Die Narrentour der Liebe. Robert Heymann

Die Narrentour der Liebe - Robert Heymann


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Hauptanteil sicherte.

      Der matte Schein der elektrischen Lampen fiel in den Zuschauerraum, wo die übrigen Mitglieder sassen: die Geliebte des Kapellmeisters, Helene Bien, eine talentierte Schauspielerin, die die unbeschränkte Freiheit ihres Lebens um den Verlust einer grossen künstlerischen Karriere erkauft hatte. Der Komiker Hirten, Jolly Jalla, die elegante, zierliche französische Liedersängerin, Else Walden, eine überschlanke Blondine mit norddeutschem Anschlag, und die grosse, wuchtige, berühmte Liane Leidner. Ihr Gang war tragödienhaft. Der wie von einem impressionistischen Bildhauer halbfertig hingeworfene Kopf war rassig und rätselhaft. Sie war Gast und in Berlin ein „Star“.

      Selbst die Kolleginnen schwiegen, als Mie ihr Lied zum Vortrag brachte: diesen aufreizenden Refrain, dieses heisse Werben, dieses Schnellen nach Lust, dieses Aufsaugen der Stimmungen einer Weiberseele.

      Der Direktor sprach weder von der Stimme, noch von dem Text oder der Komposition. Er legte allen Ausdruck und jeglichen Wert in Mies Beine, und er erstrebte damit in Wahrheit nur eine künstlerische Geste, denn Mie war imstande, mit einer Bewegung ihrer Glieder mehr zu sagen als mit einem ganzen Liede, mehr zu geben als mit aller stimmlichen Kunst.

      Der Abend wurde ein Erfolg, der alle Erwartungen übertraf.

      Nach der „Rasse“ sang Mie ein zweites Lied ihres Dichters, in dem rückschauend und vorausahnend ihr Leben in einige Verse gepresst war, die dem damals sentimentalen Geschmack entsprachen. Mie wurde unruhig und zauderte, als sie nach dem ersten Beifallssturm wieder auf die Bühne trat, um dieses Lied zum Vortrag zu bringen. In der vordersten Reihe des dichtbesetzten Theaters waren bis jetzt zwei Plätze leergeblieben, die nun besetzt wurden. Zwei Herren, die sich offenbar nicht kannten, sahen mit gespannten Augen zu Mie herauf. Der eine mit einem Ausdruck gefesselten Schmerzes, sehnsüchtig verschwiegener Erinnerungen voll, der andere mit jener Mischung von Gier und Sklavenhaftigkeit, die Mie schon zur Genüge kannte.

      Aber das braune, von Jagdluft gesättigte Gesicht des Kavaliers weckte irgendeine halbvergessene Erinnerung. Während ihr Auge sich von einem magnetischen Bann gepackt, dem anderen zuwandte, kam es ihr in den Sinn:

      Jener ist Lichtensteig, der Baron aus Wien.

      Sein Erscheinen schmeichelte ihrer Eitelkeit. Ob er sie wohl noch erkannte? Ob er sich noch an das kleine Zirkusmädchen aus Wien erinnerte? Aber der andere ... der andere ...

      Der Kapellmeister gab schon mehrmals ein geheimes Zeichen. Sie übersah es, bis der Direktor hastig einige zornige Worte zwischen den Kulissen hervorstiess.

      Da setzte sie ein.

      Die Mienen der Zuschauer wurden gespannt. Eine zitternde Sinnlichkeit lag in der Luft. Mies Körper wurde mit den ersten Tönen ein einziger Nerv, der zuckte und litt, jauchzte und jubelte und alle Phasen einer vom Leben erborgten Phantasie durcheilte.

      Ihr Oberleib wiegle sich leise. Sie stand nun mitten auf der Bühne, die schwarzen, welligen und glänzenden Haare gelöst, in einem mohnblumenroten, engen Kleide, und zwitscherte:

      Ich bin die kleine Mieze

      Mieze Mausekatz.

      Ich bin ein kleiner süsser

      Ach, vielgeliebter Fratz!

      Erst lief ich ohne Strümpfe

      Und hatte keine Schuh ...

      Sie trippelte mit unsicheren Kinderschritten die Rampe entlang und die Stimme schlug in einen tiefen, leicht vibrierenden Ton um:

      Und bettelte und weinte

      Und stahl noch nebenzu.

      Sie hielt inne und streckte balancierend die Arme nach beiden Seiten aus, flüsterte mit halb verschleierter Stimme, indes ihr Blick gross und weit, von einer schreckhaften Vision ergriffen, an dem blassen, schlanken, vorgebeugten jungen Manne da unten hing, der sie förmlich einkreiste mit seinen grünen Augen:

      Da lernte ich das Tanzen

      In meiner grossen Not.

