Zobel. Albrecht Breitschuh

Zobel - Albrecht Breitschuh


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Haus hatte noch einen Kohlenkeller und ein Dachgeschoss als Ausbaureserve. Im Gegensatz zu den anderen Familien in ihrer Straße verzichteten die Zobels aber auf zusätzlichen Wohnraum. Es musste auch so reichen.

      Einmal im Monat brachte sein Vater Geld mit nach Hause und legte es auf den runden Esstisch in der Küche, an dem die Eltern oft mit den Nachbarn saßen und Doppelkopf spielten. Sein Gehalt wurde zwar schon aufs Konto überwiesen (die Lohntüte war etwas für Arbeiter), aber wenn Otto Zobel mit seiner Frau die einzelnen Posten durchging, sollte auch Bares auf dem Tisch liegen. Das machte die Haushaltsführung noch übersichtlicher, als sie ohnehin schon war, denn der finanzielle Spielraum war gering. Wenn seine Eltern den kommenden Monat planten, ging es um die wirklich notwendigen Dinge und nicht darum, irgendwelche Wünsche der Kinder zu erfüllen. Das Geld wurde in drei Haufen eingeteilt: einen fürs Essen, einen für die Kleidung und einen für Sonstiges. Der war immer der kleinste. Im Grunde waren die Zobels auch für damalige Verhältnisse arm, ohne dass man es ihnen ansah. Rainers Mutter legte bei sich und den Kindern viel Wert auf gute, gepflegte Kleidung, die sie überwiegend selbst schneiderte. Auch wenn das Geld knapp war, sollte doch alles seinen Schick haben.

      Ilse und Otto Zobel besaßen nie ein Auto, hatten ihr Leben lang nicht einmal einen Führerschein. Als die Deutschen in den 50er Jahren die Reiselust überkam und sie im Volkswagen Italien als ihr Sehnsuchtsland entdeckten, blieben die Zobels zu Hause in der Lüneburger Heide. Nur einmal gönnten sie ihren Kindern den Luxus einer größeren Reise. Sie begann kurz nach Sonnenaufgang auf dem Bahnhof in Uelzen, wo die Familie in einen Dampfzug stieg und nach Travemünde fuhr. Von dort ging es mit der Fähre ins dänische Gedser, ein paar Stunden Ostseeluft schnappen, dann wieder ab auf die Fähre und am frühen Abend zurück. Als sie zu Hause ankamen, war es schon weit nach Mitternacht. Rainers erster Auslandsaufenthalt! Es sollten bald weitere folgen, denn die Sache mit dem Fußball entwickelte sich prächtig und sollte ihn in Länder führen, auf die er noch nicht einmal in seinem Schulatlas gestoßen war.

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      Eigentlich wollte er immer nur spielen. Ob Abwehr, Mittelfeld oder im Sturm, das war für ihn nicht so entscheidend. Über irgendetwas mussten sich ja auch die Trainer ihre Köpfe zerbrechen. Bei ihm hatten sie die Qual der Wahl, nur im Tor gab es Geeignetere, obwohl er selbst da keine schlechte Figur abgab, denn er verfügte über eine enorme Sprungkraft. In der A-Jugend des SC Uelzen gab es eine ganze Menge guter Fußballer, aber Rainer war schneller, ballsicherer und torgefährlicher als die anderen. Eine Allzweckwaffe, flexibel einsetzbar, der Traum eines jeden Trainers. Musste ein Vorsprung über die Zeit gebracht werden, spielte er hinten, lag seine Mannschaft im Rückstand, im Sturm. Als Spielgestalter im Mittelfeld? Warum nicht? Sein Platz war dort, wo er gebraucht wurde. So machte ihm Fußball Spaß und viel mehr als Spaß verlangte Rainer vom Fußball auch gar nicht.

      Sein Talent war ungleich größer als sein Ehrgeiz. Jede Form von Verbissenheit war ihm fremd. Keiner, der bis zur Erschöpfung trainierte oder um Sonderschichten bettelte, um noch besser zu werden. Was einen sehr guten Fußballer ausmachte, brachte er mit – Technik, Kondition, Spielübersicht. Und er konnte sich durchsetzen. Jahrelanges Kicken auf der Straße mit deutlich Älteren und Kräftigeren zahlte sich jetzt aus. An ihm kamen nur die ganz Ausgeschlafenen vorbei und ihn auf dem Weg nach vorne zu bremsen, war eine mindestens ebenso anspruchsvolle Aufgabe.

      Rainer träumte weder von großen Vereinen noch von Pokalen oder Meisterschaften. Gewinnen war schon in Ordnung, aber sein Leben dem Fußball unterordnen und einem Plan folgen, der ihn vielleicht einmal ganz nach oben führte, kam für ihn nicht in Frage. Es klappte doch auch so und ging stetig eine Stufe höher: Kreisauswahl, Bezirksauswahl, Landesauswahl.

      Die erste Reise seiner noch jungen Laufbahn führte ihn wieder nach Dänemark. Diesmal allerdings länger als nur für ein paar Stunden, zu einem großen Jugendturnier nach Jütland. Das hatte schon einen Hauch von internationalem Flair. Noch aufregender waren die Spiele mit der norddeutschen Auswahl in Berlin, denn aus Sicherheitsgründen flog die Mannschaft mit einer PanAm-Maschine in die seit kurzem durch eine Mauer geteilte Stadt. Ihr Sohn in einem Flugzeug! Wohin einen der Fußball doch führte, staunten Ilse und Otto Zobel.

