Mehrsprachigkeit und das Politische. Группа авторов
als zeitgemäßerZeitgemäßheitzeitgemäß Rahmen, als Anordnung, die den einzelnen Texten hier und jetzt Bedeutsamkeit gibt. Die Herder’schen VolksliederVolkVolkslied sind in emphatischem Sinne Gegenwartsliteratur, ja, sie sollen die Erneuerung der Poesie katalysieren. Er könne, so Herder, „sehr beredt sein, wenn ich von dem Nutzen schwätzen wollte, den manche verdorrte Zweige unsrer Poesie aus diesen unansehnlichen Tautropfen fremderFremdheitfremd Himmelswolken ziehen könnten. Ich überlasse dies aber dem Leser“ (Herder 1778/79: 427). Da schon die Einleitung zum zweiten Teil der Sammlung die gegebenen LiederLied als „Materialien zur Dichtkunst“ (Herder 1778/79: 245) ausweist, darf man hierin eine Aufforderung zur Fortsetzung sehen, aber nicht nur zur Sammlung weiterer Materialien, sondern auch zur Produktion zeitgenössischer Originaldichtung. Es ist den Rezipienten aufgegeben, eine populäre Form der lyrischen Dichtung zu entwickeln, die tatsächlich ‚lebendig‘, das heißt, zukunftsfähig ist.
Es ist diese abschließende Geste, die HerdersHerder, Johann Gottfried Vorhaben auf die Spitze treibt und am deutlichsten demonstriert, worum es ihm bei der Sammlung der VolksliederVolkVolkslied geht: Sicherlich ist er auch auf der Suche nach volkstümlicher OriginalitätOriginalität im Interesse eines anthropologischenAnthropologieanthropologisch UniversalismusUniversalitätUniversalismus/universalisme, wie es Herders doppeldeutiger Begriff von ‚VolkVolk‘ nahelegt. Sicherlich dient die Besinnung auf Ursprünglichkeit auch dem Streben nach einer neuen Ganzheitlichkeit der menschlichen Existenz. Und sicherlich geht es auch um die Stiftung einer „Zusammenstimmung“, wie Gaier formuliert (1990: 879). Allerdings ist diese Harmonisierung nicht im Sinne von Folklore gemeint, und sie ist auch weniger bewahrend orientiert als avantgardistisch. Herder will die Konstitution einer neuen Gattung initiieren, die er VolksliedVolkVolkslied nennt und der ‚lyrischen Dichtung‘ zuordnet. Diese Gattung soll sich durch Modulation fortschreiben, sie soll ein großes nationalesNationnational und internationales Publikum erreichen, in diesem modernen Sinne populär sein – und im MediumMedienMedium des Drucks ermöglichen, was die alte Volksdichtung im MediumMedienMedium der MündlichkeitMündlichkeit ermöglicht hat.4 Von hier aus lässt sich auch Herders Wertschätzung originaler Poesie im historischenhistorisch Sinne verstehen. Denn OriginalitätOriginalität, ob sie nun alt oder neu ist, muss letztlich immer als Folge der unvorhersehbaren modulierenden Veränderung überkommener Formen verstanden werden.
HerderHerder, Johann Gottfried hat den Zeitpunkt der Publikation seiner VolksliedersammlungVolkVolkslied lange herausgezögert – aus unterschiedlichen Gründen, aber unter anderem auch deshalb, weil er daran zweifelte, die Zeit sei bereit für sie. Und offenkundig dienen die Anordnung und der Rahmen, die Herder seiner Sammlung gibt, auch zur Einhegung jener potenzierten Gefahr der Fehlwirkung, der sich, wie eingangs ausgeführt, jede literarisch-politischePolitik/politicspolitisch/political Intervention aussetzt. Vor diesem Hintergrund ließe sich fragen, inwiefern die Gesetzestreue, der sich die Herder’sche Muttersprachensemantik verschreibt und die auch im Einsprachigkeitsprinzip der VolksliedersammlungVolkVolkslied zum Ausdruck kommt, vielleicht weniger aus Überzeugung denn aus Wirkungskalkül gesucht wird. Herder ist womöglich weniger der ‚Erfinder‘ der modernen Muttersprachlichkeitssemantik,5 als dass er die literarische OriginalitätsästhetikOriginalitätOriginalitätsästhetik schlicht besonders geschickt an sprachpolitischeSprachpolitiksprachpolitisch Tatsachen angepasst hat. Immerhin lassen sich auch jenseits der Muttersprachensemantik starke evolutionäre Kräfte benennen, welche die moderne EinsprachigkeitEinsprachigkeit begünstigt haben – der durch den BuchdruckBuchdruck ausgelöste StandardisierungsdruckStandardStandardisierung ist eine davon. Wie dem auch sei, klar ist, dass für Herder eine Literatur, die zeitgemäßZeitgemäßheitzeitgemäß sein und auf GegenwartGegenwart wirken will, an der Diversifizierung der sprachlichen Mittel arbeiten muss. Vielleicht ist die programmatische EinsprachigkeitEinsprachigkeit der Literatur, wie Herder sie ins Auge fasst, nur ein politischerPolitik/politicspolitisch/political Trick, der es ermöglicht, überhaupt SprachvielfaltSprachvielfalt zur Entfaltung kommen zu lassen.
