Schlachtbank Düppel: 18. April 1864.. Tom Buk-Swienty
Sonntag, 17. April 1864
Wenige hundert Meter Niemandsland, an einigen Stellen maximal hundertfünfzig Meter. Mehr trennte die beiden Heere nicht, die sich einander gegenüber eingegraben hatten. Das dänische Heer sah sich in die Defensive gedrängt. Es verschanzte sich hinter einer Festungslinie aus großen Erdwällen, Schützenlöchern und Laufgräben, in Pulvermagazinen und Granattrichtern – wo immer man Deckung vor den gegnerischen Granaten finden konnte. Das andere Heer, des preußische, hatte sich in einem gigantischen Netz von Schützengräben – sogenannten Parallelen – systematisch an die Schanzen herangegraben. Mehr als einhundert Belagerungskanonen hatten die Preußen in das Gebiet geschafft, um den Feind zu destabilisieren und ihn dann in einem groß angelegten Sturmangriff zu besiegen.
Keine der beiden Parteien war sich am 17. April 1864 bewusst, welche Pläne das jeweils andere Heer hatte. Die Dänen erwarteten einen Angriff, nur wann würde er kommen? Die Deutschen ließen große Truppenverbände aufmarschieren. Am kommenden Tag wollten die Preußen die dänischen Stellungen überrennen, allerdings wussten sie nicht, ob der Feind die Stellungen halten und den Angriff parieren würde. Käme es zu einem plötzlichen Rückzug beziehungsweise vielleicht sogar zu einem Ausfall? Wir hingegen können in den historischen Rückspiegel blicken und wissen, dass an diesem Tag eine Entwicklung angestoßen wurde, die sich nicht mehr aufhalten ließ.
Abb. 5: Ein preußischer Leutnant des 4. Regiments, 4. Kompanie. Wilhelm Gather gehörte diesem Regiment an, das die Schanze 6 erstürmen sollte.
Am 20. April 1864 sollte in London eine internationale Friedenskonferenz stattfinden. Bis dahin wollten die kämpfenden Parteien die bestmöglichen Verhandlungspositionen erreichen. In Berlin wurde offen von der Notwendigkeit eines großen Sieges gesprochen, um in den Verhandlungen entsprechend offensiv auftreten zu können; und die Politiker in Kopenhagen forderten die Heeresleitung auf, einem feindlichen Angriff standzuhalten, egal, ob es, wie man es den Generälen gegenüber ausdrückte, zu »bedeutenden Verlusten« kommen würde.
2. Der Ausgewählte
»Und sollte es nun morgen oder früher oder später losgehen, soll ich dann untergehen?«, fragte sich der sechsundzwanzigjährige preußische Soldat Wilhelm Gather. Es war ein kalter, aber klarer und sonniger Aprilmorgen, an dem Gather mit seiner Kompanie den Gottesdienst unter freiem Himmel besuchte. Während die Soldaten mit gebeugten Köpfen das Sakrament empfingen, kreisten Gathers Gedanken weiterhin um den Tod. »Für manch einen von uns wird bald die Stunde des Abschieds von dieser Welt geschlagen haben, und wer weiß, vielleicht auch für mich?«, überlegte er.
In der Ferne dröhnte anhaltender Kanonendonner. Wilhelm Gather, der der 4. Kompanie des 4. Regiments angehörte, lag im Dorf Nybøl, nur wenige Kilometer westlich der dänischen Festungsanlagen bei Düppel. Gather und seine Kameraden waren in einem Lager bei Varnæs in der Nähe von Åbenrå stationiert gewesen, weit entfernt von der Düppeler Front. Am 16. April hatten sie plötzlich den Befehl erhalten, die zwanzig Kilometer bis Nybøl zu marschieren, dort hatte man sie nun einquartiert. Den Soldaten war bewusst, dass der Marschbefehl nach Nybøl einen unmittelbar bevorstehenden Angriff auf die dänischen Stellungen bedeutete.
Vor einer Woche hatte die Heeresleitung entschieden, Gathers Kompanie in der ersten Angriffswelle einzusetzen. Einzelne Kompanien wurden ausgewählt, als Sturmtruppen zu fungieren: Diese Truppen sollten die Dänen überwältigen und einem eventuellen Gegenangriff standhalten, bis die preußischen Reservetruppen eingesetzt wurden. Dass die ausgewählten Kompanien große Verluste erleiden würden, war allen Beteiligten klar.
