Frauenlob. Der Roman eines jungen Mannes. Rudolf Stratz
Auch hier sprach er nur spärlich und leise ein paar alltägliche Worte. Der Staub . . . Das neue Variété-Programm in der Sobranje — Das Konzert im Alexanderpark — die Wärme des Meerwassers. Der jüngste Makrî, der still in seiner grünen Gymnasiasten-Uniform unten am Tisch futterte, hätte es ebenso gut äussern können. Wenn man Aristide Murussi näher ansah, merkte man, dass er gelebt hatte. Es waren blaue Schatten des nächtlichen Spielers unter den Augen, seine Linien an den Schläfen des Fünfunddreissigjährigen. Das Haar am Wirbel zu einer Pariser Tonsur gelichtet. Auch sein schnelles, lispelndes Französisch war ein Echo der Boulevards.
„Man verschickt mich morgen nach Sibirien, Maurice!“ sagte er, auf eine Frage des jungen Sinai. „Ich muss auf mehrere Wochen in das Donez-Becken — vielleicht noch weiter . . . bis an den Don.“
„Was machst du denn da, mein Kleiner?“
„Es ist der reine Jahrmarkt da unten — eine Menagerie“, schrie der junge Malbasá über den Tisch. „Kosaken — Armenier — Schwaben — Herrenhuter — Tataren — Tschinowniks — Mennoniten — Dromedare — wilde Hunde — Katzerlaken — Flöhe . . . Fahre lieber nach Paris!“
„Man verlangt mich jedoch im Osten, Pauluscha.“ Der Krösus sprach es unruhig und scheu und schaute dabei unsicher seitwärts, nach dem Fenster. „Es sind da diese Bergwerke . . . die vielen Fabriken . . . die Ländereien . . . Es wurde die neue Bank gegründet . . . Ich bin jahrelang nicht dort gewesen . . . Diese Direktoren sind unbequem. Sie verlangen, dass ich mich einmal zeige . . . besichtige . . Unterschriften leiste . . . Was willst du machen? . . . Ich bin in der Hand dieser Franzosen und Deutschen und Engländer . . .“
Aristide Murussi brach ab und blickte auf das Tischtuch, in der offenbaren Reue, schon zu viel von seinen Reichtümern geredet zu haben, obwohl an der ganzen Tafel um ihn herum ausnahmslos wenigstens einfache Rubel-Millionäre sassen. Einer von ihnen, der Deutsch-Russe Wollbaum, ein grosser, ruhiger Mann mit dem Sonnenbraun des eifrigen Sumpf- und Steppen-Jägers meinte:
„Es ist ein wahrer Segen, wenn Sie einmal nach dem Rechten sehen und nicht immer im Ausland leben! Man bestiehlt Sie notwendig an allen Ecken und Enden, Murussi!“
„Dazu ist er doch auf der Welt!“ rief die schöne Madame Kobeko mit ihrem naivsten rehäugigen Unschuldsgesicht. Sie konnte sich diese Offenherzigkeit erlauben. Sie galt für seine letzte Geliebte. Und in dem zustimmenden Schweigen umher lag etwas wie ein allgemeines Einverständnis, dass Aristide Murussi einer der unnützesten Kostgänger Gottes sei — selbst an dem Massstab einer halben Levantestadt wie Odessa gemessen. Die hübsche Presnjakowa beugte sich über den Tisch vor und zeigte ihre weissen Zähne.
„Verteidigen Sie sich doch, Herr Murussi!“ lachte sie in ihrem russisch gefärbten Französisch. „Reden Sie! Man wartet! Warum sprechen Sie nicht mit Katja? Katia sitzt neben Ihnen!“
„Katja ist selber stumm wie ein Seebutt!“
„Katja denkt an ihren Sohn!“ verkündete Mademoiselle Sinai. „Sie hat nämlich einen Sohn!“
„Fräulein Sinai — Ich möchte doch bitten . .“, sagte der alte Gebauer trocken. Ausser ihm fand niemand etwas an dem Scherz.
„Jawohl! Einen bereits neunzehnjährigen Sohn! Sascha Kersting in Lyon! Was? Sie wäre seine Cousine? Nein! Sie ist seine Mutter! Er darf nichts ohne ihre Erlaubnis tun! Er darf keine Geliebte haben — der arme Junge . .“
„Natürlich darf er!“ Katja Gebauer zündete sich zwischen zwei Gängen eine Papyros an und rauchte. „Er soll sogar! Er soll sich nur die Hörner ablaufen! Er hat schon zwei, wie es scheint, ganz reizende, kleine französische Frauen gehabt!“
„Du bist gut!“ rief die Kobeko sittlich entrüstet. „Und du selber? Hast du einen Geliebten? Nein! Sie hat keinen! Hatte nie einen! Andere aber . . .“
„. . . Bloss heiraten soll er nicht!“ Katja blies den Rauch durch die feinen Nasenflügel. „Denn das ist Unsinn!“
„Heiraten ist Unsinn?“ Die Damen schrieen und lachten. Aristide Murussi sass schwermütig und schweigend, mit einem weichen leidenden Gesichtsausdruck. Natalie Kobeko tauchte den rosigen kleinen Finger in ihren Champagnerkelch und spritzte Katia ein paar Sektperlen ins Antlitz.
