Es geschah in Heiliger Nacht. Группа авторов
sich des Wortes: »Die Armen sind stets unter euch.« Doch war Selma eigentlich arm? Dass sie es knapp hatte, daran war nicht zu zweifeln, aber sicher hatte sie genug zum Leben.
Dennoch beherrschte den Pfarrer das seltsame Gefühl, als ob Selma in geistlicher Hinsicht irgendetwas fehlen müsse. Sie gehörte zu jenen rätselhaften Menschen, die ein ernstes Geheimnis in sich bergen, ohne je Gelegenheit zu finden, die vielleicht schwerwiegende Bürde in vertraulichem Gespräch mit einem verständnisvollen Menschen von sich abzuwälzen.
Und nun fasste er seinen Entschluss. Er wollte eintreten und Selma begrüßen. Der Augenblick dafür hätte nicht geeigneter sein können als am Heiligen Abend, wo sie allein zu Hause weilte und in der ganzen Welt keinen Menschen hatte, der sich um sie gekümmert hätte. Doch vorerst ging er noch rasch in den Pfarrhof hinüber, um den Seinen mitzuteilen, dass sie noch eine Weile warten müssten, ehe er Zeit fände, sich ganz seiner Familie zu widmen.
Die Kinder waren im Hausflur versammelt, wo sie auf sein Kommen warteten. Sie machten etwas lange Gesichter, als sie vernahmen, dass er noch einen Besuch vorhabe. Als seine Frau erfuhr, wem dieser Besuch gelten sollte, legte sie etwas Weihnachtsgebäck und Speisen in einen Korb, den der Mann mitnahm.
Im Flur vor der Kammertüre blieb der Pfarrer stehen. Die Hütte besaß anscheinend nur ein Zimmer. Er wiederholte sein Klopfen.
»Herein!«
»Guten Abend und gesegnete Weihnacht!«, grüßte der Pfarrer, indem er die Brillengläser trocknete.
Er erhielt keine Antwort. Aber nachdem er die Brille wieder aufgesetzt hatte und klar zu sehen vermochte, entdeckte er, dass sich in der Stube zwei Personen befanden. Die eine war Selma, die andere einer der Kirchenältesten.
»Nein, was sehe ich, der Kirchenälteste!«, sagte der Pfarrer und reichte Johannes As die Hand.
Dieser erhob sich zum Gruße.
»Schönen guten Abend, Selma. Ich bin gekommen, um frohe Weihnacht zu wünschen, und meine Frau bittet mich, einen Gruß zu bestellen. Sie hat mir etwas von unseren Weihnachtsspeisen mitgegeben.«
»Danke!«, erwiderte Selma kurz und ein wenig abweisend, wenn auch nicht gerade unhöflich. »Ich habe, was ich brauche, und wie der Herr Pfarrer sieht, hat der Kirchenälteste mir eine ganze Menge mitgebracht.«
»Ich muss zugeben«, meinte der Pfarrer überrascht, »dass das ein musterhafter Kirchenältester ist. Hier scheint der Pfarrer wahrhaftig nicht als Einziger derer zu gedenken, die am Weihnachtsabend allein ohne Freunde und Verwandte sind. Ich habe beinahe das Gefühl, hier überflüssig zu sein.«
Kaum hatte der Pfarrer diese Worte geäußert, so fühlte er, dass sie mehr Wahrheit enthielten, als er selbst ahnte. Er hatte den Eindruck, dass seine Anwesenheit Selma und den Kirchenältesten nicht nur überraschte, sondern geradezu belästigte. Es war, als wünschten die beiden, er möge so rasch wie möglich verschwinden, ehe etwas gesagt werden oder geschehen könnte, was sie lieber ungesagt und ungeschehen lassen wollten.
Hätte der Pfarrer der Versuchung, sich dieser unangenehmen Situation zu entziehen, Folge leisten wollen, so hätte er ganz einfach Abschied nehmen und heimgehen können. Aber er hatte das Gefühl, dies würde einer Fahnenflucht gleichkommen. In diesem Falle wäre es um seinen Weihnachtsfrieden geschehen. Vielleicht lag auch ein höherer Sinn oder eine Führung dahinter, dass er gerade an diesem Heiligen Abend in Selmas Hütte eintreten und hier einen der Kirchenältesten hatte vorfinden müssen.
Und so tat er denn, was er bei seinen Hausbesuchen meistens zu tun pflegte: Er holte sein Gesangbuch hervor.
»Darf ich mit Selmas Erlaubnis einen Weihnachtspsalm singen, ehe ich gehe?«
Selma nickte. Sie saß mit über der Brust verschränkten Armen da.