      Wenn sich die Auswahlmannschaften der norddeutschen Bundesländer zu ihren regelmäßigen Turnieren trafen, reisten auch DFB-Trainer an, um nach geeignetem Nachwuchs zu fahnden. Andere Gelegenheiten gab es nicht. Zobel lief dann immer zu großer Form auf. Gar nicht mal, weil er so heiß darauf war, in die Jugendnationalmannschaft berufen zu werden. Der eigentliche Reiz lag für ihn darin, anderen zu zeigen, was er draufhatte, dass er mehr als nur mithalten konnte. Wie früher als Sechsjähriger, den die Großen nicht wegschickten, sondern sich um ihn stritten. Wenn er nach solchen Sichtungsturnieren wieder nach Hause fuhr, meistens mit sich und der Welt zufrieden, war die Sache für ihn erledigt. Er hatte sein Bestes gegeben, alles Weitere lag nicht mehr in seiner Hand. Warum sich also verrückt machen und täglich der Ankunft des Postboten entgegenfiebern? Entweder sie nahmen ihn oder sie nahmen ihn nicht. Er würde mit beiden Möglichkeiten leben können.

      Trotzdem war er mächtig stolz, als der erste Brief aus der Frankfurter Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes eintraf. Er gehörte nun zur Jugend-Nationalmannschaft. Der Junge hatte es zu etwas gebracht, das mussten auch die mindestens ebenso stolzen Eltern anerkennen. Ilse und Otto Zobel fingen an, mit großem Eifer Zeitungsartikel über ihren Sohn zu archivieren. Rainer wäre nie auf eine solche Idee gekommen. Für ihn zählte das Spiel. Alles andere nahm er nicht so wichtig.

      Parallel zu Rainers sportlichen Erfolgen ging es auch für Otto Zobel auf der Karriereleiter nach oben. Nach mehreren erfolgreich bestandenen Lehrgängen wurde er als Inspektor in den Beamtendienst berufen. Er hatte es ja immer gewusst, dem Tüchtigen gehört die Welt! Jetzt nur nicht nachlassen, die nächsten Etappen warteten schon: Oberinspektor, Amtmann, Oberamtmann – Rainers Vater legte ein beachtliches Tempo hin, erklomm in jeweils kürzester Zeit die nächste Sprosse und zügelte seinen Ehrgeiz erst, als er sein großes Ziel erreicht hatte: den höheren Dienst! Ein Oberrat mit Volksschulabschluss! Damit galt er innerhalb des Beamtenapparates als Exot.

      Sein stetiger beruflicher Aufstieg war für ihn und seine Familie auch mit einigen Ortswechseln verbunden. Einer führte in den Westen Niedersachsens, nach Bad Zwischenahn, dort übernahm er die Leitung des Arbeitsamtes. Rainer war jetzt 17 Jahre, kein gutes Alter, um Wohnort und Schule zu wechseln. Und den Verein: ein paarmal lief er für den VfL Bad Zwischenahn auf, aber beim SC Uelzen wollte man dieses Juwel nicht so einfach ziehen lassen, machte etwas Geld locker und bezahlte Rainer die Bahnfahrten zu den Spielen. Nach bestandener Führerscheinprüfung stellten sie ihm sogar ein Auto zur Verfügung – einen recht betagten VW Käfer. Er war also nicht ganz weg aus seiner vertrauten Umgebung, verbrachte aber an Wochenenden viel Zeit in Zügen und auf Straßen. Knapp drei Stunden Fahrzeit waren es bis nach Uelzen und zurück, dazu die Reisen zu den Auswärtsspielen und den Lehrgängen der Auswahlmannschaften. Um nicht dauernd unterwegs zu sein, übernachtete er häufig bei seiner älteren Schwester in Uelzen. Der Fußball hatte sich in seinem Leben jetzt doch ziemlich breit gemacht. Die Leistungen auf dem Platz waren höchst erfreulich, die in der Schule weniger. Bis dahin hatte es immer noch so gereicht, um über die Runden zu kommen, aber nun brachte er erstmals ein Zeugnis mit nach Hause, auf dem in der Rubrik „Bemerkungen“ die folgenschweren Worte „Nicht versetzt“ standen.

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      Neben dem Fußball und der Schule jobbte Rainer zweimal wöchentlich in der Bäckerei Diercks. Dienstags und donnerstags stand er am Steinofen und half dem Gesellen, mit einem langen Schieber die Brote aus dem Ofen zu holen. Keine allzu anstrengende Arbeit, und da es ein bisschen dauerte, bis die beiden Öfen heiß genugwaren, freute sich der Geselle über ausreichend Zigarettenpausen. Wann immer er sich eine ansteckte, bot er Rainer eine an, aber der lehnte dankend ab. Er war schließlich Fußballer, Nationalspieler sogar. Irgendwann nahm der Geselle das persönlich. „Wenn Du jetzt nicht eine mitrauchst, suche ich mir einen anderen zum Broterausziehen“, drohte er. Rainer musste nicht groß rechnen, um zu wissen, was auf dem Spiel stand: Pro Schicht verdiente er zehn Mark, also 80 im Monat. Eine Menge Geld. Er griff zu und zog eine Ernte 23 aus der Schachtel. „Bester Geschmack, aus edlen Tabaken leicht gemischt:“


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