Mehrsprachigkeit und das Politische. Группа авторов

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Bedeutsamkeit und Bedeutung zu erzeugen, den Begriff der „semiodiversitySemiodiversität/semiodiversity“, SemiodiversitätSemiodiversität/semiodiversity, geprägt. Und doch hat die Vorstellung der GlossodiversitätGlossodiversität/glossodiversity, auch wenn sie im Prinzip die Realität der Sprachproduktion nicht trifft, diese Realität dennoch verändert. Die Sprachen, die wir größtenteils verwenden, sind tatsächlich sehr stark standardisiert und voneinander abgegrenzt. Man kann relativ einfach erkennen, was z.B. ein wohlgeformter Satz der deutschenDeutschlanddeutsch Sprache ist; Fehler lasse sich recht genau und eindeutig konstatieren, auch wenn man ihn womöglich als rhetorische Figur lesen kann (dazu Martyn 2004).

      Bringt man diese Beobachtungen mit den eingangs angestellten Überlegungen zur SynchronieSynchronie zusammen, so zeigt sich, dass die Funktionalität der modernen GlossodiversitätGlossodiversität/glossodiversity damit zusammenhängt, dass sie einander äquivalent geltende sprachliche Ressourcen gleichzeitig präsent hält bzw. zumindest diesen Eindruck verschafft. Standardisierte Möglichkeiten des Ausdrucks sind sozusagen weltgesellschaftlich anwendbar. Die eigentliche Crux liegt darin, dass diesem SynchronizitätsSynchronieSynchronizität- und Standardisierungbedarf jener Bedarf nach sprachlicher Erneuerung und Anpassungsfähigkeit zuwiderläuft, den die Neuzeit eben auch hervorbringt.

      Vor diesem Hintergrund gewinnt die Tatsache, dass die Semantik der GlossodiversitätGlossodiversität/glossodiversity die Spannung zwischen (postulierter) synchroner Sprachstruktur und kreativer Sprachentwicklung unsichtbar macht, politischePolitik/politicspolitisch/political Relevanz. Der blinde Fleck der modernen Sprachauffassung erschwert den bewusst produktiven Umgang mit SprachvielfaltSprachvielfalt im Sinne von SemiodiversitätSemiodiversität/semiodiversity. SprachpolitikSprachpolitik vollzieht sich dann offiziell oder zumindest offiziös im Namen von EinzelsprachenEinzelsprache (von der Schule bis zur sogenanten auswärtigen KulturpolitikPolitik/politicsKulturpolitik und zur Académie Française) und überlässt die ‚wilde‘ Sprachfortbildung Populärkultur, Literatur und Unternehmertum. Diese Marginalisierung von SemiodiversitätSemiodiversität/semiodiversity hat sehr weitreichende Folgen, von der Benachteiligung nicht-muttersprachlichen Sprechens in Schulsystemen bis hin zum Umgang mit Anderssprachigkeit in der MedienöffentlichkeitMedien.

      Die literarischen Sprachpolitiken, die HerderHerder, Johann Gottfried, AlunānsAlunāns, Juris und BaronsBarons, Krišjānis entfalten, sind letztlich auch Symptome des Widerstreits zwischen offizieller Glossidiversität und inoffizieller, gleichwohl aber essentieller SemiodiversitätSemiodiversität/semiodiversity. Herder versucht, ihn durch das Konzept einer inner-einzelsprachlichen Kreativitätssteigerung qua ÜbersetzungÜbersetzung/translation (im weitesten Sinne) zu lösen. Alunāns geht einen ähnlichen Weg, wenn er die lettischeLettland/Latvialettisch Sprache in der Auseinandersetzung mit moderner Anderssprachigkeit erneuern möchte. Barons hingegen verfolgt einen anderen Impuls Herders weiter, indem er aus fremdFremdheitfremd werdenden ‚eigenen‘ Sprechweisen eine im Grunde neue NationalspracheNationNationalsprache generiert und mit dem Mythos eines nationalenNationnational Lebens verbindet. Damit konnte die SynchronisierungSynchronieSynchronisierung der lettischenLettland/Latvialettisch NationNation natürlich nicht abgeschlossen sein. Die Auseinandersetzung um Fest- und Fortschreibung der lettischenLettland/Latvialettisch dainasDainas dauert vielmehr bis heute an. Das aber wäre ein anderes Thema.

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