrscheinlich hier in der Versenkung versteckt, wo kein Mensch gesucht hat, dann seine Uniform mit irgendeinem unauffälligen Kostüm vertauscht, und so konnte er unerkannt aus Dragsholm entkommen. Aber diese Angelegenheit braucht uns nicht weiter zu kümmern, wir wollen ja ein anderes Rätsel lösen.»
In diesem Augenblick ertönte ein Gong, und Hanne sagte munter: «Essenszeit! Komm schnell, wir müssen uns wenigstens die Hände waschen nach all dem Staub. Ich habe einen Bärenhunger!»
Im großen Speisesaal waren alle Tische besetzt. Hanne und Jan erhielten einen Platz am Tisch der Schloßherrin, der nahe bei der Tür zur Küchenregion stand. Frau Voigt war stets auf dem Sprung, einzugreifen, wenn einer der Gäste irgend etwas verlangte, und sie verfolgte mit wachsamem Blick die Mädchen, die das Essen auftrugen. Trotzdem fand sie Zeit, Jan das eine oder andere von den verschiedenen Gästen zu erzählen. Größtenteils waren es alte Stammgäste, die schon seit Jahren nach Dragsholm kamen. Jan interessierte sich mehr für die neuen Pensionäre, die er verstohlen unter die Lupe nahm: Es waren ein Professor mit Frau und zwei Kindern aus Aarhus, ein unverheirateter Redakteur aus Kopenhagen, Schiffsreeder Wang aus Norwegen, Großhändler Otto Schrad aus Hadersleben und vier vielköpfige Familien aus Schweden.
«Was plagt dich, Sherlock Holmes?» fragte Hanne, der auffiel, daß Jan dem Essen