DER MODDETEKTIV BESIEGT CORONA. Christopher Just
um eine ehrenamtliche Stelle beworben hat und dann auch noch ausgerechneter jemandem zugeteilt worden ist, den sie kennt.
Vielleicht hat sich die Schwester Stella ja gedacht: »Jö, schau, so ein hübsches Fräulein, diese Birgit, die erinnert mich doch sofort an diese französische Schauspielerin mit dem Swimming Pool und dem Mundgeruch, und vielleicht erinnert das wiederum den Herrn Chris auch an irgendwas, wenn er die sieht … also falls er überhaupt was sieht … Nein, das kann einfach nicht falsch sein, wenn man dieses hübsche Fräulein Birgit mit der Beaufsichtigung des armen Herrn Chris betraut, vielleicht bewegt die ja was in seinem Inneren, und er wird wieder gesund.«
»Herr Chris, das ist das Fräulein Birgit«, sagt die Schwester Stella jetzt lieb, »die wird sich ein bisschen zu Ihnen setzen.« Und dann fügt sie in gespielter Strenge noch hinzu: »Und dass Sie sich ja anständig benehmen!« Und dabei zwinkert sie der Birgit belustigt zu, weil der Herr Chris ja schon seit mittlerweile drei Jahren weder spricht noch zuhört noch sonst was macht, außer in eine unbestimmte Ferne zu starren. Von gutem oder schlechtem Benehmen also keine Rede.
»Knocked-out-Syndrom nennt man das«, hat die Schwester Stella der Birgit vorhin im Büro bei einer raschen Einschulung erklärt. »Das ist, wenn einer zwar bei Bewusstsein, jedoch geistig ganz woanders und körperlich fast vollständig gelähmt, zudem unfähig ist, sich sprachlich oder durch Bewegungen verständlich zu machen. Ob und was so einer sieht …«, und dabei hat die Schwester Stella »ob« und »was« deutlicher als den Rest ausgesprochen, ganz große, geheimnisvolle Augen gemacht und die Hände gehoben, als ob sie sich für was entschuldigen müsste, »… der den ganzen Tag in eine unbestimmte Ferne starrt, kann beim besten Willen niemand sagen, genauso wenig, wie ob ein solcher jemals wieder zurückfinden oder für immer dort …«, und da hat die Schwester Stella ein leises Seufzen von sich gegeben, »… wo immer ›dort‹ auch sein mag – bleiben wird. Dass ihn jetzt auch noch das Virus erwischt hat, macht die Sache natürlich nicht einfacher. Jedenfalls kümmern wir uns hier gut um ihn, der Ruf unseres Hauses ist nämlich ausgezeichnet, ist ja auch nicht ganz billig. Aber Mister Paul Stanley, vielleicht kennen Sie ihn ja, ein berühmter Rockstar und sehr guter Freund des Herrn Chris, kommt dafür auf.«
Birgit überlegt. Soll sie der Schwester Stella sagen, dass sie zwar nicht diesen Paul Stanley, dafür aber den Herrn Chris kennt? Dass er sie vor drei Jahren in der kleinen Papierhandlung von der Frau Erika angesprochen hat? Dass er sie mäßig originell gefragt hat, ob sie mit ihm was trinken gehen will? Was trinken … natürlich hat er was ganz anderes mit ihr gewollt, etwas, das für sie damals ganz sicher nicht in die Frage kam, weil sie da noch mit dem Moddetektiv gegangen ist. Der Moddetektiv … hach … blöder Depp.
Sie sieht ihn jetzt wieder ganz genau vor sich, nein, nicht den Moddetektiv, den Chris, wie er da vor ihr gestanden ist, etwas fahrig und ein bissl nervös, andauernd herumgezappelt ist er in seinem komischen Rolling-Stones-Anzug. Der war doch auf irgendwas drauf! Und später, wie sie wieder daheim war, hat sie noch eine ganze Weile über ihn nachdenken müssen, und sich über sich selbst gewundert, weil dieser Chris es geschafft hat, sich in ihren Gedanken einzunisten. Wo Männer mit Vollbart doch sonst gar nicht ihr Typ sind.
Und, daran erinnert sie sich noch ganz genau, dass das der Moment gewesen ist, wo der aus ihrer Liebe zum Moddetektiv geschmiedete Schutzpanzer den ersten haarfeinen Riss abbekommen hat. Trotzdem ist sie dem Moddetektiv weiterhin honett geblieben, und den Chris hat sie seither nicht mehr wiedergesehen. Bis zum heutigen Tag. Und jetzt fällt ihr die Kinderschultasche ein, von der die Frau Erika gemeint hat, dass die doch ganz sicher was wär’ für den feschen Herrn Chris, weil auf der auch so ein Rolling-Stones-Zungenmuster drauf ist wie auf dem todschicken Anzug, den der Chris an diesem Frühsommerabend angehabt hat. Worauf sie die Frau Erika angestachelt hat, die Schultasche unbedingt aus dem Lager zu holen, bevor sie frech grinsend die Papierhandlung verlassen und diesen Chris in seinem blöden Anzug stehen gelassen hat.
