Onkel Ali & Co. - Meine Multikulti-Straße. Jürgen Bertram

Onkel Ali & Co. - Meine Multikulti-Straße - Jürgen Bertram


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mit Mayo?«

      »Einsachtzig, mein Jung.«

      »Mensch, ich hab nur einsfünfzig.«

      »Na, gut – einsfünfzig.«

      Eine ältere Dame, die der Besitzer mit »Gisela, mein Schatz!« begrüßt, betritt, ihren Rollator voraus, das Geschäft. Die zweite Hüftoperation, klagt sie, habe sie nun schon hinter sich. In vierzehn Tagen, habe der Arzt gesagt, sei alles wieder gut. Nichts sei gut – vor allem bei dem vielen Eis und Schnee in diesem Winter nicht. Bald komme der Frühling mit seinem Grün, tröstet sie der Kundenversteher von der Gustav-Falke-Straße.

      Grün – das ist das Stichwort, auf das sich der von immer mehr Schülern frequentierte Onkel-Ali-Laden für einen seligen Moment in eine Musical-Bühne verwandelt. »Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blü-hen«, singt, den Ton jederzeit kontrollierend, die vom Schicksal geplagte Rentnerin. Und dann erzählt sie – zum wievielten Male eigentlich? – die Geschichte von ihrer gescheiterten Ehe mit einem Kripobeamten, einem »Schlipsträger«, der viel zu »etepete« gewesen sei und sie vor allen Leuten korrigiert habe, wenn sie nach dem dritten Glas Wein vom Hochdeutsch in den Slang verfallen sei. Die zwei Jahre mit dem Italiener, die der Scheidung folgten, »ach, war das eine schöne Zeit«. Nun, meint sie, habe ein Galan aus dem Iran ein Auge auf sie geworfen. »Guck ihn dir genau an«, rät Arif.

      Die Kundin verlässt das Geschäft mit leeren Händen. Der Sohn des Besitzers, dem vor wenigen Tagen bei uns im Flur eine Kiste mit Mineralwasser entglitt, wird ihr die Ware ins Haus liefern – ein Service, den die Supermärkte in der Nähe ebenso wenig bieten wie den ganz persönlichen Plausch. Und: Arif öffnet seinen Laden bereits um sechs Uhr morgens, also weitaus früher als die in großen Ketten organisierte Konkurrenz. Um 18.30 Uhr ist Feierabend.

      Eine andere ältere, aus Polen zugewanderte Frau wendet sich an den Besitzer. Sie komme gerade aus dem Krankenhaus zurück und habe erfahren, dass der Krebs, unter dem ihre Mutter leide, Metastasen streue. »Sie wird nicht mehr lange leben, aber sie hat Gott im Herzen«, sagt sie. »Wann sie stirbt«, besänftigt der Moslem die Katholikin, »das weiß nur der da oben.« Dabei zeigt er, natürlich ungewollt, auf den »Jägermeister«-Hirsch an der Wand.

      Nicht in seinem Heimatdorf Sütpinar geht es damals weiter mit Arif, sondern in Hamburg. Dorthin kehrt er schon 1976 mit seiner Mutter zurück, die nun statt eines Touristenvisums eine Aufenthaltsgenehmigung besitzt. An einem Freitag treffen die beiden in der Hansestadt ein. Schon am Montag hockt der Elfjährige, ohne mehr als ein paar Wörter Deutsch zu sprechen, auf seinem Stuhl in der vierten Grundschulklasse.

      Wurde er in seinem ostanatolischen Dorf wegen seiner langen Haare ausgelacht, so stößt Arif in Hamburg wegen seines Kauderwelschs auf Heiterkeit. »Und irgendwann habe ich überhaupt nichts mehr gesagt.« Doch er trifft auch auf Verständnis und Hilfsbereitschaft. »Eine Mitschülerin nahm mich irgendwann mit zu sich nach Hause mit und stellte mich ihrer Mutter vor. Und diese Frau hat mir in mühevoller Kleinarbeit die deutsche Sprache nähergebracht. Mit den Begriffen für Obst und Gemüse fingen wir an: ›Das ist ein Apfel, das eine Birne, das eine Mohrrübe, das eine Kartoffel‹. Am schwierigsten war für mich der Satzbau. Es hat lange gedauert, bis ich begriff, dass es heißt: ›Wir gehen morgen in die Moschee‹ und nicht: ›Wir morgen Moschee gehen.‹«

      Arif bringt es bis zur achten Klasse – und das bedeutet: Er hat keinen Abschluss. Da er aber schulpflichtig bleibt, verweist man ihn an eine berufsfördernde Gewerbeschule. Im Herzen von Sankt Pauli liegt sie, dem in aller Welt bekannten Rotlichtviertel. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen, die sich dort seinerzeit im Zuschneiden von Holz und Metall oder im Anstreichen üben, haben einen ähnlichen Hintergrund wie Arif, für den es von nun an bergauf geht – nicht steil, aber ständig. Es ist eine Karriere der kleinen Schritte.

