Zobel. Albrecht Breitschuh

Zobel - Albrecht Breitschuh


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I

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      Alles hätte auch ganz anders kommen können. Eine Minute hatte gefehlt, höchstens zwei. Wie lächerlich wenig doch manchmal den Sieger vom Verlierer trennte. Kleinigkeiten oder Zufälle, die sich jedem Einfluss entzogen und erst nach dem Abpfiff bedeutsam wurden, wenn nichts mehr ging und abgerechnet wurde. Dann machte das Ergebnis einen Unterschied sichtbar, den es auf dem Platz oft gar nicht gab. Das Ergebnis verhielt sich vollkommen gleichgültig gegenüber dem, was hätte passieren können. Es bilanzierte nur das wirklich Geschehene, nüchtern, klar und kalt. Das Ergebnis hatte für immer Bestand und trennte Sieger von Verlierern. Manchmal sogar Helden von Versagern.

      Rainer Zobel gehörte jetzt zu den Helden, war aber nicht in der Stimmung, sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, ob das nun alles gerecht war oder nicht. Vielleicht später einmal. Denn so wie es jetzt war, war es vollkommen. Daran gab es keinen Zweifel. Ob sich sein Leben als Fußballspieler jemals wieder so leicht anfühlen würde wie in diesem Moment? Kaum vorstellbar. Wer das Glück festhalten will, verliert es, schoss es ihm durch den noch ziemlich benebelten Kopf. Und was folgte daraus? Den Augenblick genießen! Niederlagen und Enttäuschungen würden weiter zu seinem Beruf gehören, sie ließen sich gar nicht vermeiden. Nicht einmal bei seinem Verein, dem FC Bayern München. Aber die Frage war doch, ob sie ihm noch zusetzen konnten? Nach allem, was in den letzten Tagen passiert war.

      Über dem großen Glück lag aber auch ein kleiner Schatten, und den Augenblick zu genießen war einfacher gesagt als getan. Mit seinen gerade einmal 25 Jahren hatte er bereits alles erreicht: erst den DFB-Pokalsieg, dann drei Deutsche Meisterschaften und jetzt, mit dem Gewinn des Europapokals der Landesmeister, stand er auf dem Gipfel des Vereinsfußballs. Viel mehr war für ihn nicht drin. Wie lange würde er, würden sie sich dort halten können? Kam da noch etwas oder ging es von nun an bergab?

      An einem sonnigen und warmen Frühlingsnachmittag im Mai 1974 saß Rainer Zobel auf dem Rasen vor dem Mannschaftshotel und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Immerhin wusste er, in welcher Stadt er sich befand. Sie hieß Mönchengladbach. Aufgewacht war er noch in Brüssel, hatte dort nach einer langen Nacht ein paar Stunden wie betäubt geschlafen (viel mehr als zwei konnten es eigentlich nicht gewesen sein), als jemand heftig an ihm herumrüttelte: „Zobel, mach endlich die Augen auf! Wir müssen los, Fußball spielen!“ Nachdem er die Augen geöffnet hatte und halbwegs sicher war, tatsächlich der Rainer Zobel zu sein, der da gerade zurück ins Leben geholt werden sollte, stellte er fest, dass er nicht in seinem Bett lag. Kein guter Tagesbeginn. Er konnte sich noch verschwommen daran erinnern, dass er von der Hotelbar auf sein Zimmer wollte, aber es musste wohl etwas dazwischengekommen sein. Nur was? Oder wer? Darauf wusste er keine Antwort, beim besten Willen nicht. Zobel hatte mit so vielen Leuten auf diesen grandiosen Sieg angestoßen, dass er irgendwann den Überblick verlieren musste, mit wem er da trank und was er alles in sich reinschüttete. Wahrscheinlich nur vom Feinsten, denn das Hotel hatte wirklich Klasse. „Le Grand Veneur“ hieß es, der große Jäger. Nun war die Jagd zu Ende und die Beute eingefahren, auch wenn es ein paar Tage länger gedauert hatte als geplant. Und er als einer der großen Jäger hatte Mühe, wieder auf die Beine kommen. Auf zu neuen Taten.

      Zobel streckte sich und drehte sich noch einmal zur Seite. Nein, es war wirklich nicht sein Bett. Er lag auf dem Rasen der Hotelanlage, wenige Meter vom Beckenrand des Swimmingpools entfernt. Zum Glück bin ich nicht ertrunken, war sein nächster Gedanke. Auch an die Busfahrt von Brüssel nach Mönchengladbach stellten sich allenfalls vage Erinnerungen ein. Wie lange sie wohl unterwegs waren? Drei Stunden? Vier Stunden? Wahrscheinlich war er gleich wieder eingeschlafen. Ob er sich einmal kneifen sollte? Manchmal half das ja. Es war wirklich surreal, wie im Film. Allerdings einem mit Filmriss.

      Wie gesagt, alles hätte auch ganz anders kommen können.

