Jan in der Schusslinie. Carlo Andersen

Jan in der Schusslinie - Carlo Andersen


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aus Kopenhagen.

      «Boy, komm her!» befahl Jan.

      Ohne zu zögern, gehorchte der Hund. Jan sagte mit erhobener Stimme zu den Gästen: «Ich bitte vielmals um Entschuldigung, wenn mein Hund Sie belästigt hat. Es soll nicht wieder vorkommen, aber ich möchte Ihnen doch sagen, daß er ein gutartiges Tier ist, das keiner Katze ein Leid antun würde.»

      Einer der Herren kam herbei und betrachtete Boy mit Kennermiene. «Ja, wirklich ein ausnehmend schönes Exemplar. Natürlich mit erstklassigem Stammbaum?»

      Jan nickte vergnügt. «Und er ist tadellos abgerichtet.»

      Der dicke Herr jedoch rief entrüstet: «Hinaus mit dem Vieh!»

      Jan führte Boy hinaus, und Hanne eilte hinterdrein. Sie war erfüllt von Spannung und unterdrückter Heiterkeit. Auf dem Schloßhof ließ sie ihrer Lachlust die Zügel schießen, ahmte den Dicken nach und sagte dann ernster: «Das war eine Überraschung, was?»

      «Ja, wahrhaftig», antwortete Jan. «Ich war ebenso sicher wie du, daß Boy diesen Otto Schrad überführen würde, hm... aber nun müssen wir uns mit dem Redakteur befassen.»

      «Ob sich die beiden kennen?»

      «Wenn ja, vertuschen sie es gut, jedenfalls müssen wir die Sache näher untersuchen. Zuerst wollen wir Boy ins Zimmer hinaufbringen und einen Schlachtplan aufstellen.»

      Oben in seinem Zimmer sagte Jan: «Tja, ich habe dir versprochen, dich nicht länger auf die Folter zu spannen, doch offen gestanden, jetzt sitze ich selbst in der Klemme. Es wäre alles viel leichter, wenn ich mich erinnern könnte, wann und wo ich Schrad früher gesehen habe... Jedenfalls sollst du nun erfahren, was ich mir zusammengereimt habe.»

      «Ja, laß hören», drang Hanne in ihn.

      «Meiner Ansicht nach wurde der ganze Spuk – das Orgelspiel und das leuchtende Gespenst im Gang – nur zu dem Zweck inszeniert, den Gästen solche Angst einzujagen, daß sie das Schloß verlassen.»

      «Von der Konkurrenz meiner Tante? Aus Brotneid?»

      «Nein, das glaube ich nicht. Wenn meine Theorie stimmt, gibt es hier einen Menschen oder auch mehrere Leute, die es darauf angelegt haben, die Gäste zu verjagen, damit sie ungestört etwas ganz Bestimmtes im Schloß suchen können.»

      «Und das wäre?»

      «Keine Ahnung. Die Schritte oben auf dem Dachboden gehören vielleicht zu der Abschreckungskampagne, aber mir leuchtet es mehr ein, daß man dort in der Nacht etwas gesucht hat. Wenn sie wirklich knirschten, wie deine Tante gesagt hat, sollte es sich nicht nach einem Gespenst anhören, sondern das Geräusch wurde unabsichtlich hervorgerufen. Und was die leuchtende Gestalt betrifft... na ja, dieser Zauber läßt sich mit Phosphor bewerkstelligen. Er diente wahrscheinlich einem doppelten Zweck. Der Kerl war auf der Suche nach etwas, und wenn ihm irgendein Mutiger entgegengetreten wäre, hätte er behaupten können, er habe sich nur einen Spaß machen wollen. Niemand hätte diese Erklärung bezweifelt.»

      «Und das Orgelspiel?» fragte Hanne.

      «Ja, das ist eine Sache für sich. Dahinter steckt der Redakteur, wie wir jetzt wissen. Er ist tollkühn, das muß man ihm lassen. Wie gesagt, den Gästen sollte damit höllische Angst eingejagt werden, aber wenn einer von ihnen den Mut gehabt hätte, die Sache zu untersuchen, wäre der Redakteur in Verlegenheit geraten. Er hätte sich so schnell nicht unter die übrigen Gäste mischen können, und die Ausrede mit dem lustigen Spuk wäre nicht möglich gewesen.»

      Jan machte eine Kunstpause. Dann fuhr er fort: «Der Orgelspieler und die leuchtende Gestalt sind schwerlich ein und dieselbe Person. Die Schwedin sagte ja, es wäre eine große Gestalt gewesen, und der Redakteur ist klein und gedrungen.»

      «Otto Schrad ist sehr groß!»

