Der Tabakgarten - Sechs Geschichten und ein Motto. Gertrud Fussenegger

Der Tabakgarten - Sechs Geschichten und ein Motto - Gertrud Fussenegger


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General hatte den Brief genommen und gelesen. Langsam faltete er ihn zusammen und schob ihn in den Umschlag zurück. Ich sah ihn fragend an: der alte Mann sah elend aus, seine Wangen waren eingefallen, seine Augen rotgerändert. Es war die Zeit, in der unsere vorgeschobenen Armeen Stalingrad berannten, da in der obersten Führung Unsicherheit und Verwirrung um sich griff und, schlimmer noch, auch erste Nachrichten sinnloser Greuel durchsickerten, die die Unseren unter den unterworfenen Völkern verübt haben sollten. Was würde der alte Soldat zu alledem zu sagen haben? Ein schwerer Atemzug hob seine Brust. Jetzt, dachte ich, wird er reden.

      Aber er schwieg. Dann, nachdem er mir mit gramvollem Nicken den Brief zurückgegeben, fragte er mich nur, ob ich auf den Balkon seiner Turmstube treten wollte, man habe hier eine weite Rundsicht.

      Der Balkon lief auf einem schmalen Mauervorsprung rund um den Hals des Turmes. Wir traten hinaus: In der Tat, weit reichte der Blick von hier über Gärten und Dächer, über das rötlichbraune Mauergeschiebe der Altstadt, über die jenseits des Flusses ansteigenden Hügel bis zum fernen, von Wolken umgürteten Gebirge. Da reihten sich Gipfel den ganzen südlichen Horizont entlang, schiefe, mit Schnee bedeckte Flächen über rauchende Abgründe, und wo der grauwolkige Himmel auseinanderklaffte, war die wildgezackte Linienschrift der fernsten Grate in ein Stück eisigklares Blau groß und überdeutlich eingerissen.

      Da standen wir nun, es war kalt, der Wind zerrte an unseren Kleidern, tief unter uns trieb in dunklen Schwärmen das verrottende Herbstlaub.

      Endlich sagte der General: „Spüren Sie, wie der Winter kommt? Ein früher Winter, ein harter Winter.“

      Dann schwieg er wieder. Ich hatte ihn begriffen.

      Ein Jahr darauf.

      Es war wieder Herbst, aber ein Herbst ganz anderer Art als der vergangene; dieser hatte uns gleichsam die Zähne gezeigt mit dem Einbruch früher Fröste und vorzeitigen Schneefalls. Jener war nach einem wasserlosen, dörrenden Sommer schwül und still. Nacht für Nacht fielen des Gegners Schläge auf uns nieder. So war es wieder einmal, als gegen Mitternacht jemand an unsere Tür pochte und rief: Der Rundfunk melde einen starken Verband im Anflug. Gleich darauf heulten die Sirenen. Es waren indessen noch nicht einmal fünf Minuten vergangen, als der Luftraum, der undurchdringlich schwarz und sternenlos über uns hing, vom Surren der Motoren zu erzittern begann.

      Wir jungen Leute blieben nicht in den Kellern. Wir hatten zwar Kinder und Greise und auch ein wenig Gepäck hinuntergeschafft, doch litt es uns nicht, drunten zu sitzen. Wir stahlen uns hinaus in die grollende Nacht.

      Es mußte ein großer Verband sein, es mußten Ketten von Verbänden sein, die da geschart und gesammelt über uns hinweg ihrem Ziel entgegenflogen. Das Ziel konnte nicht zweifelhaft sein.

      Dort, im Nordosten, lag die große, von uns allen geliebte Stadt; dort wohnten unzählige uns teure Menschen, dort ragten Kirchen und ehrwürdige Baudenkmäler, schlummerten Stätten innigen Erinnerns und heiliger Herzenserhebung. Es klirrte in uns vor Grauen: das alles sollte heute vernichtet werden.

      Ich war aus dem Garten auf die Straße gelaufen. Da hörte ich Stimmen aus der Höhe, von des Generals Aussichtsturm. Ich rief hinauf, ob ich kommen dürfe. Sie riefen herunter: „Kommen Sie!“ In dem Augenblick, als ich droben die Stube betrat, begann drüben der Angriff.

      Es blitzte. Man vernahm etwas wie einen Donnerschlag, dann folgte Blitz auf Blitz, unaufhörlich, als flammten enggereihte Böller nacheinander auf. Die einzelnen Detonationen gingen in ein allgemeines Rollen über. Man spürte die Erschütterungen der Schichten aus den Fundamenten heraufzittern.

      „Es ist ein großer Angriff“, hörte ich den General sagen. „Neue Verbände sind im Anflug.“ Und nach einer Weile mit dem Ausdruck knirschender Erbitterung: „Immer noch, immer noch –.“

      Wirklich erdröhnte die Luft nach wie vor von dem Geräusch der anfliegenden Maschinen. Sie kamen aus dem Südwesten herauf, überflogen uns, zogen gegen Nordosten hinüber. Länder und Erdteile, ja Räume des Kosmos schienen ihre Vernichtungsgeister gegen uns losgelassen zu haben.

