Onkel Ali & Co. - Meine Multikulti-Straße. Jürgen Bertram

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Bei dem Schüler Beritan Öylü, dem Sohn der Obst- und Gemüsehändler Fetiye und Önder, schlägt neunmal eine »Zwei« und zweimal eine »Eins« zu Buche.

      »In den Gruppenarbeitsphasen«, so heißt es in einem Kommentar des Klassenlehrers, »bringt er eigene Ideen ein und trägt seine Vorschläge verständlich und interessant vor.« Und: »Durch gezielte Antworten trägt er zur Lösung eines Problems bei.« In einem Zusatzbogen wird Beritan attestiert, sich »in besonderem Maße an den Regeln der Gemeinschaft zu orientieren«. Die verheißungsvolle Prognose: »Aufgrund der bisher gezeigten Lern- und Leistungsentwicklung und den überfachlichen Kompetenzen, ist Ihr Sohn geeignet, das Gymnasium zu besuchen.«

      Aber welches Gymnasium? »Ist doch klar: das katholische«, sagt Fetiye, die Mutter.

      Katholische Grundschule, katholisches Gymnasium ... Ich frage Fetiye, warum islamische Eheleute ihr Kind ausgerechnet der Obhut kirchlicher Schulen anvertrauen.

      »Weil dort, im Gegensatz zu vielen anderen Schulen, konsequent Werte vermittelt werden – Werte wie die Hilfsbereitschaft zum Beispiel, die ich während meiner Krankheit in christlichen Institutionen erfahren habe. Und außerdem genießt dieses Gymnasium wegen seines hohen Leistungsanspruchs einen hervorragenden Ruf.«

      »In Beritans Zeugnis fällt auf, dass er im Fach ›Herkunftssprachlicher Unterricht: türkisch‹ die Höchstnote erzielte. Ihr Sohn ist in der Bundesrepublik geboren, und sein bester Freund ist das, was man einen echten Hamburger Jungen nennt. Warum dann noch die zusätzliche Fixierung auf die türkische Sprache?«

      »Wir wollen, dass er in beiden Kulturen zu Hause ist. Wenn das gelingt, ist das doch das Beste, was einem Kind passieren kann. Aber auf gar keinen Fall darf man, wenn man in Deutschland lebt, dessen Sprache und Kultur vernachlässigen.«

      »Kennen Sie Familien, die gegen diesen Grundsatz verstoßen?«

      »Oh, ja. Und einer der wichtigsten Gründe dafür, dass sie so schlecht Deutsch sprechen, liegt im Fernsehkonsum. Seit man in der Bundesrepublik türkische Sender empfangen kann, hocken viele Familien, wann immer sie können, vor der Mattscheibe und sehen sich türkische Trashserien an. Ich kenne Kinder, die sprechen schon genauso wie so wie Stars dieser Programme.«

      Der hervorragende Ruf des Sankt-Ansgar-Gymnasiums löst in Hamburg jedes Jahr einen Ansturm an Bewerbungen aus. Hat der Sohn einer sich zu einem Zweig des Islam bekennenden Familie angesichts einer solchen Konkurrenz überhaupt eine Chance? Mit der persönlichen Vorstellung von Mutter und Kind beginnt am Nachmittag des 25. Januar 2011 das Drama des Werbens und des Wartens.

      Dienstag, 25. Januar, abends. Auf der von Flutlicht beschienenen Sportanlage des Eimsbütteler Turnverbandes (ETV) trifft sich die E-Jugend zum Fußballtraining. Ich bin dort mit Fetiye und ihrem Sohn, dem Stürmer Beritan, verabredet.

      Da sich die beiden wegen ihrer Präsentation im Gymnasium verspäten, sehe ich mich auf dem Gelände des Hamburger Traditionsvereins erst einmal nach Symptomen multikultureller Einflüsse um. Bereits im Schaukasten am Eingang, wo die Werbung von Sponsoren die Ankündigung der nächsten Spiele umrahmt, entdecke ich welche. Die Firma »Adi shakti fashion« bietet in unmittelbarer Nachbarschaft mit bodenständigen deutschen Handwerksmeistern »Mode für Yoga, Wellness und Freizeit« an. Das asiatisch orientierte Unternehmen »Aurasya« wirbt für »diverse Öle aus aller Welt«.

      Die in Eigenarbeit gezimmerte Klubhütte heißt »Zum Wilden Sizilianer«. Francesco, der Wirt, verbringt, wie ich den Gesprächen an der Theke entnehme, fast jede freie Stunde in seinem Schrebergarten am Rande einer Autobahn. Sollte die Stadt ihren Plan wahr machen, das Refugium einer neuen Trasse zu opfern, will er sich mit seinen deutschen Nachbarn zusammentun, um dagegen zu protestieren.

