Ich hab mit Ingwertee gegoogelt. Susanne M. Riedel
oder: Die Krux mit dem Kontext
Schon als ich zur Tür reinkomme, spüre ich seinen Blick auf mir. Kein Zweifel, der junge Mann sieht wirklich attraktiv aus.
Ein warmer Sommerabend, ein Hauch von Gewitter liegt über der Stadt, ein Luftzug trägt den Duft von Lindenblüten und heißem Asphalt in den Raum. Ich suche mir einen Platz und lächele in mich hinein, denn mein Gefühl hat mich nicht getrogen: Kaum dass ich sitze, kommt er rüber, schenkt mir einen freundlichen Blick aus seinen großen dunklen Augen und fragt mich nach meiner Telefonnummer. Ich zögere nur kurz, dann greife ich zum Stift.
Das ist mir wirklich lange nicht passiert, denke ich und genieße den Augenblick.
Für einen kleinen Moment blende ich aus, dass dies eine Pizzeria ist und er der Kellner, der aufgrund der geltenden Hygieneschutzregeln meine Daten erfassen muss, und stelle mir vor, es wäre der Beginn einer interessanteren Geschichte.
O tempora, o mores. Die Dinge sind im Wandel, die Pandemie bringt manche Seltsamkeit mit sich, und das Leben im Spannungsfeld zwischen flügge werdenden Kindern und abbauenden Eltern birgt so einige Herausforderungen.
Gestern habe ich meinen Vater im Pflegeheim besucht, wir saßen im Garten, eine Bewohnerin von seiner Etage kam mit ihrem Rollator vorbeigeschoben und sagte kokett: »Na, Herr Riedel, da haben Sie ja heute richtig adretten Damenbesuch!«
»Ist nur meine Tochter«, erwiderte er und winkte ab. Ich bemühte mich, das »nur« zu überhören und mich stattdessen mit dem Wort »adrett« als eine Art Kompliment anzufreunden, da fügte die Frau staunend hinzu: »Ach, Ihre Tochter? Na, das hätte ich Ihnen ja gar nicht zugetraut! Dass Sie eine sooo alte Tochter haben!«
Wie reagiert man angemessen auf so einen Satz?
Ich versuchte schlicht, die Fassung zu bewahren, mein Vater freute sich und fühlte sich geschmeichelt.
Weniger subtil ist da meine Schwiegermutter. »Lass dich mal ansehen!«, sagte sie beim letzten Besuch. »Hast du Zahnschmerzen? Oder hast du einfach nur so’n dickes Gesicht bekommen?«
Wenn ich auf meinem Handy ein Wort tippe, das mit »sch« beginnt, schlägt es mir ganz von alleine die Wörter »schwierig« und »Schwiegermutter« vor.
Mein Handy kennt mein Leben.
Manchmal sind es ja nur Kleinigkeiten.
Keiner duzt einen mehr zum Beispiel. Wenn mich mal jemand auf der Straße nach Feuer fragt, dann nur noch mit einem höflichen »Sie« davor.
Klar, dass mich die jungen Hüpfer siezen, gibt ja bestimmt auch Leute, die da Wert drauf legen. Vielleicht bin ich da etwas sonderbar. Als ich das neulich einer Freundin zu erklären versuchte, hörte sie mir sehr aufmerksam zu, schaute nachdenklich – und schlug mir dann fröhlich vor, ich könne ja einfach mal wieder zu IKEA gehen, wenn mir das Duzen fehle.
Manchmal ist geteiltes Leid nicht halbes Leid.
Manchmal macht geteiltes Leid auch sehr einsam.
Aber okay, vielleicht bin ich ja auch das Problem und einfach nicht aufgeschlossen genug für neue Lösungsansätze?
Geh ich halt zum Duzen zu IKEA.
Imaginiere ich halt den Flirt mit dem Kellner.
Und wenn ich will, dass mal wieder jemand »Ausziehen!« ruft, gehe ich an der Ostsee an den FKK-Strand. Mit Textil. Habt ihr das mal probiert? Das ist nichts für zarte Gemüter, da kann man sich ganz schön was anhören. Die nackte Wut, sozusagen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Da fällt mir ein Dialog ein, den ich neulich beim Stöbern in einer kleinen Boutique mit anhörte. Die Umkleidekabine war besetzt, der Vorhang zugezogen, plötzlich hörte ich eine Männerstimme flüstern: »O Gott, zieh das sofort aus …«
Waren da wirklich zwei Leute in der Kabine? Jetzt war ich ja doch neugierig. Ein Buch fiel mir ein, das ich irgendwann mal in der Hand hatte, also für einen Freund, es hieß »How to Have Sex in Public Without Being Noticed«. Doch meine Fantasien wurden jäh ausgebremst, als die Männerstimme nun etwas lauter und flehender sagte: »O Gott, bitte, zieh das bitte aus! Da drin siehst du aus wie deine Mutter.«
Dieser verflixte Kontext kann einem manchmal ganz schön den Spaß versauen.
