Der Tabakgarten - Sechs Geschichten und ein Motto. Gertrud Fussenegger
Wie töricht wir waren! Nicht nur die Berge überstanden, nicht nur der Kreislauf der Natur, Blüte, Gedeih und Reife, wir alle, die noch leben, das Leben selbst überstand, der heimliche Herzschlag des Daseins, das Zarte und Süße sogar, und, wer weiß, vielleicht hatte ein verborgener weiser Sinn längst schon, während noch die Parolen der Vernichtung galten, mit vorsichtig tastenden Kräften die ersten Versuche zur Wiederherstellung des Lebens begonnen.
Eines Tages erfuhren wir, daß dem General und seiner Frau eines jener armen Kinder ins Haus gebracht worden war, die auf der Flucht ihre Eltern verloren hatten und irgendwo auf der Straße, auf Bahnhöfen oder freiem Feld aufgegriffen und der Barmherzigkeit des Nächstbesten empfohlen wurden. Kurz vor dem Einmarsch der fremden Truppen in unsere Stadt schickte die Generalin nach mir, ich möchte zu ihr kommen.
Eilig ging ich hinüber. Wie verändert fand ich den Raum, den wir einstmals nicht ohne spöttischen Beiklang des Generals Hauptquartier genannt hatten. Zwar hingen noch Karten und Pläne an den Wänden, aber dazwischen hatte das Leben ein fliegendes Quartier aufgeschlagen: ein kleiner Herd war gesetzt, Küchengeschirr stand auf Bücherschränken gestapelt, und in einem Bett lag, sorglich in Decken gerollt, das fremde Findelkind.
Die Generalin eilte mir entgegen: „Gottlob, daß Sie da sind. Stehen Sie mir bei! Man erzählt, daß alle Häuser geplündert werden, in denen militärische Dinge gefunden werden, und Sie sehen: Hier ist alles voll davon! Ich habe es meinem Mann schon gesagt, daß wir die Karten abnehmen und die Bücher verbrennen müssen, er aber tut, als höre er nicht. Er spricht kein Wort seit Tagen schon, und ich – ich fürchte mich allein zu handeln. Wenn ich aber sage, daß Sie hier gewesen sind – –.“
„Ja“, antwortete ich, „machen wir rasch. Wir werden gleich abgeräumt haben.“
Ich rückte einen Stuhl an die Wand und begann die erstbeste Karte abzuhängen. In Nu war es ringsum kahl. Auch die Bilder mußten weichen, Ehrendegen, Orden, Bücher und Karten – alles sollte in einem finsteren Winkel des Dachgeschosses verborgen werden.
Da klappte unten die Haustür, die Generalin erblaßte: „Da ist er schon.“ Aber es war der General noch nicht. Es war eine Frau aus der Nachbarschaft, eine heftige, immer aufgeregte fahrige Person, von der wir wenig Gutes erfahren hatten die ganze Zeit. – „Was ist?“ schrie sie uns an. „Wird hier endlich die weiße Fahne gehißt?“ –
„Die weiße Fahne?“ fragte die Generalin zurück. –
„Ja freilich, was denn sonst? Die Amerikaner schießen immer noch. Glauben Sie, wir wollen uns die Bude zusammendreschen lassen im letzten Augenblick?“
„Es steht Ihnen frei, das ganze Haus zu beflaggen“, sagte ich. „Doch warum soll denn gerade hier –?“
Die Frau funkelte mich zornig an. „Weil hier der höchste Punkt ist weit und breit.“ –
„Da haben Sie recht“, sagte ich, „in mehr als einer Hinsicht recht. Dennoch werden wir nicht tun, was Sie verlangen. Aus allen Fenstern können weiße Fahnen wehen, aus diesen nicht.“ –
Damit schlug ich der Verdutzten die Tür vor der Nase zu. Jetzt war ich mit der Generalin wieder allein. Ich sah die alte Frau erzittern. Ein Schluchzen würgte uns, das Elend unserer Lage, die Ohnmacht und Entwürdigung unseres Volkes kamen uns mit einem Schlag ganz zu Bewußtsein. Unwillkürlich schlossen wir einander in die Arme und verharrten, das Weinen niederkämpfend, eine Weile stumm aneinandergedrängt. Dann aber riß ich mich los, es mußte sein –.
In einem finsteren Winkel, zwischen Gerümpel und zerschlagenen Ziegeln begruben wir Orden und Bilder unter Sand, wir breiteten Lumpen über Bücher und Karten. Das alles mußte nun in Nacht versinken, mußte verborgen sein wie gemeines Diebesgut, wie Dinge der Schande und Schmählichkeit. Staub und Spinnweben sollten darüber fallen, Vergessenheit es verschütten. Wie aber, das fragten wir uns in unseren Herzen, sollten jene weiterleben, denen das alles Ehre und Pflicht, Form und Richtung gewesen war?
Wir kehrten in das zerstörte Zimmer zurück. Kahl starrten uns die Wände an, öde klafften die Regale, leer lag der Raum, in dem eben erst die Zeichenbilder ungeheurer Taten und Entscheidungen – wie Konstellationen in einem Planetarium – versammelt gewesen waren. Welch eine Welt! Und was war von ihr übrig? Die Wundmale der Nägel, die Risse im weißen Bewurf, staubige Konturen, Schimmel, Befleckung.
