Megan Rapinoe. Luca Caioli
auf. Im Alter von zehn Jahren bestehen Megan und Rachael erfolgreich die Aufnahmetests für das „Class 1 Boys Team“, das höchste Niveau in ihrer Altersklasse. In Zukunft werden sie mit den besten Jungs aus der Region Redding und Nordkalifornien in der Meisterschaft von Sacramento spielen. Sie kennen den Trainer bereits: Jack, der auch Brian einige Jahre zuvor gecoacht hat. Die zwei fühlen sich sofort wohl in der U12-Mannschaft. Doch Denise und Jim, die mit ihren Töchtern durch ganz Kalifornien reisen, merken schnell, dass es so nicht weitergehen kann: In der folgenden Saison werden sie eine Frauenmannschaft auf die Beine stellen müssen.
Dass zwei Mädchen in der Mannschaft mitspielen, stößt im Süden des Bundesstaates auf Unbehagen. Einige Eltern heißen eine gemischte Gruppe nicht gut und scheuen sich keineswegs, dies am Spielfeldrand kundzutun. Sie sind verärgert, dass die zwei Mädchen ihren Söhnen zeigen, wo es langgeht, und verlangen, dass sie vom Spielfeld gehen. Sie ermutigen ihre Kinder sogar, sich das nicht gefallen zu lassen, sich diesen „Eindringlingen“ zu widersetzen, mit all ihrer Körpergröße, ihrer Muskelkraft und ihrer „Männlichkeit“ Auf einmal kommt es vor, dass die Gegner im direkten Zweikampf mit den zwei jungen Mädchen härter und aggressiver auftreten. Zum Glück sind Megan und Rachael innerhalb der eigenen Mannschaft sehr beliebt und geschätzt; ihre Teamkameraden bestehen darauf, dass sie weitermachen. Allerdings reicht die Unterstützung von Trainer und Mannschaft allein nicht aus. Die Zwillinge leiden zunehmend unter der Situation.
So kommt es, dass Jim Rapinoe drei Jahre lang seine Töchter trainiert. Der Vater übernimmt Verantwortung, denn: Wenn er es nicht macht, dann macht es niemand. Mutter Denise kümmert sich mit dem Rest der Familie darum, andere Mitspielerinnen zu finden, indem sie Eltern aus der ganzen Region zusammenrufen. Der Plan geht auf, und sie gründen die erste Frauenmannschaft: die Mavericks United. Die Mädchen trainieren in Redding und reisen bis Sacramento, um an Turnieren teilzunehmen. Aber aller Anfang ist schwer. Die Mannschaft muss einige Enttäuschungen wegstecken, bevor sie erste Siege erzielt.
Sommer 1996, Olympische Spiele von Atlanta. Megan verbringt ihre Tage vor dem Fernseher, sitzt stundenlang gebannt vor dem Bildschirm und begeistert sich für alle Disziplinen. Denise ist beeindruckt von dem Interesse ihrer elfjährigen Tochter. Jeden Abend beim gemeinsamen Essen berichtet Megan ihrer Familie detailliert von den Ergebnissen und Erfolgen des jeweiligen Tages – ihre Mutter ist von diesem Enthusiasmus überrascht. Nachdem Michael Johnson den Doppelsieg über 200 und 400 Meter erlangt hat, wird er zu Megans Lieblingssportler.
Herbst 1996, Junction School. In den Sommerferien hat sich die Einstellung der Schüler geändert; die sechste Klasse beginnt. Rachael und Megan sind inmitten der Jungs aus Palo Cedro aufgewachsen. Sie haben Sport mit ihnen getrieben, große Abenteuer erlebt. Doch der Schulbeginn bedeutet eine Zäsur, eine offensichtliche Änderung im Verhalten, in Megans Augen unverständlich und absurd: Auf einmal stehen die Jungs auf der einen Seite, die Mädchen quatschen auf der anderen und schwärmen plötzlich alle für Jonathan Taylor Thomas, den Jungschauspieler aus der Fernsehserie Hör mal, wer da hämmert. Beim Mittagessen sprechen die Mädchen nur noch über Jungs und darüber, wer der süßeste, lustigste oder netteste ist.
Bis zum Ende dieser besagten Sommerferien lief für Megan alles bestens. Sie hatte Freunde, wusste, wie sie sich zu verhalten hatte, und war mutig genug, um den älteren Jungs aus der Achten, die sich auf dem Pausenhof aufspielten, Kontra zu geben. Doch über Nacht war alles auf einmal anders. Ihre Welt stürzte zusammen, und sie fühlte sich ausgeschlossen.
Megan hat sich nie als Mädchen definiert, was sie auch nie sonderlich gestört hat. Doch auf einmal weiß sie nicht genau, wer sie ist und was mit ihr geschieht. Aus der Ferne beobachtet sie, wie ihre Klassenkameradinnen und auch ihre Zwillingsschwester einen Freund nach dem anderen haben, während sie sich immer mehr zurückzieht und sich vollkommen verloren fühlt.