Wie sie dann das nächste Mal in die Papierhandlung gekommen ist, war die Schultasche immer noch dort. Der Herr Chris, so erzählte ihr die Frau Erika, hat sie zwar bezahlt, aber nicht warten können, bis sie den Kinderranzen im Lager aufgestöbert hat. Weshalb er gebeten hat, ihn der Birgit für ihn mitzugeben, wenn sie das nächste Mal ins Geschäft kommt. Das hat er natürlich nicht gemacht, weil ihm die Schultasche so gut gefallen hat und er sie unbedingt hat haben wollen, sondern weil er darauf spekuliert hat, dass die Birgit sich deswegen mit ihm in Verbindung setzen wird. Und seine Adresse hat er auf einen Zettel geschrieben, damit sie ihm dann die Schultasche zu Hause vorbeibringt – Frechheit! Aber auf dem Zettel ist gar keine Adresse draufgestanden, sondern nur irgendwas Unsinniges, ihr fällt beim besten Willen nicht mehr ein, was. Ist auch egal, sie hat den Zettel zerrissen, und damit ist das Thema Chris für sie erledigt gewesen.
Jetzt lässt sie der Gedanke nicht mehr los, und es wurmt sie. Was ist da bloß auf dem Zettel gestanden?? Irgendwas, das mit Romantik, aber auch mit einer Katastrophe zu tun hat … Herrschaft, es ist immer das Gleiche, gerade die blödesten Sachen merkt man sich doch für immer und ewig, aber wenn man einmal eine von diesen Unsinnigkeiten braucht, dann kommen sie einem auf Biegen und Brechen nicht mehr in den Sinn. Wurscht.
Und jetzt sitzt er da, dieser Chris, mit einem Schlauch in der Nase und im Rollstuhl unter dem alten Lindenbaum im Garten des Sanatoriums, bei dem sie sich ehrenamtlich beworben hat, und weiß wahrscheinlich nicht, wo oben und wo unten ist. Und die Seuche hat er sich überdies auch noch eingefangen. Armer Teufel.
Sie beugt sich zu ihm hinunter, schiebt sich – soweit es die blöde Plexiglasniesschutzkugel zulässt – in sein Blickfeld, legt ihm die Hand auf den Arm und versucht ihm in die Augen zu schauen. Und obwohl sich ihre Blicke treffen, schaut er sie dennoch nicht an, sondern nur durch sie hindurch.
Schöne Augen hat er schon, das ist ihr damals als allererstes aufgefallen. Ein Blau, so blau wie der atlantische – nein, wie der pazifische Ozean. Wo die jetzt wohl hinsehen …? Also setzt sie sich auf das Bankerl neben ihn, und fängt an ihm zu erzählen, wie sie sich damals vor drei Jahren in der Papierhandlung von der Frau Erika begegnet sind. Und dabei beobachtet sie ganz genau, ob er vielleicht auf irgendwas reagiert. Aber da ist kein Wimpern-, kein Finger-, kein Garnichtszucken. Deppat.
Wie ein aus Fernambukholz gefertigter, mit ungebleichten Schimmelhengsthaaren bespannter Goldbogen, der die Albinoschafdarmsaiten einer 1724er Ex-Szigeti Stradivari liebkost, strich, von der mit Altersflecken übersäten, dürren Hand nahezu schwerelos geführt, die diamantenbesetzte 18-Karat-Weißgoldschleiffläche der dem Hause Riche et Lieux entstammenden Bestgestelltennagelfeile über den Halbmond seines Ringfingers, um in hauchzart geführten Schwüngen mikroskopisch kleine Hornpartikelchen abzutragen, während er jene, von unglaublicher Dramatik getragenen, wenigen Augenblicke stiller Spannung zwischen Präludium und Fuge genoss, ehe das Thema in einzelnen Tönen zu erklingen begann, um dann mit sich selbst auf Stufen wachsender Komplexität geradezu unheimliche, erlesene Harmonien hervorzubringen. Wenn es auch schwierig für ihn sein mochte, es in Worte zu fassen, so bestand doch stets eine höchst subtile Beziehung zwischen den beiden, denn selbst wo Präludium und Fuge nicht das gleiche melodische Thema besaßen, so gab es doch immer eine unfassbare, abstrakte Eigenschaft, die sie so eng miteinander verknüpfte wie ein, er überlegte, ja, ein endloses, geflochtenes Band.
Präludien und Fugen gab es viele, und er kannte sie alle, und kaum etwas war für ihn so aufregend wie dieses flüchtige Zwischenspiel von Schweigen. Denn es war der Moment, in dem er versuchte, dem alten Bach auf die Schliche zu kommen. Was würde das Tempo der Fuge sein, Allegro oder Adagio, würde es 6/8 oder 4/4 sein, würde das Stück vier Stimmen haben, oder gar fünf, oder bloß drei …? Ein exquisiter Augenblick höchst erlesener Qualität, der –
KLACK!
Das scharfe, metallische Geräusch der Schließvorrichtung ließ Emerald Westminster III die Nagelfeile beiseitelegen und verärgert den schrumpeligen Kopf heben. Welch unmusikalisches Schweinsohr besaß die unerhörte Respektlosigkeit, ihn während der Nachmittagsruhe zu behelligen, die er, wie jeder hier im Hause zu wissen hatte, stets dazu verwandte, zu den Kontrapunkten und Kanonen des Präludiums samt Fuge in Es-Dur aufs Sorgfältigste