Der Dynamitkönig Alfred Nobel. Rune Pär Olofsson
stöhnte. »Ich weiß nicht ... Ich selbst habe nicht ein Öre mehr. Was Alfred von seinen hunderttausend Francs übrig haben könnte, weiß ich nicht – und das weiß er selbst wohl auch nicht. Ist noch Geld da, dürfte es wohl für den Schadenersatz gebraucht werden. Vier Tote außer Emil und viele Verletzte. Das wird einiges kosten! Burmeister wird vielleicht auch den einen oder anderen Reichstaler fordern, den seine Versicherungen nicht abdecken. Die Umwohnenden ebenfalls.«
Alfred stocherte im Essen herum und sagte kein Wort.
Robert wandte sich zu ihm und legte ihm die Hand auf den Arm: »Alfred, ich habe es schon einmal gesagt, und jetzt sage ich es wieder – dieses Mal mit größerem Nachdruck; schlage dir alle Pläne von einer Sprengölindustrie ein für allemal aus dem Kopf! Das verdammte Öl hat schon genug Kummer und Elend gebracht. Dir mit deinen Fähigkeiten sollte es doch nicht schwerfallen, ein anderes Auskommen zu finden.«
»Ja«, schaltete sich Mutter Andriette ein, »Robert hat recht. Es reicht, einen Sohn zu verlieren – euch andere will ich behalten! Daß Vater so lange überlebt hat und auch dieses Mal davongekommen ist, ist ein Wunder, das sich sicher nicht noch einmal wiederholen wird!«
»Ich bin immun dagegen«, antwortete Immanuel und versuchte zu lachen, »das hört man ja schon an meinem Namen!« Dann begann er zu weinen.
Alfred legte Messer und Gabel nieder und wischte sich mit der Serviette nachdenklich den Mund. »Nein, Mutter und Robert«, sagte er langsam. »Ich dachte so wie ihr, einige Tage lang. Vielleicht sogar ein paar Wochen. Aber – beim Begräbnis habe ich beschlossen: Emil soll nicht umsonst gestorben sein! Das Sprengöl ist eine der wichtigsten Erfindungen unserer Familie, das wißt ihr alle. Es bleibt, es zu zähmen, wie man so sagt. Vater und ich, wir wissen, daß wir imstande dazu sind. Wir stimmen auch darin überein, daß das Geschehene mit Umständen zusammenhängen muß, die nichts mit dem Sprengöl an sich zu tun haben. Möglicherweise mit menschlichem Versagen, vielleicht ...?«
»›Menschliches Versagen‹ ist auch ein Grund umzudenken«, wandte Robert ein. »Eine Entdeckung, die so schwer zu steuern ist, kann und sollte aufgegeben werden – eben wegen der Unvollkommenheit des Menschen!«
»Diese Unvollkommenheit müssen wir umgehen«, widersprach Alfred hitzig. »Durch immer bessere Sicherheitsmechanismen, die die Wachsamkeit übernehmen, wo das menschliche Auge und Ohr versagt. – Nein, Emil darf nicht umsonst gestorben sein! Der Pfarrer in der Kirche hat es ausgedrückt. Nicht durch das, was er gesagt hat, sondern durch das, was er nicht gesagt hat – auf seine christlichen Versprechungen gebe ich nichts: Wir müssen Emil schon hier auf Erden belohnen, indem wir sein Werk zu Ende führen, zu einem glücklichen Ende!«
In dem Schweigen, das den Worten folgte, war es nun nur Alfred, der weiteraß.
»Ich sage es mit der Heiligen Schrift, die Alfred verleugnet: Wie aber soll das geschehen?« erwiderte Robert schließlich.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Alfred, so leise, daß er kaum zu verstehen war. »Heute noch nicht. Aber vielleicht weiß ich es morgen ... Im übrigen verleugne ich die Heilige Schrift nicht; ich erlaube mir nur, unserer offiziellen Religion zu mißtrauen.«
10
Am Montag, dem 6. Oktober, heizte Andriette den Samowar, um für sich und Immanuel Tee zu bereiten. Durch die Jahre in Rußland hatte sie Geschmack am Tee gefunden, und es war ihr gelungen, den stattlichen Samowar mit nach Schweden zu retten.
Ludwig war so lieb und schickte ihr regelmäßg Tee aus Petersburg.
Andriette fröstelte. Es fing an kalt zu werden, besonders morgens. Jetzt mußte sie endlich jemanden dazu bringen, ihr die Fensterscheiben einzusetzen! Die Brettstücke, die man in der Eile vor die gähnenden Löcher genagelt hatte, machten die Küche so gut wie unbenutzbar; es war dunkel und es zog. Alfred sagte jedesmal ›ach, ja‹, wenn sie ihn daran erinnerte, und Immanuel seufzte und antwortete, er habe ja den Tischler und den Glaser bereits bestellt. Sie selbst hatte beide Handwerker auch schon erinnert, und diese hatten in der üblichen Weise geantwortet, sie kämen sofort – spätestens am nächsten Tag!