      Der technisch begabte Türke hält dem Leistungsdruck stand und »um meinen Eltern nicht auf der Tasche zu liegen«, verdingt er sich nach dem Schulschluss auf einem Wochenmarkt. Zunächst fegt er nach Feierabend den Unrat zusammen und hilft beim Abbau der Stände, aber schon bald darf er sich auch als Verkäufer erproben. Dabei folgt er intuitiv einem psychologischen Gebot, das er bis heute beherzigt: »Du musst dem Kunden immer in die Augen sehen!«

      Beschränkte sich sein Lohn am Anfang auf Naturalien (»Krabben vom Fischmann, Bienenstich vom Bäcker«), so hält er bald auch die erste Münze in seinen Händen. »Ein Außenstehender kann sich nicht vorstellen, wie glücklich ich über dieses Fünfzigpfennigstück war. Ich habe es ganz fest umklammert, bin nach Hause gerannt und habe es meiner Mutter auf den Tisch gelegt. ›Mamma, Mamma‹, habe ich gesagt: ›Das ist mein erster Lohn.‹«

      Als die Stadt Hamburg den Service des »Sperrmülls« einführt, der vor allem Bürgern aus den besseren Gegenden die Möglichkeit einräumt, sich ihres überflüssigen Guts am Straßenrand zu entledigen, eröffnet sich für den Fachschüler ein neues Betätigungsfeld. Er sucht sich so lange Pedale, Lenker, Sattel und Ketten zusammen, bis er daraus neue Fahrräder zusammenbauen kann. Seine wichtigsten Kunden sind jene Marktbeschicker, für die er jahrelang die Drecksarbeit erledigte.

      Arif schafft den Abschluss an der berufsfördernden Schule und legt damit endlich den Grundstein für eine solide Ausbildung. Er besucht eine staatlich geförderte Elektroschule, absolviert eine dreieinhalbjährige Ausbildung als Kfz-Mechaniker und fängt in einer kleinen Autowerkstatt als Geselle an.

      Der Inhaber des Betriebes erlaubt es seinen Mitarbeitern, die Werkstatt am Wochenende für ihre privaten Zwecke zu nutzen. Es ist ein Angebot, von dem der türkische Kollege weidlich Gebrauch macht. Für 300 Mark erwirbt er zunächst von einem Bekannten ein Auto, dessen Merkmale er bis heute so detailgenau auswendig kennt wie die Bier- und Zigarettenmarken in seinem Geschäft: Opel Commodore, B-Coupé – 2,8-Liter-Maschine ...

      In Dutzenden von Sonntagsschichten motzt Arif die Klapperkiste dermaßen auf, dass sie am Ende aussieht »wie eine James-Bond-Limousine«. Ganz in Weiß glitzern die Karosserie, die Felgen, das Armaturenbrett, die Lederbezüge. »Stolz bis unter die Haarspitzen« gleitet er, einen Arm lässig aus dem Fenster gelehnt, die Reeperbahn, Hamburgs Amüsiermeile, auf und ab. Als er das Ritual auf den Landstraßen rund um Hamburg wiederholt, gibt er richtig Gas.

      Das eigene Auto – in dem Dorf Sütpinar war es noch ein Traum, dem man sich ganz vorn auf dem Ast hingab. Auf den norddeutschen Pisten nimmt er, röhrend und rasend, Gestalt an, die Gestalt des Traumautos. Und die Euphorie darüber gebärdet sich so unbändig, dass sie, buchstäblich, nicht zu bremsen ist. »Ich sah nur noch die Straße, die vorüberfliegenden Felder und Bäume – und im Rückspiegel: mich.«

      Auch aus solchen Erlebnissen speist sich das Selbstbewusstsein, aus dem wiederum jene für arrivierte Türken typische Ironie wächst, mit der man vor allem in Amtsstuben auch mal anecken kann. Als Arif nach zehn Jahren Warterei die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen wird, fragt er den verdatterten Beamten: »Darf ich meine türkischen Landsleute jetzt ›Ausländer‹ nennen?« Einen Arzt, bei dem er sich einem Gesundheitstest unterzieht, begrüßte er mit »Na, Herr Kollege« ... Der Grund: Sowohl Arif als auch der Doktor tragen einen weißen Dienstkittel.

      In der Zeit danach greifen die in der dörflichen Tradition verankerten Mechanismen des türkischen Clans. Es ist eine Konstellation, die, wie unser Beispiel belegt, die Integration keineswegs ausschließt. Die Eltern, ihr Sohn Arif und dessen älterer, ebenfalls in Hamburg lebender Bruder legen ihre Ersparnisse zusammen und erwerben ein kleines Haus, in das die komplette Familie zieht. 1990 heiratet Arif seine Freundin, die aus dem gleichen Ort stammt wie er. Ein Jahr später kommt der Sohn Dogocan zur Welt.

      Arifs Vater kündigt bei der Bundesbahn und wechselt als Hausarbeiter zum Wirtschaftsgymnasium im Stadtteil Eimsbüttel. Sein Sohn legt bei der Schilderung dieser Vita großen Wert darauf, dass der neue Job mit einem Titel verbunden ist: »Stellvertretender Hausmeister«.

      Auf jeden Fall macht der Vater im Schulbetrieb eine folgenschwere Beobachtung: Es gibt keine Kantine. Sein umtriebiger Sohn erkennt in der Versorgungslücke sofort die Marktlücke und bietet den Schülern fünf Jahre lang Kaffee, Tee, Süßigkeiten und Mettbrötchen an. »Das war da jeden Tag proppenvoll. Nach Feierabend habe ich dann noch bei einem Großhandel als Kassierer


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