»Vielleicht singt der Kirchenälteste mit?«, meinte der Pfarrer und rückte einen Stuhl an dessen Seite. »Johannes As verfügt über die schönste Stimme in der ganzen Gemeinde.«
Aber Johannes sang nicht mit.
Der Pfarrer musste allein singen. Noch nie war ihm das Singen der Worte »Sei gegrüßt, du schöne Morgenstunde« so schwergefallen. Er fand keinen Widerhall in der Stube, weder im natürlichen noch im geistlichen Sinn. Ihm schien allmählich, er hätte sich auf ein unmögliches Unternehmen eingelassen. Er hatte vorgehabt, alle vier Strophen zu singen, brachte aber nur zwei davon zustande. Er schloss mit den seltsamen, sich erst so hoch emporschwingenden und dann so tief absinkenden Worten:
Wärmen,
nähern,
eins zum andern,
die da wandern
ohne Liebe
und aus trüben
Brunnen schöpfen.
Der Pfarrer wollte soeben mit dem Vorlesen eines Weihnachtstextes beginnen, als der Kirchenälteste ihm die Hand auf den Arm legte.
»Es dürfte genügen«, sagte er, »Selma will bestimmt nicht mehr hören.«
Der Pfarrer blickte verwirrt auf. Er war nicht gewohnt, solchermaßen in einer Hausandacht unterbrochen zu werden, am allerwenigsten von einem Kirchenältesten.
Die Ungemütlichkeit und die Spannung wurden schließlich unerträglich. Dem Pfarrer blieb nur die Wahl zwischen zwei Dingen: entweder seines Weges zu gehen oder aber diese Leute zu einer Aussprache zu bewegen. Da fiel sein Blick auf den Küchentisch. Dieser war voll beladen mit zum Teil geöffneten, zum Teil noch verschnürten Paketen, die der Kirchenälteste mitgebracht hatte. Es war klar ersichtlich, dass der Besuch des Pfarrers die beiden Menschen beim Öffnen der Weihnachtspakete unterbrochen hatte. Der Pfarrer ärgerte sich, dass er gerade den Heiligen Abend für seinen Besuch in Selmas Hütte gewählt hatte. Es war – ja, es war beinahe ein wenig taktlos. Er hatte es so gut gemeint, aber vielleicht doch nicht richtig gehandelt. Er entschloss sich zu gehen. Mochte aus seinem eigenen Weihnachtsfrieden werden, was wollte. Jedenfalls wollte er nicht den Frieden anderer zerstören. Er griff nach seinem Hut.
»Ich merke, dass mein Besuch ungelegen kam«, sagte er. »Und ich bitte um Entschuldigung, dass ich mitten in der Weihnachtsbescherung gestört habe.«
Er streckte Selma die Hand hin. Sie erhob sich nicht, reichte ihm aber die eine Hand, ohne die andere von der Brust zu heben. Schlaff, wie gefühllos ruhte ihre Rechte in der seinen.
Er wandte sich an den Kirchenältesten.
»Adieu, Johannes, wir sehen uns morgen früh.«
Doch Johannes bot ihm die Hand nicht. Er saß vornübergebeugt, die Hände zwischen die Knie geklemmt.
»Nein, der Pfarrer soll nicht gehen«, sagte er. »Er soll sich ein Weilchen zu uns setzen. Will der Herr Pfarrer nicht wieder Platz nehmen?«
»Gewiss«, erwiderte der Pfarrer, »das will ich gerne tun. Wünscht der Kirchenälteste vielleicht etwas mit mir zu besprechen?«
»Das hängt von Selma ab«, meinte der Kirchenälteste, ohne den Kopf zu heben.
Der Pfarrer glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wie sehr er auch daran gewöhnt war, dass die Leute ihm ihre Geheimnisse anvertrauten und ihn in ihre intimsten Tragödien einweihten, vermochte er sich gleichwohl nie des seltsamen Gefühles zu erwehren, dass die Schwierigkeiten der anderen ihn persönlich so tief betrafen, als wären sie seine eigenen. Er fühlte die Gewissensbisse anderer so intensiv, als wären sie seine eigenen, und schämte sich anderer Irrtümer und Fehltritte gerade so, als hätte er sie selbst begangen. Und er glaubte in diesem Augenblick, selbst der Schuldige zu sein, falls zwischen diesen beiden Menschen ein Unrecht bestand.
»Es hängt von Selma ab«, wiederholte der Kirchenälteste. »Wenn sie nicht will, schweige ich.«
Der Pfarrer blickte Selma an. Ihr Gesicht zeigte die gleiche unergründliche und stolze Gleichgültigkeit auf, die er stets darin gelesen hatte.
»Nun,