Sie ahnte, warum die Handwerker auf sich warten ließen. Mit gutem Grund hatten sie sich ausgerechnet, daß es wohl lange dauern konnte, bis man sie bezahlte.
Mit Grossist Burmeister war nicht zu reden. Er fühlte sich betrogen und hinters Licht geführt und wollte sich absolut nicht mit Nobels Fenstern befassen. Wollten sie sie repariert haben, mußten sie sie schon selbst bezahlen! Der Grossist hatte genug zu tun, alle Fragen der Behörden und all die Schadenersatzforderungen der Nachbarn abzuwehren. Um nicht von den Klagen seiner anderen Mieter zu sprechen. All das würden letztendlich natürlich die Nobels bezahlen – doch wo war das Geld? In der Zwischenzeit mußte er, der Arme, seine sauer erworbenen Pfennige verauslagen, um das Allernotwendigste machen zu lassen. Wäre es nach Burmeister gegangen, hätte er die Bruchbude in Heleneborg abreißen und von Grund auf Neues bauen lassen! Doch die Drohung ließ die anderen in Zetergeschrei ausbrechen – wohin sollten sie in diesen Zeiten der Wohnungsknappheit?
Mit den Experimenten und dem Geknalle war es jedenfalls vorbei, ohne jedes Verbot Burmeisters. Die städtischen Behörden hatten es untersagt. Daß die Familie Nobel nicht gleichzeitig auf die Straße gesetzt worden war, lag wohl weniger an Burmeisters Gutmütigkeit als an seinen Überlegungen, daß er die Reparaturen dann ganz allein würde bezahlen müssen. Das heißt: Er war gezwungen, die Versicherungssumme in Anspruch zu nehmen, um auch den Teil des Hauses wiederherzustellen, in dem die Nobels wohnten. Sie wußte, daß Burmeister auf dem Polizeiamt eingestanden hatte, daß sein Grundbesitz versichert war. Doch wenn der Winter für die Nobels einigermaßen erträglich sein sollte, mußten sie sich um die Reparaturen selbst bemühen ...
Ach ja! Jetzt hatte sie mehr Tee hineingetan, als sie wollte – obwohl sie wußte, das Emil tot ist, hatte sie dennoch auch einen Löffel für ihn berechnet. Beinahe jeden Morgen ... Alfred aber hatte sie heute nicht berücksichtigt. Er war irgendwo auf Reisen, um Kapital für die Industrie zu beschaffen, von der er träumte. Wie das wohl gehen sollte? Und wo würde er sein verfluchtes Sprengöl fabrizieren, wenn er das Geld bekäme?
›Mama, wir sind doch nicht arm?‹
Sie konnte mitten in aller Trübsal ein Lächeln nicht unterdrücken. Alfreds Frage war in der Familie zu einer stehenden Redewendung geworden, zumindest in den guten Jahren. Jetzt verschwiegen alle diese Erinnerung, auch Alfred. Doch mehr denn je hätte er Grund gehabt, sich zu beunruhigen und zu klagen. Vielleicht war er auch unruhig, obwohl er nichts sagte. Doch Pläne schmiedete er, als besäße er Millionen von Rubeln!
Immanuel war nicht aufgewacht, als sie aufgestanden war. Jedenfalls hatte er sich nicht gerührt. Vielleicht tat er nur so, als schliefe er, um dem neuen Tag nicht begegnen zu müssen. Sein intensives Tun unmittelbar nach dem Unglück war langsam einer stillen Trauer gewichen. Nicht einmal mit Alfred konnte er mehr streiten. Und dann war es wirklich schlecht um ihn bestellt.
Heute wollte sie Väterchen das Frühstück am Bett servieren! Sie stellte den Tee auf ein kleines Tablett und dazu Dinge, die er morgens gern aß – oder zumindest das, was sie davon im Hause hatte; sogar eine Vase mit zwei Astern stellte sie auf das Tablett; sie hatten den verheerenden Brand und die Druckwelle überlebt.
»Guten Morgen, mein Immanuel«, begrüßte sie ihn munter und zog das umgearbeitete Laken vom Fenster. »Hier kommt der Tee, und nun kannst du dir einen richtig faulen Morgen gönnen – den hast du wirklich verdient!«
Er rührte sich noch immer nicht. Sie ging zum Bett hinüber und betrachtete ihn forschend. Doch, wach war er. Aber seine Augen starrten sie so eigentümlich an, so hilflos und entsetzt. Aber er blinzelte, also tot konnte er nicht sein ...
Das Tablett klapperte, als sie es absetzte; seine Augen hatten ihre Hände zittern lassen. Die kleinste Veränderung ließ sie jetzt stets das Schlimmste befürchten – als sei das Schlimmste nicht schon geschehen mit Emils Tod und der Fabrik ... Immanuel bewegte die Lippen, brachte jedoch keinen Ton hervor. Rasch riß sie die Decke zurück und hob seine Hand. Die rechte. Sie folgte schlaff ihrer Bewegung, dann fiel sie sofort wieder auf das Laken zurück.