Der Dynamitkönig Alfred Nobel. Rune Pär Olofsson

Der Dynamitkönig Alfred Nobel - Rune Pär Olofsson


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dem Hof neue Versuche zur Reinigung des Glyzerins vorgenommen. Er schaute und schaute und sah schon von hier aus, wo sie sich befunden hatten: Mitten auf dem Hof gähnte ein Krater – und der Hof rundumher war gänzlich leer.

      Er hörte Immanuel neben sich rufen, konnte jedoch noch immer nicht erfassen, was der Vater sagte. Über den Fächer aus zerbrochenen Balken und Mauerwerk kletterte er zu der Leere und dem Krater hinein.

      Er sah Marie, beinahe nackt, doch ohne Kopf. Bei einer Männerleiche leuchteten die Knochen aus dem blutigen Fleisch; man konnte nicht erkennen, wer es war, doch sahen seine Glieder schmächtig aus – wahrscheinlich gehörten sie dem dreizehnjährigen Herman ... Hertzman dürfte sich näher bei dem Epizentrum befunden haben als Herman: Ja, dort sah er einen abgerissenen Arm mit Hertzmans Ring am Finger.

      Von Emil konnte er nicht die geringste Spur entdecken ...

      Leute strömten herbei und versuchten Alfreds Interesse für irgend etwas zu wecken. Sie zerrten und zogen an ihm, doch er stand erstarrt wie Lots Frau und betrachtete das verdorbene Sodom mit dessen unvorstellbarem Schlachtplatz.

      Die Löschmannschaft hatte eine Kette gebildet und reichte Wasser aus dem Mälarsee von einem zum anderen weiter. Erst als er sah, daß sie Wasser auf das brennende Sprengöl gossen, kam wieder Leben in ihn.

      »Laßt es brennen«, schrie er. »Das Öl kann man doch nicht löschen, und es brennt, bis alles verschwunden ist, ohne jede Gefahr. Wenn man es nur in Ruhe läßt, wird es nicht explodieren.«

      Keiner glaubte ihm. Warum sollten sie auch! Er hatte so viele Versicherungen abgegeben, die sich nun als Lügen erwiesen. Dort drinnen in dem Feuermeer brannte sein ganzes Lager an fertigem Sprengöl. Außerdem alle Rohstoffe: Schwefelsäure, Salpetersäure, Glyzerin und all das, was zu Zündhütchen hatte werden sollen. Dennoch war dieser Verlust zu ertragen. Doch daß Emil nicht mehr da war ...

      Blut aus seinen eigenen Wunden rann ihm in die Augen, doch er merkte es nicht.

      9

      Die ›im großen Maßstab‹ angelegte Nitrierungsanlage war nur acht Tage in Betrieb gewesen, als es zur Explosion kam. Die ersten größeren Sendungen, die man in Nobels Fabrik gerade vorbereitete, sollten nach Åmmeberg zu den Arbeiten an der nördlichen Haupteisenbahnlinie gehen.

      Außer Emil und den drei Angestellten war auch der Tischler ums Leben gekommen.

      Einer Frau in einem nahegelegenen Haus war der Schädel eingedrückt, ein Arm abgerissen und ein Bein arg verletzt worden.

      Alfreds eigene Wunden waren nur äußere Blessuren und heilten rasch. Dem zu Besuch weilenden Ingenieur Blom hatten Glas- und Holzsplitter Verletzungen im Gesicht zugefügt, doch auch diese Wunden heilten ohne sichtbare Schäden.

      Die Frau, deren Schädel eingedrückt worden war und die dennoch überlebte, hatte an ihrem Herd gestanden und Essen zubereitet, als die Wand einstürzte.

      In den Häusern zu beiden Seiten des Långholmssundes war nicht eine Scheibe ganz geblieben, und viele der Gebäude waren mehr oder minder übel zugerichtet. Auch auf Kungsholm waren einige Scheiben zersplittert. Selbst den Hökerweibern auf der Munkbro in Gamla Stan wirbelte die Druckwelle die Waren in den Ständen durcheinander.

      Der Knall war in großen Teilen Stockholms zu hören gewesen und hatte viele Fundamente erbeben lassen. Wer in die richtige Richtung geblickt hatte, konnte bezeugen, daß eine hohe gelbe Flamme zum Himmel aufgestiegen war, der eine gewaltige Rauchsäule folgte. All das war gegen halb elf am dritten September geschehen.

      Alfred konnte die erschreckende Tatsache nicht vergessen, daß er selbst den Tischler Nyström bei seiner Arbeit nur wenige Minuten vor der Katastrophe verlassen hatte. Noch schwieriger zu erklären war die Tatsache, daß Immanuel sich nur etwa fünfzig Meter vom Explosionsplatz befunden hatte und völlig unverletzt blieb; er hatte nur erlebt, wie Holzstücke und Mauerwerk um ihn herum niedergingen.