Bericht von der Baustelle
Als ich in der 7. Klasse war, hieß mein Klassenlehrer Herr Schall. Neben Mathe und Physik unterrichtete er zuweilen auch Lebensweisheiten, außerdem sammelte er in einem kleinen Extraheft die schönsten Ausreden der Schüler fürs Zuspätkommen. Ich erinnere mich an Jens mit: »Ich bin mit der Kutsche gekommen, und unterwegs ist das Pferd gestorben.« Die habe ich später mal im Büro versucht, da haben mich alle nur komisch angeguckt.
Humor ist eine zarte Blume.
Ich erinnere mich auch, dass Herr Schall irgendwann mal erzählte: »Ich mache das mit dem Dreck immer so: Ich kehre alles unter den Schrank, und wenn der Schrank sich hebt, ziehe ich um.«
Hätte ich nur auf ihn gehört, denke ich derzeit immer wieder. Denn: Ich ziehe nicht um, ich renoviere.
Anders ausgedrückt: Seit rund zwei Wochen liegt unsere einstmals ganz nette Wohnung in Schutt und Asche, weil ich fand, »ein bisschen renovieren« wäre schön. Ich dachte anfangs einfach an etwas frische Farbe an den Wänden, zack, hellere Räume, ein wenig ausmisten vielleicht … Und dann brach die Baustelle herein.
Alles muss ja erst mal aus- und um- und aufgeräumt werden, wenn man Möbel abrücken will, und Papierstapel, die man zu sortieren beginnt, explodieren förmlich, statt kleiner zu werden, sobald man wagt, ihre über Jahre gewachsene Statik anzurühren. Und es hat sich so einiges angesammelt. Ich fand Gebrauchsanweisungen von Geräten, die wir schon seit Jahren nicht mehr haben. An manche kann ich mich gar nicht erinnern, um ehrlich zu sein. An einer war noch die Rechnung dran. In DM, das hat mir zu denken gegeben. Mein Lieblingsfundstück, ganz unten im Stapel, war das Protokoll eines Elternabends aus der 3. Klasse meines Sohnes. Und der hat dieses Jahr Abitur gemacht. Der Passus mit der Überschrift »Abstimmungsprotokoll Weihnachtsbasar: Waffelstand versus Fröbelsterne« nimmt darin eine ganze DIN-A4-Seite ein. Es gibt Dinge, die ich nicht vermisse.
Aufräumen ist nicht so meins. Und wenn ich doch mal anfange, dauert es auch immer recht lange, weil ich dazu neige, jede Notiz, jede Postkarte, jede Widmung im aussortierten Buch noch mal durchzulesen. Ich bin auch so jemand, die beim Abreißen der alten Tapete erst mal die Zeitungen liest, die darunter zum Vorschein kommen. Ich liebe das.
Renovieren dauert daher bei mir etwas länger …
Da ich mir dessen bewusst bin, habe ich auch das Angebot meines Nachbarn nicht ausgeschlagen, mir ein bisschen unter die Arme zu greifen. Goran wohnt noch nicht so lange im Haus und ist dankbar für ein bisschen Kontakt und Geplauder und die eine oder andere selbst gekochte Mahlzeit. Mein Mann ist wieder mal längere Zeit beruflich in der Weltgeschichte unterwegs und die Kids in der Schule oder beim Sport. Wohlan, dachte ich. »Wenn wir das zu zweit wuppen, können wir gleich noch die Lampen neu machen und die Türen lackieren«, sagte ich zu Goran, und Goran sagte im Brustton der Überzeugung das, was er immer sagt: »Kein Problem!«
Wenn man sonst im Alltag ständig umgeben ist von deutschen Bedenkenträgern, ist man sehr versucht, dieses »kein Problem« zu glauben und zu lieben. Und wenn in der Küche die Bank eh zum Streichen abgeschraubt werden muss, könnte doch bei der Gelegenheit auch der Fußboden … und so weiter. So nahmen die Dinge ihren Lauf.
Nun sitze ich hier auf dieser Baustelle, die mal meine Wohnung war. Der gesamte Hausrat ist in Kisten verpackt wie bei einem Umzug, nur mit dem Unterschied, dass ich keine neue Wohnung habe, in die ich die Dinge tragen kann. Alles ist klebrig, verhangen, verstaubt und bekleckert.
Ausnahmslos alles, zu dem Goran »kein Problem« sagte, hat sich als Problem entpuppt. Bosnische Flüche sind sozusagen die Schwester von »kein Problem«.
Ich habe auf die Weise