      Vor drei Tagen, am Mittwoch, schien der Traum vom Europapokalsieg schon geplatzt. Atletico Madrid führte 1:0, durch einen Freistoß, irgendwie passend zu diesem zähen Finale. Kaum Torchancen, beide Mannschaften hatten sich 90 Minuten lang wie zwei Boxer belauert, nur selten ihre Deckung entblößt und vergeblich auf den entscheidenden Fehler der anderen gewartet. Verlängerung, ohne dass sich am Spielverlauf etwas änderte. Bloß nicht verlieren, blieb die Devise, und hoffen auf den „Lucky Punch“. Dann die 113. Minute, Freistoß aus ungefähr 20 Metern. Der Spanier Luis legte sich den Ball zurecht und zirkelte ihn an der Münchener Mauer vorbei zum 1:0 ins Netz. War er das, der glückliche, vielleicht sogar tödliche Schlag? Es schien so.

      Die letzte Minute brach gleich an. Oder lief sie bereits? Zobel sah, dass sich sein Trainer von der Bank erhoben hatte und Richtung Kabine ging. Den Rest wollte sich Udo Lattek offenbar nicht mehr antun. Der Mann war lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass im Fußball eine Menge passieren konnte, aber noch länger, um zu wissen, heute nicht mehr. Nicht in diesem Spiel. Beckenbauer kam noch einmal an den Ball, kurz hinter der Mittellinie. Auch ihm waren die zündenden Ideen ausgegangen. Anstatt sich wie üblich mit raumgreifenden, schnellen Schritten, das Leder elegant und ganz eng am Fuß führend, dem gegnerischen Strafraum zu nähern, um dann im Zusammenspiel mit Gerd Müller Alarmstimmung beim Gegner auszulösen, passte er kurz hinter der Mittellinie quer auf Schwarzenbeck. Mehr fiel ihm nicht ein.

      Der Vorstopper, den alle nur „Katsche“ nannten, befand sich plötzlich in einer für ihn ungewohnten Rolle, der des Antreibers. Er lief ein paar Meter in zentraler Position Richtung Tor der Spanier, ohne irgendeinen erkennbaren Plan zu verfolgen, was er als Nächstes tun würde. Gerd Müller winkte im Strafraum, Schwarzenbeck sah ihn aber nicht. Seine Augen waren nur auf den Ball gerichtet, er nahm gar nicht wahr, was um ihn herum geschah und wer da sonst noch so alles winkte.

      Inzwischen lief die letzte Minute, irgendetwas musste passieren, irgendetwas musste er machen – nur was? Es gibt Momente, in denen man es sich mit solchen Fragen unnötig schwer macht. Dies war so ein Moment und deshalb drosch Schwarzenbeck aus 25 Metern einfach drauf – der Ball flog durch ein Knäuel von sieben oder acht Spielern und war für den Torwart erst ganz spät zu sehen. Ausgleich, 1:1! Ein Schuss aus purer Verzweiflung. „Ich habe an nichts gedacht“, schilderte „Katsche“ den Reportern hinterher jenen Augenblick, in dem er sich aus der Welt der Normalsterblichen verabschiedete. Wäre er ins Grübeln gekommen, hätten die Spieler von Atletico Madrid an diesem Abend den Pokal in Empfang genommen. Die Bayern wären enttäuscht nach Hause geflogen und Rainer Zobel vermutlich längst wieder nüchtern.

      So aber saß er auf dem Rasen vor dem Mannschaftshotel und gönnte sich einen weiteren tiefen Schluck aus dem Weißbierglas. Gladbacher Fans auf dem Weg ins Stadion prosteten ihm zu und gratulierten. Zobel grüßte lachend zurück. Keine Spur von Häme, Missgunst oder gar Feindseligkeiten, die ihnen sonst bei Auswärtsspielen zuverlässig entgegenschlugen. Die freuen sich tatsächlich mit uns, wunderte sich Zobel. Seit vier Jahren spielte er nun schon bei den Bayern, so viel Zuneigung außerhalb Münchens hatte er noch nie erlebt. Dass er eine Stunde vor dem Anpfiff Weißbier trank, allerdings auch nicht. Ein Platz in der Startelf war in seinem Zustand ausgeschlossen. Aber wen interessierte das schon? Ihn jedenfalls nicht. Das Spiel war nur noch von statistischer Bedeutung. Der große Rivale Borussia Mönchengladbach lag vor dem letzten Spieltag drei Punkte hinter den Bayern, die Meisterschaft war zugunsten der Münchener entschieden. Zum dritten Mal in Serie. Auch ein Grund zur Freude, aber der Europapokalsieg stand über allem.

      4:0 hatten sie den spanischen Meister im Wiederholungsspiel 48 Stunden später auseinandergenommen und er war, wie der „kicker“ mit höchstem Lob festhielt, „die große Überraschung“ des zweiten Finales. In der Einzelkritik hatte das Fachmagazin hinter seinen Namen ein Ausrufezeichen gesetzt. Dann folgten wenige Zeilen, die Zobels Anteil am bis dahin größten Triumph der Vereinsgeschichte einordneten: „Er erreichte die Form der großen Nationalspielerachse und war der Tempomacher. Immer anspielbar, jagte er am Flügel los und war so stark wie unsere Asse, die dort in der Nationalmannschaft stürmen.“

      Nach dem späten Ausgleichstreffer durch Schwarzenbeck am Mittwoch hatte keiner von ihnen daran gezweifelt, dass sie das Wiederholungsspiel gewinnen würden. Sie fühlten sich nicht nur psychologisch im Vorteil, die Spanier wirkten am Ende der Verlängerung stehend k.o., während die Bayern noch marschierten.


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