      Auf schwankem, schwachem Seile

      Verdiente ich mein Brot.

      Und wohl noch was darüber,

      Weil ich mich selber bot ...

      Sie hielt inne. Der Blasse unten in seinem Fauteuil fuhr hoch, und es sah aus, als sei er weih geschminkt. In diesem Augenblick erkannte ihn Mie und schrie hinaus:

      „Aus Not!“

      Der Blasse sank in seinen Sessel zurück und liess die Arme willenlos an dem mageren, ausgemergelten Körper niedergleiten.

      Mies Stimmung schlug um. Sie warf den Oberkörper vor und schlug die Arme frech übereinander.

      Mit gebrochener Stimme und in einem burschikosen Jargon schleuderte sie die nächste Strophe in den Saal.

      Der Zirkus ward zum Brettl

      Da ward ich Chansonett,

      Und sang ein freches Liedl

      Und schlief in seidnem Bett.

      An einem roten Faden

      Hing ich die Herzen an,

      Zuletzt war auch ein reicher

      Und echter Graf daran.

      Nun trag ich Diamanten ...

      Sie brach ab. Der Blasse dort unten war aufgesprungen. Zwei Augen, stahlhart, glänzten sie an. Sie versuchte, weiter zu singen, aber der Ton blieb ihr in der Kehle stecken. Verwirrt, verschüchtert, bebend verneigte sie sich. Der blonde Kavalier wandte sich an einige Freunde hinter sich, und während diese den Blassen mit einem herausfordernden, spöttischen Lächeln musterten, klatschte er Mie, die hilflos, unsicher, wie blind abging, lauten Beifall. Das Publikum, das wohl einen Zwischenfall erriet, ihn aber nicht begriff, stimmte ein.

      Ein Sturm brach los, den die Studenten durch Trampeln zu einer wilden Demonstration steigerten. Mie musste noch einmal heraus, ein drittes Mal, man wollte sie nicht mehr von der Bühne lassen, aber sie konnte nicht mehr singen, sie war erschöpft, von einer fremden suggestiven Kraft gefangen. Als sie zum letztenmal in die Kulissen zurücktrat, stiess sie einen leisen Schrei aus, denn da stand Pierrot, der blasse Pierrot mit seinen kranken Augen und den schiefen Schultern und sah sie an. Er legte einen Moment den Zeigefinger auf die Lippen.

      Sie begriff.

      Und schwieg.

      „Komm her, Mie!“ rief Vallier. „Jean Tibaut möchte dich kennenlernen.“

      Mie näherte sich mechanisch. Jean Tibaut, summte es in ihren Ohren. Jean Tibaut ...

      „Der grosse Pierrotdarsteller! Der grösste überhaupt und der Begründer einer neuen Kunst ...“ Vallier vergass schon auf die Vorstellung, von Geschäftsgier gepackt: „Meister, wenn Sie bei uns auftreten würden ... nur ein paar Tage ...“

      Harlekin lächelte. Mie presste die Hände vors Gesicht.

      Dies Lächeln ... oh, dies Lächeln kannte sie ... dies Lächeln senkte sich wie eine dunkle Welle in ihr Herz und tauchte alle ihre Gedanken in einen blauen Nebel, dass sie sich wie berauscht fühlte und den sicheren Boden verlor ... was war das nur?

      „Vielleicht,“ sagte Harlekin ... „vielleicht ... wer weiss ... wünschten Sie es, Mie?“

      „Ich? ... Oh ...“ sie sah den Direktor an; Vallier nickte eifrig, offenbar zornig über ihre zaudernde Antwort. Harlekin fing diesen Blick auf und sah finster zu Boden. In Mie aber begann ein Klingen, und ihre Seele bebte, und sie umfing mit einem Blick voll Zärtlichkeit, deren sie bisher nie fähig gewesen, den Körper Harlekins, der in seiner Magerkeit und Müdigkeit aussah wie wund, von Peitschen geschlagen, von Not geschüttelt. Das also ist der berühmte Jean Tibaut, dachte sie. Er ist gross geworden, gefeiert, von aller Welt bestaunt, der grösste Mimiker — es war ja selbstverständlich, dass er berühmt werden musste. Und sie sah ihn wieder an ... und Pierrot lächelte ihr seltsam zu, als ob er sagen wolle:

      Weisst du noch? Und sprach:

      „Ich


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