Allmählich senkte sich der Tag. In der Ferne grollten die Geschütze. Sorge und Furcht wollten uns Frauen überwältigen. Hatten die Nachbarn an ihren Häusern schon die weißen Fahnen gehißt? Hatten wir uns von ihnen unserer Säumigkeit willen eines Angriffes zu versehen? Und wo blieb er, der General? Nun reute es uns, daß wir die Besucherin so starrsinnig abgewiesen. Sollten wir nicht doch etwa einen weißen Wimpel aus dem Turm stecken? „Ich wage es nicht“, sagte die Generalin. „Wenn mein Mann nach Hause kommt und es sieht – nein, ich wage es nicht.“
Aber da, während wir noch sprachen und uns berieten, war über uns auf dem Boden ein Geräusch zu vernehmen. In der Turmstube tappte ein Schritt, eine Angel kreischte, als würde dort oben eine Luke mühselig aufgezwängt. Und dann sahen wir, daß ein Schatten an einem der Fenster abwärts wehte, etwas geisterhaft Bleiches wie ein plötzlicher Hagelschauer, ein weißes, sich auseinanderrollendes Tuch. Der Wind ergriff es, warf es klatschend gegen Altan und Scheiben –: es war die weiße Fahne, die Fahne der neuen Zeit, die Frieden bot und Schonung anrief für dieses Haus, für die Häuser ringsum, für dieses ganz arme, abgeschlachtete und ausgeblutete Land.
Der General selbst hatte die Fahne gehißt. In diesem Augenblick war das Kind erwacht. Es saß aufrecht im Bett, seine Augen glänzten.
Was mir noch zu erzählen bleibt, reicht bis in das späte Jahr siebenundvierzig, denn kurz vor der neuen Jahreswende starb der alte Mann, und seine Frau blieb danach nicht mehr lange in unserer Stadt, sondern zog mit dem fremden, für eigen angenommenen Kinde in ihre Heimat im Norden, ich hörte nichts mehr von ihnen.
Aber in den beiden Jahren nach Kriegsende sollte mir, was den General betraf, noch manche Belehrung zuteil werden in der Richtung der Dinge, von denen ich eben sprach: daß sich das Leben wiederherstellte, daß nach der Zeit des umfassenden Vernichtungswillens die Zeit der umfassenden Lebensrettung anbrach, des bedingungslosen, ja, verzweifelt zu nennenden Versuchs, zu erhalten, was überstanden hatte, zu schützen, was übriggeblieben, aufzurichten, was dem Beinahe-Nichts abzuringen war.
Es begann nun, wie wir alle wissen, die eigentliche Hungerzeit für das städtische Volk. Von Tag zu Tag machte sich der Mangel an Nahrung schrecklicher fühlbar, und was vorher kaum oder doch nur vereinzelt geschehen war, das geschah nun massenweise: die Hungernden zogen aus, um auf dem Lande Eßbares aufzutreiben. Als habe in dem städtischen Volk ein Nomadentum geschlummert und rühre sich nun mit unwiderstehlicher Kraft, so trieb es nun alles, was sonst zähe im städtischen Bereich geklebt, auf kleinen Fahrzeugen oder zu Fuß oder in berstend überfüllten Zügen hinaus aufs Land. Kein Weg schien zu weit, kein Fehlschlag zu entmutigend, keine Demütigung zu ätzend: mit dem ersten Morgenlicht fielen die frühesten auf dem flachen Lande ein, in der hereinbrechenden Nacht waren die letzten noch unterwegs. In den seltsamsten scheuchenhaften Aufzügen sah man die Leute wandern, ausgemergelte Frauen in umgeschneiderten Militärmänteln, Männer in uralten Windblusen, so zogen sie einher, alle bepackt mit Zöggern, Kannen und Rucksäcken, ja, der Rucksack war so recht zum Wahrzeichen ihrer Gilde, ihres Standes geworden.
Auch den General sah ich eines Tages mit dem Rucksack wandern. Der Anblick kam mir so unerwartet, daß ich meinen Augen zuerst nicht trauen wollte. Aber das Spitzchen, das ihn immer noch begleitete, wies ihn aus: es konnte kein Zweifel sein, die kleine hagere Gestalt, die unter dem Gewicht des Rucksackes dahinstapfte, war der General. Noch manches Mal begegnete ich ihm so: wenn er frühmorgens auszog, wenn er abends heimkehrte, auch, wenn ich selbst auf Hamsterfahrt war. Einmal traf ich ihn mitten im Wald, wo er unvermutet aus einer Schneise trat und mich zu einem von ihm entdeckten Erdbeerplatz heraufwinkte; ein anderes Mal in grauer peitschender Winternacht auf einem zugigen Bahnhof, wo er mit vielen anderen den verspäteten Zug erwartete, ein drittes und letztes Mal hoch über mir auf einem schmalen Pfad an einer steilen Berglehne, eine unscheinbare, kleine graue, sich unermüdlich mühende Figur.
Die