Onkel Ali & Co. - Meine Multikulti-Straße. Jürgen Bertram

Onkel Ali & Co. - Meine Multikulti-Straße - Jürgen Bertram


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meine Walking-Übung absolviere, stoppt Fetiye, unsere Nachbarin von der Hausnummer 10, ihren VW-Bus neben mir. Sie kurbelt das Fenster herunter und sagt: »Ich habe einen Anschlag auf Sie vor.«

      »Nur zu.«

      »Ich komme gerade mit Beritan vom Konditionscheck zurück. Der Trainer beim HSV meint, was die Ausdauer betrifft, müsse er noch einiges zulegen. Sie walken doch fast jeden Tag. Hätten Sie etwas dagegen, wenn er in Zukunft neben Ihnen herläuft?«

      Ich sage zu. Schließlich war der HSV während meiner Kindheit auch mein Lieblingsverein.

      5 »Mein Mund stand zwei Meter weit auf«

      Arif, der Einsame

      Es lärmt tagsüber fast ununterbrochen, wenn, wie bei uns im Haus Gustav-Falke-Straße Nummer 4, Handwerker die gesamte Fassade renovieren. Mal gibt der Bohrer den durch Mark und Bein gehenden Misston an, mal die Motorsäge, mal der Hammer. Aber das Scheppern, das an einem Winternachmittag die ohnehin schon genervten Bewohner aufschreckt, übertrifft diesen Pegel noch.

      Ich reiße die Tür zum Flur auf und blicke auf einen Knaben, der völlig perplex inmitten einer mit Scherben übersäten Pfütze steht. Statt die zwei Kisten Mineralwasser, die ich telefonisch im türkischen Lebensmittelladen an der Ecke bestellt habe, nacheinander in unsere Speisekammer zu schleppen, wollte er sie offenbar mit einem Male wuppen – eine, wie man unschwer erkennen kann, folgenschwere Selbstüberschätzung.

      Ich denke: Wenn der Besitzer des kleinen Geschäftes in unserer Straße von dem Malheur erfährt, zieht er seinem minderjährigen Gehilfen den Schaden vom Lohn ab, und womöglich, man weiß ja nie, fällt die Strafe noch härter aus. Also biete ich dem Knaben an, die Fracht trotz des Bruchs zu akzeptieren und den vollen Preis dafür zu zahlen. Und obwohl sie in seinen Ohren wie Hohn klingen könnte, tröste ich ihn mit einer deutschen Alltagsweisheit: »Scherben bringen Glück«.

      Der Junge lehnt mein Angebot ab und kehrt kurz darauf mit zwei neuen Kisten zurück. Wie sein Chef reagiert habe, frage ich ihn. »Genau so wie Sie. Mein Vater hat gesagt: ›Scherben bringen Glück‹.« In diesem Moment weiß ich, dass der türkische Lebensmittelladen in meiner Straße ein Familienbetrieb ist und dass es sich lohnt, mit dem nachsichtigen Patriarchen mal näher ins Gespräch zu kommen.

      Auch Arif Sarikaya, Jahrgang 1966, stammt aus dem Osten Anatoliens. Das 250-Seelen-Dorf Sütpinar, in dem er aufwächst, liegt nur wenige Kilometer von der Bezirkshauptstadt Erzincan entfernt, der Heimat seiner Verwandten Fetiye und Önder. Es kommt häufig vor, dass sich, nachdem es ein Onkel oder ein Schwager in Deutschland zu einem gewissen Wohlstand brachte, ganze Sippen aufmachen in Richtung Norden, um sich auch dort wieder zu Familienclans zusammenzuschließen.

      Nur mühsam kann Arif an manchen Stellen die Tränen unterdrücken, als er mir in seinem Geschäft die Geschichte seiner Kindheit erzählt. Als er geboren wird, verdingt sich sein Vater in Istanbul als Hilfsarbeiter. Arif ist fünf, als sein Vater einem seiner Brüder in die Bundesrepublik folgt. In Hamburg heuert er bei der Bundesbahn an und spezialisiert sich auf das Auswechseln von Batterien. Ein gewaltiger Aufstieg ist das für einen Mann, der im Hafen der türkischen Metropole Kohlesäcke von den Schiffen hievte.

      Unter den Kindern im fernen Sütpinar herrscht in der Zeit des großen Exodus helle Aufregung, wenn sich am anatolischen Himmel mal eine der kleinen Sportmaschinen zeigt. Sie versammeln sich dann, wie Arif aus diesen Tagen berichtet, auf dem Dorfplatz und beten: »Ucak, ucak babami bana getir!« – »Bitte, bitte, Flugzeug«, heißt das auf Deutsch, »bring uns unsere Väter zurück.«

      Einige Male kommt der Vater tatsächlich zurück – aber nur auf Besuch. »Ja, ich habe mich nach ihm gesehnt«, erinnert sich Arif. »Aber wenn er dann plötzlich da war, dann habe ich mich vor ihm versteckt. Ich kannte meinen Vater ja nicht. Mein Opa war mein Vater.«