Damals hört sie zum ersten Mal das seltsame Wort Tomboy. Es bezeichnet ein Mädchen, das sich sehr wild oder ungestüm verhält und somit nicht die typisch mädchenhaften Attribute aufweist. Oder eben auch ein junges Mädchen, das sich ein Poster von Michael Jordan an die Wand hängt, das überglücklich ist, wenn es „Jordan 11“-Baskettballschuhe geschenkt bekommt, das niemals sein Sweatshirt von den Cowboys, dem Footballteam aus Dallas, auszieht und die Atlanta Braves unterstützt, die in der Major League Baseball spielen. Jordan, die Cowboys und die Braves sind die Vorbilder dieses jungen Mädchens, das sich zunehmend über den Sport definieren wird. Obwohl Megan im Schulsport nie eine bessere Note als ein B bekommt, was einer Zwei minus im deutschen Notensystem entspricht. In der Schule kämpft sie nicht bis zum Umfallen.
Zum Glück ist Rachael während dieser Zeit an Megans Seite. Das stille, schüchterne und beinahe stumme Mädchen aus der Grundschule hat sich zu einer selbstsicheren, jungen Dame gemausert, die problemlos in Schule und Freizeit zurechtkommt. Megan folgt ihr auf Schritt und Tritt, wie ein Schatten, oder wie diese kleinen Pilotfische, die ständig neben Haien oder Mantarochen herschwimmen. „Ich war wie Nemo [der Held aus dem gleichnamigen Pixar-Film, der 2003 in die Kinos kam, Anm. d. A.], der immer fragt: Und was machen wir heute? Rachael hat mich gerettet“, gesteht sie später, als sie das Trauma jener zwei düsteren Jahre überwunden hat.
Seitdem ist Megan mehrere Male an die Junction School zurückgekehrt, um ihren ehemaligen Lehrkräften Hallo zu sagen oder auch, um einfach nur Schüler zu treffen, wie zum Beispiel Ende August 2011, nach der Weltmeisterschaft in Deutschland.
In der Schulsporthalle, wo noch immer ihre Urkunde als Sportlerin des Schuljahres 1999/2000 hängt, neben der von ihr erzielten Zeit im Shuttle-Run-Test 1998 und den Erfolgen von Rachael im 1-Mile-Run sowie auf 50 Metern, wurde Megan von Gekreische und Jubelrufen empfangen. Sie nahm sich Zeit, schoss drei Elfmeter auf einen jungen Torwart, kickte mit den kleinsten Schülern ein paar Bälle und erinnerte ihr Publikum daran, dass man immer an sich glauben muss. Auch die Lehrer teilten ihre persönlichen Erinnerungen mit. Susan Moreno, Megans ehemalige Englischlehrerin, zeigte einen Text von 1999. Damals hatte Megan geschrieben, eines der wichtigsten Ziele in ihrem Leben sei es, eines Tages für die USA an der Weltmeisterschaft und den Olympischen Spielen teilzunehmen.
In der Tat stammt ihr Traum aus dieser Zeit, genauer gesagt entstand er am 4. Juli 1999, im Stadion von Stanford, Kalifornien, während des Halbfinales der Frauenweltmeisterschaft zwischen den USA und Brasilien. Unter den 73.123 Zuschauern sitzen auch Megan und Rachael. Megans blonde Haare sind am Hinterkopf zusammengebunden, auf ihrer Stirn steht in Rot, Blau und Weiß „USA“, die Wangen zieren zwei amerikanische Sterne, sie trägt ein T-Shirt der WM und lächelt unter der brennenden Sonne fröhlich in die Kamera. Am Tag vor ihrem vierzehnten Geburtstag gewinnen die USA mit 2:0 jene Partie, die Megans Leben für immer verändern wird. Denn an genau diesem Tag wird ihr klar: Amerika interessiert sich für Fußball, die Fans jubeln auch für die Frauennationalmannschaft. Sie begreift, Fußball ist nicht bloß ein Spiel für Kinder oder Mädchen, sondern man kann es zu seinem Beruf machen, wie die professionellen Spielerinnen auf dem Platz, die „99ers“, es getan haben. Megan beschließt: Sie wird den gleichen Weg gehen.
Sechs Tage später, am 10. Juli 1999, im Rose-Bowl-Stadion von Pasadena, holen die Amerikanerinnen den zweiten WM-Titel nach Hause, nach dem von 1991. Sie schlagen China im Elfmeterschießen (0:0, 5:4). Die Jubelgeste von Brandi Chastain geht um die Welt. Nachdem sie im Elfmeterschießen den entscheidenden Treffer erzielt hat, zieht die amerikanische Mittelfeldspielerin ihr Trikot aus und schwenkt es wie eine Flagge. Brandi, im schwarzen Sport-BH, wird von ihren Mitspielerinnen umarmt und bejubelt, 90.000 Menschen feiern den Sieg im Stadion. Vor dem Fernseher zu Hause applaudieren die Rapinoes den Weltmeisterinnen. Die Zwillinge sind große Fans von Chastain, Mia Hamm, Julie Foudy und Tiffeny Milbrett. Doch ihr größtes Vorbild und ihre absolute Lieblingsspielerin ist Kristine Lilly. Das Poster mit der Nummer 13 im Trikot der Nationalmannschaft hängt von da an im Kinderzimmer, gleich neben dem von Michael Jordan.
ELK GROVE
„Wenn wir Vollgas geben, kann uns nichts aufhalten. Wir sind nicht länger zehn Einzelpersonen, sondern eine Mannschaft.“
Diese Äußerung stammt aus dem Jahrbuch 2001/2002 der Foothill High School. Sie steht unter dem Foto einer lächelnden Megan Rapinoe, in einem Pullover mit Querstreifen, mit blonden, fast schulterlangen Haaren. Zwei Jahre zuvor sind