      Alfred und Immanuel waren die ›Schurken‹ des Sprengöldramas; doch beide kamen gesund an Leib und Gliedern davon. Emil und die anderen waren von Immanuel und Alfred in die Sache hineingezogen worden – und hatten dafür mit dem Leben bezahlen müssen ...

      Während Alfred einige Tage in Apathie versank, entwickelte Immanuel eine schier unglaubliche Energie. Er schrieb einen Bericht an das Polizeiamt über den Umfang des Unglücks, erläuterte den Herstellungsprozeß des Sprengöls und betonte mit viel Geschick das Unerklärliche des Geschehens. Vollständige Klarheit bezüglich der direkten Ursache könne schließlich nicht gewonnen werden, da alle Beteiligten tot seien.

      Immanuel wurde zum Verhör geladen, und auch dort handhabte er die Verteidigung mit Bravour, scheinbar ungebrochen von dem Unglück, bei dem sein Lieblingssohn ums Leben gekommen war.

      Am schwersten fiel es Immanuel, die unerfreuliche Tatsache zu erklären, daß er nicht um Genehmigung angesucht hatte, im Weichbild der Stadt Sprengstoff herstellen zu dürfen. Er wollte dieses Versäumnis mit der Erklärung bagatellisieren, daß sich die Tätigkeit bisher ausschließlich auf Experimente beschränkt habe.

      Sein Schreiben an das Polizeiamt, nur zwei Tage nach dem Unglück, hatte Immanuel mit der Bemerkung abgeschlossen, daß ›ein Unglücksfall, gleich diesem, bei der Nitroglyzerinfabrikation nicht mehr eintreffen können dürfte‹.

      Journalisten über Journalisten! Diese Pestmikroben! Alfred ging hilflos zwischen den Resten des Nobelschen Werks umher und versuchte ihre einfältigen Fragen zu beantworten. Und als reiche das noch nicht aus, so tauchte ein sonderbarer Amerikaner direkt auf dem Unglücksplatz auf und stellte tausend Fragen zu dem Nitrierungsprozeß, den Alfred angewendet habe und wie dieser ablaufe. Oberst Shaffner hieß er, und er behauptete, den Nobels in St. Petersburg begegnet zu sein. Alfred konnte sich an diesen geschwätzigen Oberst nicht erinnern. Er hatte die allergrößte Mühe, Immanuel von der Preisgabe allzu genauer Details abzuhalten! Amerika hatte Alfred in bezug auf seine Patente noch nicht in Angriff nehmen können ...

      Beschämt sah Alfred mit an, wie Immanuel vor der Öffentlichkeit die ganze Bürde auf sich nahm. Vater war in all seinen Eingaben und Äußerungen überraschend sachlich; es gab geradezu nichts, was Alfred sich anders gewünscht hätte. Er ließ Andriette seine Wunden pflegen, hielt sich an sie – und sie sich an ihn. Zuweilen weinten sie ein wenig gemeinsam; das erleichterte vielleicht.

      Telegramme an die Brüder in Petersburg und Helsinki waren sofort abgesandt worden.

      Robert kam am selben Morgen, als die Beerdigung stattfinden sollte. Alfred und er standen nebeneinander und drehten ihre Hüte nervös in den Händen und warteten auf den Beginn der Zeremonie. Plötzlich sagte Robert: »Ich hätte wohl bitten sollen, meinen Bruder noch einmal sehen zu dürfen ... Aber – ich nehme an, er ist so schlimm verletzt, daß ...?«

      Da, endlich, löste sich Alfreds Apathie, und er schrie aus der Tiefe seiner Trauer und seines Zorns: »Verletzt! Wir haben eine Handvoll Fetzen zusammengesucht und sie in den Sarg gelegt, ohne zu wissen, ob auch nur einer von Emils Körper stammt!«

      Die anderen suchten ihn zu beschwichtigen, und er schämte sich – zum wievielten Mal jetzt schon? Das war vielleicht das Schwerste für Mutter, nicht einmal eine Leiche betrauern zu können ...

      Beim Begräbnis selbst mit all dessen Hyänen und geifernden ›Reportern‹ hielt Alfred seine Tränen zurück. Er spürte nicht einmal ein Gefühl, als der Sarg auf dem Nordfriedhof ins Grab gesenkt wurde. Und war auch nicht imstande, seinen Strauß in das Grab zu werfen.

      Er hielt ihn noch immer in der schweißnassen Hand, als die Wagen wieder nach Heleneborg einschwenkten. Jemand wies unauffällig auf die Blumen.

      Alfred nickte und warf einen letzten Blick auf den Strauß, ehe er ihn wegzuwerfen gedachte. Dann änderte er seine Absicht und ging zu dem Unglücksplatz. Blieb eine Zeitlang schweigend stehen. Und warf den Strauß in den Krater.

      »Mach’s gut, Lime!«

      Er sprach den Namen französisch aus ...

      Bevor Roberts Frau Pauline nach Finnland zurückreiste, war die Familie bei der


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