Megan Rapinoe. Luca Caioli

Megan Rapinoe - Luca Caioli


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der Stadt kommen allerdings von einem anderen Pionier: Benjamin Barnard Redding.

      Redding wird 1824 im kanadischen Yarmouth, Nova Scotia, geboren, und ihn erwartet ein außergewöhnliches Schicksal. Mit sechzehn Jahren wandert er aus und geht nach Boston. Zunächst arbeitet er als kleiner Angestellter, später versucht er sich im Einzelhandel, verkauft Nahrungsmittel und versorgt Schiffe mit Vorräten. Er heiratet und wird zum ersten Mal Vater. 1850 bricht Red-ding auf nach Kalifornien: Es ist die Zeit des Goldrausches. Er wird Minenarbeiter, Journalist, er setzt Beglaubigungsschreiben und Urkunden auf und wird schließlich Eigentümer einer Zeitung. 1856 wählt man ihn zum Bürgermeister von Sacramento, kurz darauf zum Staatssekretär Kaliforniens. Für die Central Pacific Railroad ist er als Grundstückverwalter tätig und findet ein Stück Land im Shasta County, wo er den Bau der nördlichen Endstation einer neuen Eisenbahnlinie veranlasst.

      1872 benennt die Eisenbahnfirma den kleinen Flecken, der sich um den Bahnhof herum gebildet hat, als Zeichen der Anerkennung nach seinem kanadischen Entdecker. Am 4. Oktober 1887 wird Redding mit seinen 600 Einwohnern offiziell in den Bundesstaat Kalifornien eingegliedert. Zwanzig Jahre später leben dort bereits über 3.500 Menschen. Die Minenindustrie, der Abbau von Kupfer und Eisen, bildet das Grundgerüst der lokalen Wirtschaft. Hinzu kommt der Bau der Staudämme Shasta und Whiskeytown, der in den 1860er Jahren unzählige neue Arbeiter anzieht. Heute zählt Redding 91.772 Einwohner. 85,3 Prozent davon sind Weiße, 10,3 Prozent lateinamerikanischer Herkunft, 4,7 Prozent asiatischer Herkunft, 2,2 Prozent Native Americans und 1,5 Prozent Schwarze. Der Altersdurchschnitt liegt bei 38,5 Jahren, und das durchschnittliche Familieneinkommen bei über 50.000 US-Dollar (46.000 Euro) im Jahr. Die wichtigsten Wirtschaftszweige sind heute der Tourismus, das Dienstleistungsgewerbe, die Holzindustrie, der Nahrungsmittelsektor und der Handel.

      Eine große Rolle spielt auch die Religion, insbesondere die Bethel Church. Diese charismatisch-christliche Gemeinde, die der sogenannten Pfingstbewegung zugerechnet wird, predigt die Rückkehr zu den Ursprüngen. Ihre Einnahmen werden auf jährlich mehrere Millionen Dollar geschätzt. Der Pastor der wertkonservativen Kirche, Bill Johnson, ist ein einflussreicher Mann in der Stadt. Er schreckte 2016 nicht davor zurück, seine Gemeindemitglieder mittels Bibelzitaten dazu aufzurufen, bei der Präsidentschaftswahl für Donald Trump zu stimmen. Johnson wurde erhört: 63,9 Prozent wählten Trump und nur 23,7 Prozent die Demokratin Hillary Clinton.

      Redding gehört zu den Red Towns, jenen Orten, die verlässlich die Republikaner wählen. Denn hier befindet man sich mitten im konservativen, traditionsbewussten, ländlichen Amerika. Redding ist, so Megan Rapinoe, „eine Art Außenseiter, bestehend aus fleißigen Fabrikarbeitern und Handwerkern“, eine Stadt, die sie immer mit sich trägt, egal, wohin sie geht. Die Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen ist, wo ihre Eltern wohnen, die sie regelmäßig besucht. Eine Stadt, die sie zur berühmtesten Sportlerin gewählt hat. Und eine Stadt, die es sich zugleich nicht nehmen lässt, Megans angeblichen Antiamerikanismus heftig zu kritisieren. Redding – die Stadt, die Megan nach dem Sieg bei der Weltmeisterschaft 2019 gewürdigt hat: Auf Instagram zeigte man die Titelseite der Lokalzeitung Record Searchlight mit einem Rapinoe-Foto und dem Zusatz: „Heimatliebe ist die beste Liebe.“

      Denise ist 32 Jahre alt, James, ihr Ehemann, 37 Jahre, als sie am 5. Juli 1985 Zwillinge zur Welt bringt: Rachael Elisabeth, „die Große“, und Megan Anna, „die Kleine“, werden mit elf Minuten Abstand geboren. Das Paar hat bereits einen Sohn, Brian, und außerdem zwei große Kinder, Michael und Jenny, die aus Denise’ erster Ehe stammen. Denise ist die Zweitgeborene von insgesamt acht Geschwistern und hat 1981 nach dem Tod der Eltern ihre jüngere Schwester, CeCé, zu sich genommen.

      Die Rapinoes sind eine große christliche Familie, die Eindruck macht, väterlicherseits ein Viertel italienisch, mütterlicherseits ein Viertel irisch (zurückgehend auf die Urgroßeltern). Der Familienname Rapinoe stammt offenbar aus den Abruzzen, der Region östlich von Rom zwischen Adria und dem Apennin. Dort gibt es viele Rapino (ohne das -e), und in der Provinz Chieti findet sich sogar ein Dorf mit 1.200 Einwohnern, das am Hang der Majella liegt, und Rapino heißt.