      «Allerdings. Aber es ist bei weitem nicht gesagt, daß er in die Sache verwickelt ist. Selbst wenn ich ihn tatsächlich schon gesehen habe, spricht das nicht ohne weiteres gegen ihn.»

      «Da fällt mir etwas ein», sagte Hanne eifrig. «Wäre es nicht möglich, daß zwischen der Suche nach einem versteckten Gegenstand und dem verschwundenen deutschen Offizier ein Zusammenhang besteht?»

      «Der während der Besetzung in einer besonderen Mission hierher kam...» Jan wurde nachdenklich. «Du meinst...»

      «Ja, ja!» Sie wurde immer aufgeregter. «Während des Krieges spielte Odsherret für die deutsche Besetzung eine wichtige Rolle. Das weiß ich von Tante Grethe. Wäre es nicht denkbar, daß der deutsche Offizier mit irgendwelchen strategischen Plänen oder neuen Waffen hierher kam...»

      «Durchaus denkbar», pflichtete er bei.

      «Dann kam die Kapitulation, und der Deutsche hatte nichts anderes im Kopf, als zu verschwinden. Die wichtigen Pläne oder Waffen konnte er nicht mitnehmen; also verbarg er sie irgendwo im Schloß, um sie später zu holen... Na ja, eigentlich sonderbar, daß darüber so viele Jahre vergangen sein sollen, aber dabei können ja Zufälle mitgewirkt haben... Du, Jan, es würde mich gar nicht wundern, wenn Otto Schrad der verschwundene deutsche Offizier wäre!»

      «Na, na, immer langsam mit den jungen Pferden», lachte Jan. «Jetzt geht die Phantasie mit dir durch.»

      «Wieso?»

      «Wenn Schrad mit dem deutschen Offizier identisch ist, muß er doch wissen, wo er die Pläne im Mai 1945 versteckt hat, und dann brauchte er den ganzen Spuk hier nicht zu inszenieren. Außerdem ist er zu jung. Wie kommst du übrigens darauf, daß er der Offizier sein könnte?»

      «Er ist ja angeblich Südjütländer, und die Südjütländer haben einen ähnlichen Tonfall wie die Deutschen, wenn sie Dänisch sprechen. Außerdem ist Schrad ein deutscher Name.»

      Er lächelte. «Ein schwacher Beweis, Hanne. Wir kommen so nicht weiter, wenn wir nicht einmal wissen, ob Schrad den Redakteur kennt. Darüber wird uns deine Tante vielleicht aufklären können. Weißt du was, lauf schnell zu ihr und frag sie!»

      «Wird gemacht.»

      Jan wartete ungeduldig auf Hannes Rückkehr. Seine Gedanken gingen im Kreise, und je länger er darüber nachdachte, desto mehr leuchtete ihm Hannes Erklärung ein. Wirklich ein zweiter Doktor Watson, diese Hanne...

      Hanne stürzte so aufgeregt herein, daß er unwillkürlich zusammenzuckte.

      «Es stimmt, Jan!» rief sie begeistert. «Tante Grethe sah Schrad und den Redakteur mehrmals im Park zusammen Spazierengehen, anscheinend in ein Gespräch vertieft. Tante Grethe wunderte sich sogar darüber, weil sie im Salon nie miteinander sprechen. Sie sitzen ja auch beim Essen an verschiedenen Tischen. Wie findest du das?»

      «Hört sich gut an», räumte er ein. «Wir müssen im Telephonbuch nachsehen, ob es in Hadersleben einen Großhändler Otto Schrad gibt. Wie heißt übrigens unser orgelspielender Redakteur?»

      «Nielsen... ganz einfach Nielsen.»

      «Ob er wohl wirklich Redakteur ist...»

      «Da fällt mir ein», unterbrach sie ihn, «ich habe als deine Assistentin dafür gesorgt, daß du jetzt einen andern Namen trägst.»

      «Ich soll unter falschem Namen auftreten?» empörte er sich.

      «Selbstverständlich. Solange du auf Dragsholm wohnst, heißt du Jens Hansen. Als Jan Helmer bist du zu berühmt. Selbst wenn dich Herr Schrad nie gesehen hat, so hat er vielleicht von dir gehört und ist gewarnt, wenn er erfährt, daß sich der dänische Amateur-Meisterdetektiv unter die Gäste gemischt hat. Darum habe ich Tante Grethe gebeten, dich als Jens Hansen zu führen.»

      «Hanne, du bist ein Engel! Natürlich hast du recht.»

      «Vergiß also deinen neuen Namen nicht. Laß uns nun zu den Gästen hinuntergehen, aber ohne Boy!»

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