4 Literatur II: Dseesminas und DainasDainas (Alunāns Alunāns, Juris und Barons Barons, Krišjānis)
Ein im weitesten Sinne literarisches Projekt aus dem baltischenBaltikumBaltisch Raum, das gerne mit HerdersHerder, Johann Gottfried VolksliedersammlungVolkVolkslied in Verbindung gebracht wird, ist die Sammlung sowie vor allem Redaktion und Ordnung einer sehr großen Zahl lettischerLettland/Latvialettisch VolksliederVolkVolkslied oder DainasDainas (wie der litauischeLitauenlitauisch Begriff für VolksliederVolkVolkslied lautet) durch Krišjānis BaronsBarons, Krišjānis.1 Die Verbindung ist naheliegend, geht doch Herders Interesse am VolksliedVolkVolkslied unter anderem auf seinen Kontakt mit lettischenLettland/Latvialettisch VolksliedernVolkVolkslied in seiner Rigenser Zeit zurück. Und auch wenn Barons in seiner Einleitung zum ersten Band der Latwju DainasDainas von 1894 (die restlichen fünf Bände erschienen bis 1915) Herder mit keinem Wort erwähnt, so ist doch seine Sammeltätigkeit ebenso wie die einer Vielzahl von Vorläufern und Mitarbeitern durch Herder inspiriert.2 Allerdings gilt für Barons Latwju Dainas, was eben für Herders VolksliedersammlungVolkVolkslied nicht gesagt werden kann: Sie sind, ebenso wie die zwischenzeitlich im deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Raum auf den Weg gebrachten Projekte (z.B. Des Knaben Wunderhorn), Teil einer (anti-kolonialen!) nationalenNationnational KulturpolitikPolitik/politicsKulturpolitik.3 Dabei arbeitet sich auch Barons’ Projekt, wie ich zeigen möchte, an der Problematik einer zeitgemäßenZeitgemäßheitzeitgemäß Präsentation des in den DainasDainas vorliegenden Kulturerbes ab. Barons politischesPolitik/politicspolitisch/political Engagement zwingt ihn sehr unmittelbar zur Auseinandersetzung mit Fragen von Sprachentwicklung und SprachvielfaltSprachvielfalt, die er in einem ausgesprochen modernen Sinne angeht.
Bevor ich zu BaronsBarons, Krišjānis komme, sei mit einem Seitenblick aber noch ein Unternehmen zumindest gestreift, das eine andere Linie des HerderHerder, Johann Gottfried’schen Engagements aufgreift, nämlich Juris AlunānsAlunāns, Juris’ Sammlung übersetzter Dseesmiņas, LiedchenLied, die 1856 in Tartu erschienen ist. Alunāns, der als Schöpfer einer Vielzahl von Neologismen im LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian gilt, widmete sich mit dieser Sammlung der modernen europäischenEuropaeuropäisch (tatsächlich vor allem der deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig) Lyrik, und zwar mit dem Ziel einer Modernisierung des LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian. Alunāns geht es vordergründig um eine Säuberung der lettischenLettland/Latvialettisch Sprache von Fremdeinflüssen, und das Nachwort zu seiner Sammlung enthält umfassende Vorschläge dazu, wie anderssprachigeanderssprachig Eigennamen besser als bisher ins LettischeLettland/LatviaLettisch/Latvian und die ihm eigentümliche Wortbildung eingefügt werden könnten (Alunāns 1856: 62–70). (Sehr viele dieser Vorschläge haben sich tatsächlich durchgesetzt.) Die Säuberung impliziert aber nicht nur eine Systematisierung des Regelwerks der lettischenLettland/Latvialettisch Sprache, sondern auch ihrer Fortbildung in Auseinandersetzung mit anderen Sprachen. LettischLettland/LatviaLettisch/Latvian soll eine eigenständige Sprache nach dem Modell des DeutschenDeutschlandDeutsch und anderer europäischerEuropaeuropäisch NationalsprachenNationNationalsprache werden – es geht Alunāns, so gesehen, um die Selbstermächtigung eines kolonialisierten IdiomsIdiom, er sucht den Anschluss an die (sprachliche) Moderne EuropasEuropa. Diesem Ziel dienen die ÜbersetzungenÜbersetzung/translation, die einen ähnlichen Modernisierungsschub initiieren wollen wie Herders VolksliederVolkVolkslied. Alunāns möchte eine gewisse formale Bandbreite zur Schau stellen und legt Wert darauf, den Übersetzungscharakter der Texte, selbst wenn die Originale größtenteils beigegeben sind, zu verschleiern. Die ÜbersetzungenÜbersetzung/translation sollen sich wie Originale lesen, und so setzt denn die Sammlung ein mit einer ÜbersetzungÜbersetzung/translation von Heines Loreley-Gedicht, das im LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian mit „Laura“ überschrieben ist und an der Daugava spielt, nicht am Rhein (Alunāns 1856: 6–7).
Zurück zu BaronsBarons, Krišjānis. Natürlich ist es ganz unmöglich, ein derartig umfassendes Projekt wie die Latwju DainasDainas hier und jetzt angemessen zu würdigen.4 Ich beschränke mich auf eine Lektüre der Einleitung von 1894, in der Barons ausführlich über die Entstehung der Sammlung und über die Schwierigkeiten Auskunft erteilt, die es vor der Publikation zu überwinden gab. Von Interesse sind dabei weniger die Ausführungen zur Sammeltätigkeit selbst. Hervorgehoben werden muss lediglich, dass sich Barons der Unvollständigkeit und des kontingenten