      Die Rapinoes sind einfache Leute. James Michael, den alle nur Jim nennen, ist selbständig mit einem kleinen Bauunternehmen. Denise Ann kellnert in Jack’s Grill, einer Institution in Redding. Das Lokal eröffnete 1938, als die Innenstadt nur aus einer langen Straße mit Hotels, Clubs, Restaurants, Bars und Bordellen bestand. Lange Zeit war es der Lieblingstreffpunkt der Arbeiter von der Eisenbahn, den Staudämmen und den Minen. Zweiundachtzig Jahre später befindet sich das Lokal noch immer im selben Gebäude: 1734 California Street. Mit seinen zwei Etagen sieht die Fassade des Restaurants noch genauso aus wie damals, und die Steaks haben noch immer einen genauso guten Ruf.

      Fast ihr ganzes Leben hat Denise in Jack’s Grill gearbeitet. Von 16 Uhr bis 22 Uhr ist sie unzählige Male zwischen dem Gastraum und der winzigen Küche des „House of choice steak“ hin- und hergelaufen, hat die Spezialitäten des Hauses beworben und serviert: das berühmte 16 oz. New York Strip, das Filet Mignon und das Top Sirloin. Natürlich haben die Stammgäste von den Erfolgen des Nesthäkchens gehört, und so wurde das Restaurant zum ersten Megan-Rapinoe-Fanklub. Die Einwohner aus der Gegend und auch Menschen auf der Durchreise gingen ein Steak essen und wechselten dabei ein paar Worte mit der Mutter der Weltmeisterin. In den letzten Jahren musste Denise mit den radikalen Standpunkten ihrer Tochter fertigwerden, die zu einigen hitzigen Diskussionen mit Gästen und auch den Eigentümern führten. Doch das ist ein anderes Thema …

      Die Rapinoes lebten viele Jahre auf der anderen Seite des Sacramento River, im Osten, in Palo Cedro, sechzehn Kilometer außerhalb von Redding. Mit dem Auto waren es fünfzehn Minuten zu Jack’s Grill. Sie wohnten 21976 Oak Meadow Road, ein weitläufiges Grundstück umgeben von einem weißen Lattenzaun, mit Tannen, einer großen Eiche (die heute nicht mehr steht) und einer Allee, die über eine grüne Wiese zu einem einstöckigen Haus führt, an dem ein Basketballkorb angebracht ist. Megan und Rachael nutzten diesen Riesenspielplatz von über 4.000 Quadratmetern aus, bis sie dreizehn Jahre alt waren und ihre Familie gezwungen war, das Haus samt Grundstück zu verkaufen. Die Rapinoes zogen in ein Einfamilienhaus mit vier Zimmern am Eagle Parkway in Redding.

      Die zwei „Nachzüglerinnen“ sind immer zusammen, unzertrennlich, klammern sich in den Babybetten aneinander. Doch wie bei Hund und Katze enden Spielereien meist böse. Sie sind zwar Zwillinge, haben aber sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Rachael ist der kleine Engel, den alle Welt bewundert. Megan der kleine Satansbraten. Rachael wird „Muffin“ genannt, Megan „Ma Baker“. Die Spitznamen verdanken die zwei kleinen Mädchen ihrem Großvater väterlicherseits, Granda Jack. Und als Megan ihn eines Tages fröhlich fragt, wer Ma Baker ist, überzeugt, dass es sich um eine Astronautin oder eine berühmte Anwältin handelt, muss sie sich anhören, dass Ma Baker eine berüchtigte Gangsterin der 1920er Jahre war. Deren Verbrechen im Übrigen der deutschen Musikband Boney M als Inspiration zu einem ihrer größten Hits dienten.

      In der Oak Meadow Road wachsen die Zwillinge draußen auf. Denise lässt sie herumlaufen, sie dürfen kommen und gehen, wann sie wollen. Nur wenn es Zeit zum Essen ist, steckt ihre Mutter zwei Finger in den Mund und pfeift laut. Das klingt dann fast wie eine Feuerwehrsirene, und Megan und Rachael wissen, sie sollten innerhalb von zehn Minuten auftauchen, wenn sie keinen Hausarrest bekommen wollen.

      Die zwei Schwestern, immer in Begleitung ihres Cousins Steven, verleben eine wunderbare Kindheit mit Ausflügen und Abenteuern à la Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Stundenlang fischen sie Flusskrebse in dem kleinen Bach nahe ihrem Haus, wobei Speckstücke oder Würstchenreste als Köder dienen. Die Technik zahlt sich aus: Eines Tages befinden sich siebzig Krebse in ihrem Eimer. Ein Rekord. Im Hühnerstall haben sie sich eine kleine Hütte gebaut; überall liegt Kot herum, und es riecht streng, aber das stört sie nicht sonderlich. Sie ziehen sich gern dorthin zurück, fernab von anderen Menschen.

      Megan und Rachael sind nicht nur gern in der Natur, sie spielen auch begeistert Hockey und Flag Football1 mit den anderen Kindern des Viertels auf der Straße. Jede Aktivität nutzen sie, um sich zu messen: Rachael gegen Megan im Basketball, Megan gegen Rachael im American Football (wobei jede mal Quarterback, mal Receiver ist) und sogar eine gegen die andere im Baseball (oft mit


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