Onkel Ali & Co. - Meine Multikulti-Straße. Jürgen Bertram

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und der Bruder zieht aufs Sofa um. Da die Mutter auch am Wochenende in ihrer Bäckerei arbeitet und der Vater bei der Bahn keine Sonderschicht auslässt, brauchen die Yldirims dringend jemanden, der ihren Alltag managt. Der Kinderarzt, wegen seiner medizinischen Fähigkeiten und seiner außerdienstlichen Fürsorge eine Respektsperson bei den Yldirims, ernennt Fetiye zum Boss. Sie füllt die Anträge aus, kümmert sich um ihre Geschwister, disponiert die Essensvorräte.

      »Hat sich Ihr Vater, der ja aus der tiefen anatolischen Provinz stammt, gegen diesen Rollentausch gewehrt?«

      »Nein, überhaupt nicht. Unsere Familie gehört der islamischen Reformgemeinde der Alewiten an. Und zu deren Zielen gehört die Förderung der Frauen. Auch die Bildung spielt bei den Alewiten eine zentrale Rolle.«

      »Aber Ihre Mutter konnte doch, als sie die Türkei verließ, weder lesen noch schreiben ...«

      »Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die Familien im bitterarmen Osten Anatoliens viel größer sind als in Deutschland. Wenn man zehn Kinder hat, kann man meist nur ein Kind gezielt fördern. Meine Tante zum Beispiel hatte das Glück, mit Büchern aufzuwachsen. Aber natürlich sagten viele Männer im Dorf zu meinem Opa: ›Du wirst schon sehen, was du davon hast, das Mädchen etwas lernen zu lassen‹«.

      Zwei neue Operationen werfen Fetiye, die erst mit sechs gehen lernte und noch immer Schwierigkeiten beim Treppensteigen hat, körperlich und seelisch und damit auch schulisch zurück. Wenn ihre Mutter sie im Krankenhaus besuchen will, verläuft sie sich ständig. »Sie kannte ja nur den kurzen Weg von unserer Wohnung bis zu ihrer Bäckerei. Aber dann hat sie ein Fahrer des Krankenhauses einmal in der Woche abgeholt. Sie blieb dann drei, vier Stunden und wurde anschließend wieder zurückgebracht. Es war ein christliches Krankenhaus. Auf diese positive Erfahrung ist wohl mein Faible für die Kirche zurückzuführen.«

      Ende der siebziger Jahre, eine Dekade nach seiner Ankunft in Mölln, erfüllt sich für Fetiyes Vater endlich der Lebenstraum. Er hat nun soviel Geld beisammen, dass er sich bei einem Fachhändler vor den Toren Hamburgs einen Trecker kaufen kann. Um die Frachtkosten so gering wie möglich zu halten, schließt er sich mit einigen Landsleuten zusammen, die ebenfalls einen Traktor erworben haben. Per Sammelfracht werden die Gefährte auf eine weite Reise in die türkische Provinz geschickt. Hüseyin Yldirims Trecker erhält einen Ehrenplatz auf dem Grundstück, das sich die Familie mit den Ersparnissen ihrer in Deutschland arbeitenden Söhne und Töchter anschaffte.

      Nur ein paar Jahre später erwirbt der ehemalige Hirte ein Fahrzeug, das seinen Stolz festigt. Knallrot, also nicht zu übersehen, ist der nagelneue VW-Golf, den er in bar bezahlt. »Wir gingen zur Bank«, erinnert sich seine Tochter, »und holten die 18000 Mark ab. Zu Hause zählten wir nach – und siehe da: Es waren 20000. Wir zählte und zählten. Es blieb bei 20000. ›Zieh dich wieder an‹, sagte mein Vater, ›wir bringen die 2000 Mark, die man uns zuviel ausgezahlt hat, zurück.‹ Ja, und da stand ich, das kleine Türkenmädchen, am Schalter und sagte zu dem Kassierer: ›Sie haben einen Fehler gemacht ...‹ Als ich dann die zwanzig Hundertmarkscheine hinblätterte, wusste der Mann immer noch nicht, wie ihm geschah.«

      1992, ein Jahr nach ihrer Einbürgerung in Deutschland, macht Fetiye an der Hamburger Klosterschule ihr Abitur. »Ohne die Unterstützung durch ganz tolle Pädagogen, die auf meine Behinderung Rücksicht nahmen, hätte ich das nicht geschafft. Meine Lehrer für Latein und Mathematik haben manchmal Sonderschichten für mich eingelegt. Und in der Nähe des Hauptbahnhofs existierte ein Zentrum, in dem Studenten Kindern mit nichtdeutschen Wurzeln kostenlos Nachhilfeunterricht gaben.«

      Im selben Jahr reist Fetiye in ihre ostanatolische Heimat und trifft dort Önder wieder, einen Spielkameraden aus ihren Kindertagen. Es ist eine schicksalhafte Begegnung.

      3 »Ich liebe meinen Beruf«

      Fetiye und Önder

      Verliebt, verlobt ... aber auch: verheiratet? Als Fetiye und Önder verkünden, jene Gemeinschaft anzustreben, die man den Bund fürs Leben nennt, kommt plötzlich Skepsis auf im ostanatolischen Clan: Passen die 18 Jahre alte Abiturientin aus Hamburg und ihr zwei Jahre älterer Jugendfreund, der seine Heimat nie verließ, so die heiß diskutierte Frage, denn überhaupt zusammen?