Gather hatte Angst, seit er am 13. April erfahren hatte, unter den Ausgewählten zu sein. In einem Brief an seine Eltern schrieb er an diesem Tag, »ein eigentümliches Gefühl herrscht schon in uns, das Bewusstsein zu haben, die Ersten zu sein«. Und einige Tage später heißt es: »Wenn der einzige Trost, die Hoffnung, nicht wäre, dass die Sache nicht so ganz schlimm ausfallen möge, oder der Gedanke, dass von der schlimmsten Todes-Ernte auch immer noch einige übrig bleiben und unter diesen Glücklichen zu sein, dann würde uns der Mut sinken.«
Als er von seinem Befehl erfuhr, war sein erster Gedanke: »Heute und morgen stürmen wir noch nicht und hoffen und hoffen noch immer auf ein womögliches Verlassen der Schanzen [durch die Dänen] oder auf eine glückliche [internationale Friedens-]Konferenz.«
Es handelte sich um Wunschdenken, und er wusste es. Stattdessen setzte Wilhelm Gather seine ganze Hoffnung darauf, während des Angriffs als Schütze eingesetzt zu werden. Zumindest, so schrieb er seinen Eltern, könnte man als Schütze Deckung suchen und müsste nicht in engen Reihen vorrücken und auf die gefürchteten Kartätschen warten, die mit Eisensplittern und Kugeln gefüllten Granaten.
Und mit einem weiteren Gedanken versuchte er sich in seinem Brief an die Eltern zu beruhigen: Auch bei den blutigsten Verlusten standen einige der anstürmenden Soldaten doch immer wieder auf. Stets gab es Überlebende. Er könnte doch ebenso gut einer von ihnen sein.
Gather war ein gut ausgebildeter Soldat, der wie die meisten Männer in Preußen eine dreijährige Wehrpflicht absolviert hatte. Seine Dienstzeit endete eigentlich im Jahr 1862, doch als sich der Krieg mit Dänemark abzeichnete, wurde er erneut einberufen und musste 1863 die Uniform wieder anziehen. Als Krieger fühlte er sich trotz seines ganzen Waffentrainings indes nicht. Im Gegenteil. Er hasste den Krieg und hatte es vom ersten Tag an getan, zumal er die Strapazen und Gefahren im Feld nicht ertragen wollte. Am liebsten hätte er ein friedliches Leben als Landwirt geführt. Er liebte seine Heimat und den Hof seiner Eltern. Sie waren Bauern und betrieben eine Gastwirtschaft in Hohenbudberg in der preußischen Rheinprovinz, im westlichen Teil des Deutschen Bundes – weit entfernt von Berlin, direkt am Rhein. ›Vater Rhein‹ nennt ihn Gather in seinen Briefen.
Bisher hatte Wilhelm Gather Glück gehabt und konnte seinem Schöpfer dankbar sein, als er sich am 17. April mit seinen Kameraden zum Feldgottesdienst einfand. Noch hatte er an keiner Schlacht teilnehmen müssen, obwohl der Krieg bereits am 1. Februar ausgebrochen war. Das 3. Armeekorps, zu dem sein Regiment gehörte, war im Gegensatz zu anderen Einheiten, die die Preußen und ihre Verbündeten, die Österreicher, ins Feld geschickt hatten, bisher von größeren Auseinandersetzungen verschont geblieben. Aber sonderlich erfreulich waren die Monate, die der Feldzug gegen Dänemark nun dauerte, Gathers Meinung nach dennoch nicht gewesen.
Die Tage, an denen sie vor dem Danewerk – der großen dänischen Verteidigungsanlage nördlich der Eider – gelegen hatten, waren eisig kalt gewesen. Das Danewerk einzunehmen hätte zu viele Menschenleben gekostet. Doch als sie am 5. Februar den Befehl bekamen, über die Schlei zu rudern, um die dänische Stellung von der Flanke her anzugreifen, lagen Gathers Nerven blank. In den Tagen davor war entlang der langen Frontlinie unablässiger Kanonendonner zu hören gewesen, und die ersten Scharmützel zwischen Dänen und Deutschen hatten bereits stattgefunden – man sprach mit Ehrfurcht und Schrecken über die Toten und Verletzten, die es auf beiden Seiten gegeben hatte. Zu Gathers großer Erleichterung kam es zu keinem Angriff auf das Danewerk, denn unversehens räumten die Dänen die Stellung.
In den folgenden Wochen lag Gather in Jütland, zuerst südlich des Flusses Kongeå, später vor der dänischen Festung bei Fredericia, die von preußischen und österreichischen Truppen belagert wurde und im März einige Tage unter schwerem Artilleriebeschuss stand.
Wilhelm Gather erhielt seine Feuertaufe in einem kleinen Gefecht vor Kolding, in dem er miterlebte, wie ein deutscher Soldat mit einer Schussverletzung in der Brust davongetragen wurde. Doch auch diesmal kam Gather unbeschadet davon. Dies änderte sich erst, als sein Regiment Ende März südlich der Düppeler Schanzen verlegt wurde, um an der Belagerung der dänischen Stellungen teilzunehmen. Nun wurde er häufig in den preußischen Laufgräben vor den dänischen Positionen eingesetzt: Immer dichter grub sich das preußische Heer an die Dänen heran, und Wilhelm Gathers Uniform war in den feuchten Gräben ständig durchnässt, er fror. Dazu kam die miserable Verpflegung der preußischen Soldaten. In den Briefen an seine Eltern berichtete er von kleinen Portionen, die bisweilen nicht einmal Tabak enthielten, wie er verärgert hinzufügte.