„Warte nur, du Nonne!“ meinte sie dabei augenzwinkernd. „Auch Sebastopel musste schliesslich kapitulieren!“
Katja wischte sich zerstreut die eisigen Tropfen von der Wange und tat, als hörte sie nicht auf die Klein-Russin, sondern auf die alten Herren oben am Tisch, die sich über die unhaltbaren Zustände in einem der Schwarze-Meer-Häfen unterhielten. Cherson oder Batum oder . . . kurz: es gab da einen zweiten Zolldirektor, einen Balten, der nicht stahl! Einfach nicht stahl. Er liess sich nicht bestechen. Man konnte sich nicht mit ihm einrichten . . . Er störte direkt das Geschäft . . .
„Aber so sind diese Deutschen!“
„Wir werden noch auf reichsdeutsche Zustände kommen!“ sagte, sich mit den anderen vom Tisch erhebend, der Grossindustrielle Makrî, schwarz wie ein Neapolitaner, ein auffallend hässlicher Mann. „Nun — wie ist es mit einer Partie Billard?“
Die jungen Leute räkelten sich auf der schattigen Gartenveranda, rauchten, schwatzten deutsch, französisch, russisch, wie es kam. Die Damen klatschten leise und fieberhaft miteinander, die Herren sagten ihnen mit toternsten, ehrerbietigen Gesichtern Zweideutigkeiten in die Ohren, sie kicherten und Klapsten strafend mit dem Fächer, ihre Verehrer lachten. Maurice Sinai, der Führer der Odessaer Goldenen Jugend, gab plötzlich ein Zeichen, zu schweigen, und verkündete geheimnisvoll:
„Dort drüben promenieren Murussi und Katja!“
Ein allgemeines „Ah!“
„Dort, wo die Heuschrecken fliegen — ganz am Ende des Parks . . . Bereiten wir unsere Glückwünsche vor . . .“
„Oder unser Beileid an Murussi, Maurice!“ Die schöne Madame Kobeko blinzelte träge wie eine Katze in die Ferne.
„Wie denn das? Katia verdiente ja Prügel, wenn sie . .“
„Ich kenne ihre eigensinnige Haltung . . . . mit dem Kopf im Nacken! . . . Das ist kein gutes Zeichen.“
„Jetzt verschwindet das Paar im Akaziengebüsch!“
„Also ich . .“, begann, mit unverhohlenem Neid, die hübsche Presnjakowa und hielt inne.
Diese Akazien schloffen den Choutor Gebauer ab. Gleich dahinter dehnte sich unvermittelt, flach wie eine Tenne, unendlich die Steppe. Jetzt, im Frühjahr, wogte sie in leuchtendem Grün. Die heisse Luft flimmerte darüber. Es war da kein Baum mehr, kein Strauch zu sehen. Nur drüben, hinter der Grossen Fontäne, die Zwiebelkuppeln eines orthodoxen Klosters, und in der Ferne — ein ungewohntes Bild im Heiligen Russland — der lange, spitze lutherische Dorfkirchturm der schwäbischen Kolonie Klein-Liebenthal.
„Aber nein, Katja!“ sagte Murussi gedämpft, mehr noch weinerlich und bekümmert als innig. „Ich liebe Sie wirklich!“ „Sie haben schon viel geliebt.“
„Anders, Katja. Anders. Mein Gott — Was waren denn das für Geschichten? Reden wir nicht davon!“
Katja Gebauer blieb stehen, schaute ihn offen an und frug:
„Warum muss ich’s denn gerade sein?“
„Hören Sie doch, was man Ihnen sagt: Ich liebe Sie! Ich gebe es Ihnen seit einem Vierteljahr zu verstehen! Ganz Odessa redet von nichts Anderem . .“
„Die Gesprächsstoffe Odessa’s werden auch schwerlich auf die Nachwelt kommen!“
„Was bin ich denn für ein Mensch?“ meinte, ohne auf ihre Antwort zu achten, Aristide Murussi eifrig im Weitergehen . . „Tauge ich zu etwas? Bin ich ein nützliches Glied der Gesellschaft? Nein! . . . Mein Leben waren Dummheiten! Ich war, Katja, in den Händen schlechter Frauen! Seit meinem siebzehnten Jahr hat man mich verdorben . . . .“
„Jetzt sind Sie doch allmählich alt