Onkel Ali & Co. - Meine Multikulti-Straße. Jürgen Bertram

Onkel Ali & Co. - Meine Multikulti-Straße - Jürgen Bertram


Скачать книгу
Tochter, immer kränker werde und kaum Überlebenschancen habe. In der Nachbarschaft raune man schon: eine Mutter, die so schwache Kinder zur Welt bringt, taugt wohl nichts. Der Brief schließt mit einem Hilferuf: Komm nach Erzincan! Komm sofort.

      Als der Vater in seiner Heimat eintrifft, ist die kranke Tochter anderthalb Jahre alt – und, wie man ihr später berichtet, »schon halbtot«. Was ihrem Körper so zusetzt, weiß man nicht. In der medizinisch unterversorgten ostanatolischen Provinz hat der sozialdarwinistische Lehrsatz damals eine erschreckende Gültigkeit: Weil du arm bist, musst du früher sterben. Doch der frühere Hirte ersinnt einen Ausweg: eine Behandlung in Deutschland. Also verfügt der Patriarch vor seiner Rückreise: Fetiye kommt mit!

      Den Traum vom eigenen Trecker gibt Hüseyin Yldirim keineswegs auf. Aber nun rückt erst einmal das schwerkranke Mädchen in den Mittelpunkt seiner Gedanken und Aktivitäten. Von einem türkischen Freund weiß er, dass die Bundesbahn in Hamburg dringend Personal für die Reinigung von Gleisen und Waggons sucht, und da es im Stadtteil Eppendorf ein bestens ausgestattetes Universitätskrankenhaus gibt, wechselt er den Arbeitgeber und den Wohnsitz. Im Zentrum der Hansestadt mietet er eine Einzimmer-Behausung. Im UKE, einem der renommiertesten Hospitäler der Bundesrepublik, stellen die Ärzte bei seiner Tochter endlich eine Diagnose: verschleppte Kinderlähmung. Acht, höchstens neun Monate war sie alt, als der erste Schub sie heimsuchte.

      Jeden Tag besucht der Vater das Mädchen im UKE. Im Sommer 1971 kommt auch die Mutter nach Hamburg. Sie verdingt sich zunächst als Hilfskraft in einer Fischfabrik und später in einer Bäckerei. Im Leben der Tochter Fetiye, der in der ostanatolischen Heimat das Schicksal ihrer beiden Geschwister drohte, ist dieser Sommer ein Wendepunkt.

      2 »Das Mädchen gehört aufs Gymnasium«

      Fetiyes Aufstieg

      Wie gut, dass es Fatma gibt. Fatma, benannt nach der jüngsten Tochter des Propheten Mohammed, ist zwanzig Jahre alt und gehört zu den Nachbarn der Familie Yldirim. Da auch sie unter einer Körperbehinderung leidet, die sie ans Haus bindet, hat sie genügend Zeit, sich gegen einen kleinen Lohn um die physisch und psychisch noch immer angeschlagene Fetiye zu kümmern. Deren Eltern, die ja beide arbeiten, nimmt sie damit eine große Last ab.

      Die Existenz der jungen Frau bekommt durch die neue Aufgabe einen Sinn, und Fetiye geht es unter ihren Fittichen von Tag zu Tag besser. In einem Quartier direkt über dem Hamburger Obdachlosenasyl »Pik As« findet sich eine anrührende Schicksalsgemeinschaft, der auch jener kämpferische Pragmatismus innewohnt, den man sich in Überlebensgesellschaften aneignet und ohne den Behinderte ihren Alltag kaum meistern könnten.

      Als Fetiye einen Bruder bekommt, ihre Familie also auf vier Personen anwächst, wird es zu eng in der Einzimmerwohnung. Diesmal ist es zunächst der Hamburger Kinderarzt, der die Initiative ergreift. Er schaltet eine städtische Sozialberaterin ein, die prompt eine größere Wohnung besorgt. »Zweieinhalb Zimmer«, schwärmt Fetiye noch heute, »das war für uns Luxus pur. Traurig war nur, dass wir unsere Fatma zurücklassen mussten.«

      Auf jeden Fall werden sich Fetiyes Eltern so ganz allmählich eines der größten gesellschaftlichen Unterschiede zwischen ihrer alten und ihrer zweiten Heimat bewusst. Im Tale des Euphrat war es ausschließlich der Familienclan, der, wenn auch mehr schlecht als recht, für eine Absicherung sorgte. Im Sozialstaat Deutschland aber kann man sich, ohne sich als Bettler fühlen zu müssen, auch an eine Amtsperson wenden, wenn man Unterstützung benötigt. »Vor allem mein Vater«, erinnert sich unsere Nachbarin, »hat lange gebraucht, um dieses Prinzip zu begreifen. Und dass man seine Söhne und Töchter sogar für wenig Geld in einem Kindergarten unterbringen kann, hat er überhaupt nicht gewusst. Ich glaube, er war lange Zeit auch zu stolz, um staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.«

      Auch Fetiye weiß, dass es nicht nur deutsche, sondern auch aus dem Ausland stammende Familien gibt, die den Sozialstaat durch ihre Raff-und-Schlaff-Mentalität in Gefahr bringen und sich damit unsolidarisch gegenüber den wirklich Bedürftigen verhalten. Aber das Beispiel ihrer eigenen Familie repräsentiert, wie mir mit dieser Materie vertraute Beobachter versichern, eine Mehrheit und nicht, wie man an manchen Stammtischen glaubt, die Ausnahme.