      Erst die Tafel »Milkana«, die der fremde Mann aus Hamburg mitbrachte, lockt seinen Sohn etwas aus der Reserve. »Es war plötzlich ein ganz anderer Geruch im Raum, wenn mein Vater ihn betrat. Nach Ausland roch es, nach Stadt. Ich mochte diesen Geruch. Aber wenn ich mich daran gewöhnt hatte, reiste mein Vater auch schon wieder ab.«

      »Ihr habt euch als Kinder«, frage ich Arif, »nach euren Vätern gesehnt. Hattet ihr noch eine andere Sehnsucht?«

      »Ja. Wir alle wollten mal ein Dolmusch besitzen. So nennt man in der Türkei die Sammeltaxis. Wirklich: Alle wollten das. Und wenn die Schule aus war, dann haben wir Dolmusch fahren gespielt.«

      »Und wie ging das?«

      »Wir sind auf einen Baum geklettert. Und einer hat sich auf dem dicksten Ast ganz nach vorn gesetzt. Das war der Fahrer. Meistens war ich das. Die Fahrgäste haben sich auf die dünneren Äste verteilt. Bezahlt haben sie mit Blättern. Die großen Blätter waren die Scheine. Die kleinen Blätter waren die Münzen. Na, ja: dann habe ich mit dem Mund ›Brumm, brumm‹ gemacht und schon ging es los: Erzincan ... Istanbul ...«

      »... München ... Hamburg ...?«

      »Nein, nein. In Istanbul endete unsere Reise. Deutschland war für uns unvorstellbar weit entfernt.«

      Doch Mitte 1975 tritt das Unvorstellbare ein. Arifs Mutter folgt ihrem Mann nach Hamburg, und ihren Sohn, der gerade seinen neunten Geburtstag feierte, nimmt sie mit. Die Familie lebt in einer kleinen Wohnung im Arbeiterviertel Wilhelmsburg. Als Arif den gleichaltrigen Sohn der deutschen Nachbarn besucht, mag er nicht glauben, was er sieht. »Das Kinderzimmer war krachend voll mit Spielsachen. Ich fühlte mich wie im Wunderland. Autos, die sich auf Knopfdruck bewegten, Teddybären, die mit dem Kopf wackelten ... das kannte ich doch nicht von unserem Dorf. Mein Mund stand zwei Meter weit auf.«

      »Haben Sie den Sohn Ihrer Nachbarn beneidet?«

      »Für mich war das eher ein Schock. Beneidet habe ich ihn jedenfalls nicht. Wenn wir in Anatolien gespielt haben, mussten wir all unsere Phantasie aufbieten. Schon über ein paar Steine waren wir froh. Ich glaube, die deutschen Kinder büßen beim Spielen ihre Phantasie ein.«

      So fremd bleibt ihm das Leben in der großen Stadt an der Elbe, dass sich Arif nur auf die Straße traut, wenn sein Vater ihn an die Hand nimmt. Auch die Hausfrauen, die den niedlichen Türkenjungen im Kaufhaus liebevoll über den Wuschelkopf streichen und ihm bisweilen ein paar Murmeln oder Süßigkeiten zustecken, können ihm die Ängste nicht nehmen. Also ist er nicht unglücklich, als seine Mutter, die nur ein Touristenvisum besitzt, mit ihm erst einmal zurückkehrt nach Ostanatolien. Was er nicht ahnt: Nun ist er in seinem Dorf ein Fremder.

      Die anderen Kinder lachen ihn aus, als Arif seine alte Schulklasse betritt. Der Grund ist sein üppiger Haarwuchs. »Vor der Einschulung wurden die Jungen in meinem Dorf erstmal kahlgeschoren – wegen der Läuse. Haare auf dem Kopf – so etwas kannten meine Mitschüler nicht.«

      Aus der Not, als Außenseiter dazustehen, macht Arif am Ende eine Tugend. »Eines Tages bat mich der Lehrer, vor die Klasse zu treten und zu erzählen, was ich in Deutschland erlebt habe. Da ich in Hamburg ja nur ganz selten draußen war, machte ich Figuren aus den Zeichentrickfilmen nach, die ich im Fernsehen gesehen hatte – Donald Duck zum Beispiel.«

      Wieder biegen sich die Schüler vor Lachen – aber diesmal, weil sie der Rückkehrer so perfekt unterhält. Arif, den Clown, finden sie toll.

      6 »Du musst dem Kunden immer in die Augen sehen!«

      Arifs Kampf

      Und wie ging es weiter in dem Dorf Sütpinar im Osten Anatoliens? – Ich muss meine Neugier für einige Minuten zügeln, weil eine Schar von Jungen und Mädchen, von denen mindestens die Hälfte aus Familien mit »Migrationshintergrund« stammt, den kleinen Laden an der Gustav-Falke-Straße belagert. Sie kommen von Schulen, die dieses Areal prägen, und decken sich mit dem Proviant für die große Pause ein. »Onkel Ali« nennen sie, eher liebvoll als nivellierend oder gar diskriminierend, den Patron hinter dem Tresen. Damit kennzeichnen sie auch eine ökonomische Zäsur, auf die man allenthalben in der Bundesrepublik stößt: Der Onkel-Ali-Laden hat den Tante-Emma-Laden abgelöst.

      Was den Wandel in diesem Geschäft


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