      Die Nacht war diesig, das Flammen der Explosionen von mäßiger Helle. Da aber trat eine neue Erscheinung in das grausige Schauspiel: um ihre Ziele zu erleuchten, setzten die feindlichen Flugzeuge Lichter ab, da eine Kette von Kugeln, dort einen tropfenden Schirm aus violettem Glanz, dann wieder einen aus unsichtbaren Düsen sprühenden Leuchtstrahl von bleichem Grün. Taghelle ging von ihnen aus, die da im Luftraum hingen, teuflische Lichtgespenster, die die Ziele des Schreckens visierten. Und schon barst es drüben von neuen und heftigeren Explosionen, als sollte die ganze Stadt zunichte gemacht, um und um gepflügt und weggefegt werden.

      Eine Weile war nichts als dieses schauerliche Stampfen und Malmen. Die beiden Alten, der General und seine Frau, schienen mich längst vergessen zu haben. Sie standen auf dem gebrechlichen Altan, einander eng umschlingend, an das Geländer gepreßt. Zuerst hatten sie abwechselnd durch ein Fernglas geblickt, jetzt hoben sie es nicht mehr vor die Augen. Die Frau verhüllte ihr Gesicht, an die Brust des Mannes verkrochen, weinte sie leise: „Mach ein Ende, o Gott, ein Ende!“ – Der Mann aber stand stumm, mit zur Faust geballter Rechten. Ingrimm, Grauen, Verzweiflung mochten sein Herz durchtoben, unhörbare Schreie der Rache, Flüche und Vermaledeiungen. So stand er, wie ein Kapitän auf der Kommandobrücke seines sinkenden Schiffes steht, stumm, weil ohnmächtig gegen das Wüten der Elemente; das sinkende Schiff, das war seine Welt, und der Ozean – die Zeit der totalen Vernichtung.

      Einmal ging etwas Überschweres in unserer Nähe nieder. Der Luftdruck brandete gegen die Mauern, der Turm wankte unter einem gewaltigen Stoß. Die Generalin schrie laut. Drunten in der Dunkelheit des Gartens sah man den weißen Schatten des Spitzes einen Satz über die Flanke tun und in ein Loch verschwinden.

      Endlich wurde es drüben gelinder. Einzeln nur noch, nicht mehr in Ketten und Teppichen flammten die Bomben, schollen die Donnerschläge. Mit triumphierendem Brausen lenkten die fliegenden Festungen über unsere Landschaft westwärts davon.

      Dort, wo es geschehen war, wurde es still. Das feurige Licht der einzelnen Brandherde verschmolz mit dem aufziehenden Nebel zu einer einzigen Lache fahlroter Dämmerung. Es wurde Entwarnung gegeben. Die beiden alten Leute wankten, wie von einer Todeskrankheit entstellt, an mir vorbei die Treppe hinab.

      Wenige Tage danach erhielten sie die Nachricht, daß ihr Sohn, der einzige, den sie besessen, an der süditalienischen Küste von einer Granate zerrissen worden sei.

      Man erfuhr nicht, wie die beiden alten Leute den Schlag hinnahmen. Aber es fiel auf, daß sie fast sogleich danach ihre geräumige Wohnung im ersten Stock der Villa verließen und sich, wie geblendete Vögel in ein äußerstes Versteck, in das sechseckige Turmgemach zurückzogen. Fremde Flüchtlinge zogen in die unteren Räume ein. Vergeblich versuchten wir, dem Paar einen Beileidsbesuch abzustatten. Wir fanden die Tür verschlossen.

      Fast zwei Jahre noch währte der Krieg. Er bestand, wie wir wissen, für die deutschen Armeen nur mehr aus Rückzügen und in jenen noch fürchterlicheren, weil dem Wesen nach sinnlosen Versuchen, irgendwelche abgeschnittene, von feindlichen Übermächten umzingelte Stellungen zu halten. Wo unseren Truppen Bundesgenossen zur Seite gestanden, fanden sie sich über Nacht verlassen und neuen Feinden ausgesetzt. Manchmal wunderten wir uns, daß eine verbündete Welt dieses Kartenhaus wankender und stürzender Fronten nicht schneller zu durchbrechen, nicht rascher zusammenzuschlagen vermochte. Längst waren der General und seine Frau nicht mehr das einzige Ehepaar in unserer Straße, dem der einzige Sohn vor dem Feind geblieben. Ganze Familien, die einst reich geblüht hatten in vielen Gliedern, wurden ausgerottet, und die letzten Überlebenden, Frauen und Kinder, in Ausweichlagern und zweifelhaften Refugien zerstreut. Ganz Deutschland war allmählich in ein Schlachthaus verwandelt worden, in dem wir wie Tiere darauf warteten, durch Bomben oder durch einbrechende Gegner im Nacken getroffen und hingemetzelt zu werden. Wir alle waren in die Lage von Selbstmördern gebracht. Friede war ein Begriff, der über unsere Begriffe ging, und so sehr waren wir an Vorstellungen des Untergangs gewöhnt, so sehr waren wir dazu erzogen worden, das Dasein unter Aspekten der Vernichtung zu sehen, daß es uns dann und wann ganz sonderbar anmutete, wenn wir uns sagten: Aber die Berge werden stehen bleiben, Frühlinge werden auch später noch blühen und Sommer ihre


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