      Statt sie der Obhut von Erzieherinnen anzuvertrauen, also für einige Stunden außer Haus zu geben, sinnt Fetiyes Vater darüber nach, wie seine Tochter und ihr kleiner Bruder am sichersten in der neuen, im vierten Stock gelegenen Wohnung aufgehoben sind, während die Eltern ihrer Arbeit nachgehen. Die Eisenstäbe, die er im Sperrmüll findet, bringt er in so dichten Reihen vor den Fenstern an, dass seine Kinder nicht hindurchschlüpfen können. Die Wohnungstüren verriegelt er. »Als die Sozialarbeiterin das entdeckte«, berichtet Fetiye, »bekam sie einen Schock. Sie sagte: ›Das ist ja wie im Gefängnis.‹ Sie sorgte dann dafür, dass wir endlich in den Kindergarten kamen. Wir wunderten uns, dass es da sogar was zu essen gab.«

      »Und wie war das mit der Schule? Irgendwann mussten Sie und Ihr Bruder ja auch eingeschult werden ...«

      »Ja, ja – das war meinen Eltern durchaus klar. Aber sie wussten nicht, wie man das anstellt. Da haben sie uns einfach Schultüten verpasst und uns zum nächsten Schulgebäude geschickt. Wir sind tatsächlich losmarschiert und haben uns zu den anderen Kindern gestellt. Alle wurden aufgerufen – nur wir nicht. Der Rektor hat gefragt: ›Was wollt ihr denn hier?‹ – ›Lernen‹, habe ich geantwortet. ›Aber ihr seid nicht angemeldet‹, hat der Rektor gesagt und uns weitergeschickt.«

      Wo immer Fetiye und ihr Bruder auch um Einlass bitten – man kann nichts anfangen mit ihnen. Als sie am Ende ihrer kafkaesken Suche keinen Ton mehr herausbringen, weist man ihnen Plätze in einer Sonderschule zu. Allmählich überwinden die beiden ihre Scheu – und es stellt sich heraus, dass sie viel zu intelligent sind für das Untergeschoss des deutschen Bildungswesens. Durch die ständigen Besuche in der Arztpraxis und bei Behörden hat zum Beispiel Fetiye bereits so gut Deutsch gelernt, dass die Sozialberaterin den Eltern rät, das Kind nach den ersten Grundschuljahren auf eine höhere Schule zu schicken.

      Gut, sagt der Vater: Dann geht sie eben auf die Realschule. Die liegt in unmittelbarer Nähe zu unserer Wohnung in der Neustadt. Also hat Fetiye es mit ihrer Gehbehinderung nicht so schwer. Und auch für uns Eltern ist das die günstigste Lösung. Nein, sagt die Sozialberaterin: Das Mädchen gehört aufs Gymnasium. Und ich fahre Fetiye jeden Tag mit meinem Auto dorthin und hole sie nach dem Unterricht wieder ab.

      Als eine deutsche Mitschülerin sie zu sich nach Hause einlädt, empfindet Fetiye das als einen »ganz großen Moment«. Und auch die Überraschung, die sie während des Besuchs erlebt, wird sie nie vergessen. »Da ratterte in der Küche so ein merkwürdiges Ding. Ich fragte: ›Was ist denn das?‹ – ›Eine Waschmaschine‹, antwortete meine Freundin. Zu Hause habe ich das sofort meiner Mutter erzählt. Sie wusch ja die Wäsche der gesamten Familie noch mit der Hand – auch die schietigen Arbeitsklamotten meines Vaters. Irgendwann hatte sie keine Fingernägel mehr. Wir haben uns dann in einem Laden informiert, was eine Waschmaschine alles kann und was sie kostet. Aber mein Vater hat sich zunächst gegen einen Kauf gesträubt, weil er ja ständig an seinen Trecker dachte. Aber am Ende hat er sich doch überreden lassen.«

      »Und das war’s dann endgültig mit dem Trecker?«

      »Keineswegs. Es wurde weiter eisern gespart, kein Pfennig zu viel ausgegeben. Auch ein Telefon kam bei uns nicht ins Haus. Das war viel zu teuer. Wenn man aber mal mit der Tante in der Türkei sprechen wollte, dann lief das so ab: Man ging zum großen Postamt am Hauptbahnhof und meldete ein Gespräch nach Erzincan an, wo es in jeder Straße aber nur ein öffentliches Telefon gab. Meldete sich jemand am anderen Ende der Leitung, dann bat man, die Tante zu informieren, sie möge am nächsten Tag zu einer bestimmten Zeit für einen Anruf parat stehen. Dieses Gespräch verlief dann im Stakkato, in abgehackten Sätzen. Für irgendwelche Plaudereien blieb keine Zeit. Fünf Mark für ein Gespräch waren das absolute Limit. Mehr Geld nahm man gar nicht erst mit.«

      Das Kommunikationszentrum der in Hamburg lebenden Türken ist damals wie heute die Wandelhalle des Hauptbahnhofs. »Wer geheiratet hat, wer gestorben ist ... Was in der Heimat passierte, das erfuhr man in dieser Halle. Es war auch ganz normal, dass man einem Wildfremden tausend Mark in die Hand drückte und ihn bat, das Geld irgendwo in der Türkei


Скачать книгу