      Ginge es nach dem in Deutschland gängigen und auch nicht gänzlich unbegründeten Klischee, müsste Fetiyes Vater sagen: Dein Bräutigam hat eine gute schulische Ausbildung und als Besitzer einer kleinen Lederfabrik eine vielversprechende berufliche Zukunft. Also: nimm ihn! In Wahrheit aber sagt er: Als türkischer Mann wird er dich unterdrücken, an den Herd binden und die Unabhängigkeit, die du dir mühsam erkämpft hast, als Bedrohung empfinden. Also: lass es.

      Es siegt – welch eine seltene Fügung – ein Bündnis aus Liebe, Pragmatismus und Einsicht. Fetiye und Önder lassen sich von der Ehe nicht abbringen, heiraten aber, aus Verbundenheit mit ihrer Heimat und im Einklang mit den traditionellen Bedürfnissen ihrer Verwandtschaft, in dem Städtchen Erzincan. Nachdem die auch von einem üppigen Mahl gespeiste Euphorie verklungen ist, analysiert der Bräutigam die Perspektive. »Fetiye«, erinnert er sich, »konnte ja kaum noch Türkisch. Und ich bekam mit, dass sie sich nicht zu Hause fühlte in dem Ort, in dem sie geboren wurde. Ich wusste, dass ich es in Deutschland schwer haben würde, aber für Fetiye wäre es unmöglich gewesen, sich in Erzincan zurechtzufinden.«

      Das liegt auch an den archaischen Vorurteilen, die Fetiye bei ihrem Besuch nicht verborgen bleiben und die auch ihre Mutter bereits zu spüren bekam. »Ich merkte, dass die Menschen mich wegen meiner Behinderung als nicht vollwertig einstuften. Und ich hatte das Gefühl, dass sie von meinem physischen Zustand auf meine geistigen Fähigkeiten schlossen. Außerdem gab es genügend abschreckende Beispiele von türkischen Frauen, die in Deutschland aufgewachsen waren, nach ihrer Rückkehr in die Türkei heirateten und dort unglücklich waren. Nein: Ich wollte mich nicht sehenden Auges in einen Käfig begeben.«

      Fetiye und Önder, noch ein ungleiches Paar, richten sich in Hamburg ein. Die Tochter des Hirten beginnt an der Universität der Hansestadt ein Studium der Erziehungswissenschaften. Nebenbei jobbt sie in der Verwaltung der Imbiss-Kette »Burger King«. Önder hilft, bevor auch er in dieser Firma anfängt, einem Cousin auf dem Großmarkt aus. Dabei vertieft er nicht nur seine Deutschkenntnisse, sondern lernt auch, wie man professionell mit Obst und Gemüse umgeht. Träumte sein Schwiegervater vom eigenen Trecker, so teilen Fetiye und Önder nun den Traum vom eigenen Laden.

      Sich selbständig machen, gemeinsam etwas aufbauen, keinem Vorgesetzten verantwortlich sein – so stark beseelt sind auch die Eheleute aus dem Osten Anatoliens von diesem urmenschlichen, über allen Kulturen stehenden Impuls, dass die beiden die Karriere-Offerte ihres Arbeitgebers ablehnen. Stattdessen greifen sie 1994 sofort zu, als ihnen ein Verwandter anbietet, sein Geschäft im bürgerlichen Hamburger Stadtteil Alsterdorf zu übernehmen. In der multikulturell ausgerichteten Himmelstraße befindet sich der Laden.

      Auf die Hilfsbereitschaft, die sie in Hamburg schon während ihrer von gesundheitlichen Rückschlägen geprägten Jugend erfuhr, kann sich Fetiye auch verlassen, als es darum geht, Studium und Beruf einigermaßen in Einklang zu bringen. So lösen sich nach der Geburt ihres Sohnes Beritan die Nachbarn in der Aufsicht des Kindes ab. »Die haben«, berichtet Fetiye, »einen regelrechten Dienstplan ausgearbeitet. Als Gegenleistung habe ich mir geduldig die Sorgen meiner Kunden angehört. Einer hat mal gesagt: ›Das geht hier zu wie in der psychotherapeutischen Praxis. Demnächst stelle ich dir eine Couch in den Laden‹.«

      Die Uni, das Geschäft, das Kind – irgendwann wird die Dreifachbelastung für Fetiye trotz der nachbarschaftlichen Hilfe zu viel. Sie macht Abstriche beim Studium und verlagert ihre Forschungen auf den komplexen Alltag in ihrer Umgebung. Dabei stößt sie auch auf ein Phänomen, das zu den Schattenseiten der Absetzbewegung in Richtung Bundesrepublik gehört. »In einem der Eingänge neben unserem Geschäft flackerten auch tagsüber rote Lämpchen. Junge Frauen aus Osteuropa empfingen dort ihre männlichen Kunden. Ich habe mich oft mit diesen bildhübschen Frauen unterhalten und war erstaunt, dass sie alle einen akademischen Abschluss besaßen. Sie berichteten mir, dass sich ihre Eltern, um das Studium der Töchter finanzieren zu können, hoch verschuldet hatten und dass sie in Hamburg als Edelprostituierte in vier Monaten mehr verdienten als in Polen oder


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