      »Den Ball eng führen!« – »Dranbleiben!« – »Nicht von der Strecke abkommen!« Von den elf Jungen, die auf das Kommando ihres Trainers Pattrick Dietz auf dem mit rotweißen Plastikhütchen gespickten Kunstrasen Slalom laufen, stammen vier aus der Türkei. Einer von ihnen ist Beritan, der von einer Profikarriere beim Bundesligaverein HSV träumt wie einst sein Großvater von einem Trecker und seine Eltern vom eigenen Laden. Einen »schnellen Antritt«, »Laufstärke« und »viel Herz« bescheinigt ihm sein Übungsleiter, ein Abiturient, der in der A-Jugend des ETV spielt.

      »Ist es schwer für Sie«, frage ich den jungen Mann zwischen zwei Trainingseinheiten, »sich auf die türkische Mentalität einzustellen?«

      »Überhaupt nicht. Der Vater meiner Freundin ist Türke. Und auf einer Reise nach Istanbul hat sie mir die türkische Kultur nahe gebracht. Auch mit einer meiner Jugendmannschaften war ich schon in der Türkei. Deutsche und Türken – das ist bei uns eine Einheit.«

      »Es gibt wirklich keinerlei Unterschiede?«

      »Doch. Bei den türkischen Spielern in meinem Team gibt es gewisse Unterschiede. Ich erkenne sofort, wer von ihnen in einem Haushalt mit einem Macho-Vater aufwächst. Die hauen ganz anders dazwischen als ihre Mitspieler.«

      »Und Beritan?«

      »Der ist immer höflich und freundlich. Ein ganz lieber Junge ist das!«

      Passt die Violine, die ihm seine Eltern schenkten, also besser zu ihm, als der vom Schnee durchweichte Lederball, den er, das Gesicht gerötet von Kälte und Anstrengung, gerade seinem Gegner abgrätscht? Fetiye, seiner Mutter, kann ich diese, dem rauen Ambiente eines Trainingsgeländes angemessene Frage nicht stellen. Sie ist noch immer nicht erschienen. Beren, ihre Tochter, klärt mich auf. Ihre Mutter suche seit einer halben Stunde einen Parkplatz. Deswegen verspäte sie sich. Nur deswegen. Wirklich.

      Mir ist klar, was Fetiye, unserer aus Ostanatolien stammenden Nachbarin, in diesem Moment durch den Kopf geht: Die Deutschen gelten als die pünktlichsten Menschen der Welt. Wenn wir von ihnen anerkannt werden wollen, müssen wir Türken besonders pünktlich sein. Und wenn wir es mal nicht sind, bedarf es einer plausiblen Begründung.

      Nicht unangenehm auffallen, sich anpassen, das Vorurteil durch die Praxis widerlegen – es ist nicht das erste Mal, dass ich bei einer beruflichen Begegnung mit Bürgern türkischer Herkunft auf diese Haltung stoße. Als ich in den siebziger Jahren mit einem TV-Team des Norddeutschen Rundfunks ein niedersächsisches Dorf porträtiere, in dem bereits mehr Türken als Deutsche leben, lassen uns die deutschstämmigen Bewohner häufig warten, während uns die Gastarbeiter mit ihrer Überpünktlichkeit beeindrucken. Das gilt auch für den Zustand ihrer Wohnungen, den Türken bis heute gern mit einem Begriff bezeichnen, den sie der italienischen Sprache entliehen: picobello.

      Natürlich kann man aus solchen Beobachtungen keine repräsentativen Schlussfolgerungen ziehen. Doch belegen sie einmal mehr, in welchem Maße sich die Realität von der im Unterbewusstsein gespeicherten Erwartung unterscheiden kann.

      Fetiye sucht noch immer einen Parkplatz, ihr Sohn, der ihr mit seiner Schwester Beren vorauseilte, sprintet im Trikot seines Lieblingsvereins HSV über den Trainingsplatz: Es bleibt mir in diesem Recherchen-Vakuum nichts anderes übrig, als mich mit Beren zu unterhalten, die mit sichtlicher Erleichterung registriert, dass ich Verständnis habe für die Verspätung ihrer Mutter. Was, um Himmels willen, soll man ein gerade mal sechsjähriges, in der Abendkälte bibberndes türkisches Mädchen fragen? Wie es ihm in Deutschland gefällt? Was es vergangenen Sommer bei seinem Besuch im Osten Anatoliens empfunden hat? Nicht kindgerecht genug, sage ich mir – und stelle in meiner Verlegenheit eine Frage, die so linkisch klingt, dass ich erschrecke: »Hast Du schon einen Berufswunsch?«

      Beren erlöst mich, indem sie mit fester Stimme antwortet: »Ja.«

      »Und was willst du werden?«

      »Bundesliga-Schiedsrichterin.«

      »Wie kommst du denn da drauf?«

      »Neulich hat Beritan mit anderen Jungen auf der Wiese am Weiher Fußball gespielt. Weil sie keinen Schiedsrichter hatten, haben sie mich gefragt, ob ich das machen will. Na, ja: Und als das Spiel aus war, haben sie gesagt: Du warst gerecht.«

      »Hattest du denn eine Pfeife?«

      »Nein. Wenn mir etwas nicht gefiel, dann habe ich Laute von mir gegeben – bei Abseits: ›Huuuu‹,


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