Zobel. Albrecht Breitschuh
Zettelmaier vom 1. FC Bamberg, den der „kicker“ exklusiv als Reisereporter verpflichtet hatte, schwärmte über die Silvesterfeier in Rangoon: „Um 21 Uhr 30 begann der Neujahrsball im Freien. Ein beleuchteter Springbrunnen in der Mitte des Platzes zauberte eine festliche Stimmung herbei. Die vielen hübschen jungen Mädchen taten ihr übrigens dazu. Leider tanzten sie nicht mit uns, von einigen Ausnahmen einmal abgesehen.“ Zettelmaier berichtete über Zehn-Gänge-Menüs, die nicht satt machten, weil kaum einer mit den Stäbchen umgehen konnte, wunderte sich über die „wilde Fahrerei“ in den Straßen Bangkoks, die nur ganz selten zu Unfällen führte, und teilte den Lesern mit, dass der Wattenscheider Verteidiger Mietz am Flughafen in Hongkong Probleme mit dem Sicherheitspersonal hatte, weil er in einem Souvenirladen ein Schwert erstanden hatte: „Letzten Endes konnte er die Beamten doch überzeugen, daß er mit friedlichen Absichten gekommen war und niemandem etwas tun wolle. Großes Gelächter unserseits begleitete seine Ausführungen, während der Flughafenbeamte todernst blieb.“
Jeden Tag neue Erlebnisse und neue Eindrücke, alle drei Tage ein Spiel, Ruhepausen immer dann, wenn sie sich gerade anboten. Am Flughafen von Kalkutta schlief Zobel stehend an einem Geländer ein. Die Spieler lernten die Randzonen körperlicher Belastbarkeit kennen und waren trotzdem wach genug, um nicht nur ordentlich Fußball zu spielen, sondern all die Schönheiten und Sehenswürdigkeiten aufzunehmen, die sich ihnen im Überfluss aufdrängten: „Wir wurden in diesen Wochen eine verschworene Gemeinschaft“, bilanzierte Udo Lattek. Man sei auf konditionell und technisch starke Gegner getroffen, denen jedoch der Zug zum Tor gefehlt habe.
Solche Feinheiten waren Zobel gar nicht aufgefallen, aber als die DFB-Delegation am 15. Januar 1968 wieder in Frankfurt landete, wusste er, dass es keinen besseren Zeitpunkt gab, um sich vom größeren Fußball zu verabschieden. Diese drei Wochen würde er nie vergessen! Das anschließende Gespräche mit seinem Trainer allerdings auch nicht. Udo Lattek fiel aus allen Wolken, als ihm einer seiner Lieblingsschüler mitteilte, dass er inzwischen über die Dorfplätze jagte und auch keine größeren Ambitionen zeigte, an diesem Zustand etwas zu ändern. Zobel meinte es aber ernst: „Ich höre auf.“ Lattek meinte es ebenfalls ernst: „Kommt überhaupt nicht in Frage.“ Sein Trainer wollte unter allen Umständen verhindern, dass ein solches Ausnahmetalent in der Kreisliga versauerte. „Da musst Du raus, nächste Saison spielst Du Bundesliga.“ Jetzt musste sich Zobel räuspern. Bundesliga? Wie sollte das denn funktionieren? Wenn sich während der Asienreise nichts Entscheidendes geändert hatte, standen die Vereine bei ihm nicht gerade Schlange. Aber Lattek hatte ohne Zobels Wissen seine Kontakte spielen lassen und schon ein paar Dinge eingefädelt. Er verabschiedete sich kurz, um zu telefonieren. Als er zurückkam, teilte er Zobel mit: „ Alles klar! Du spielst nächste Saison bei Hannover 96.“
Auch wenn das genau das Gegenteil von dem war, was ihm am Anfang des Gesprächs noch vorgeschwebt hatte, sah Zobel ein, dass Widerstand zwecklos war. Er würde doch bei 96 nie zum Einsatz kommen, bemerkte er noch, aber auch dieser Einwand prallte an Lattek ab: „Die haben mit Dir 22 Spieler, und davon 12 Blinde. Du spielst also immer.“ Eine bestechend einfache Rechnung. Als er zwei Jahre später Hannover 96 verließ und zum FC Bayern wechselte, musste Zobel feststellen: Zumindest was seine Einsätze betraf, hatte der Trainer recht behalten.
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Viel zu verhandeln gab es nicht. Hannovers Ligaobmann Rudi Franz war zu den Zobels nach Stade gefahren, der Vater war mal wieder versetzt worden und Rainer hatte erneut die Schule wechseln müssen. 1.200 Mark Grundgehalt pro Monat, Prämien extra: der übliche Ausbildungsvertrag, den konnte man unterschreiben oder es bleiben lassen. Änderungen waren nicht mehr vorgesehen. Otto Zobel stellte dennoch eine Bedingung, bevor er für seinen noch nicht volljährigen Sohn unterzeichnete: Er sollte in Hannover weiter zur Schule gehen dürfen. Keine Schule, kein Vertrag! Ein Jahr hatte Rainer noch bis zum Abitur, und das war dem Vater viel wichtiger als der Fußball, von dem er ohnehin nur schwer einschätzen konnte, ob und vor allem wie lange damit Geld zu verdienen war. Rudi Franz fand das sehr vernünftig, gab Otto Zobel die mündliche Zusage, dann folgte die Unterschrift. Sein Sohn war nun Vertragsamateur und verdiente mit dem Fußball seinen Lebensunterhalt. Allerdings auf so kleiner Flamme, dass er weiter in der Amateurnationalmannschaft spielen durfte.
Die erste Unterkunft in Hannover hatte ihm sein neuer Arbeitgeber besorgt. Sie lag in der Yorckstraße, ganz in der Nähe der Trainingsplätze am Stadion. Eine Gründerzeitvilla, in der auch seine Mannschaftskameraden Peter Loof, Klaus Brune und Klaus Plischke untergebracht waren. Betreutes Wohnen für junge Fußballspieler, für jeden ein eigenes Zimmer, Bad und Küche gemeinsam. Der Verein hatte die vier in die Obhut eines älteren Ehepaars gegeben, das sich auch um die Wäsche und das Frühstück kümmerte, selbst in den noch verbliebenen Zimmern lebte und deshalb mitbekam, wenn die Untermieter erst zu vorgerückter Stunde heimkehrten. Dass sie dieses Wissen nicht für sich behielten, war Teil eines ungeschriebenen Abkommens, von dem alle etwas hatten: Hannover 96 zuverlässige Informanten, das Ehepaar pünktlich bezahlte Mieten und die Spieler das gute Gefühl, die ersten Schritte ins Berufsleben nicht ganz alleine gehen zu müssen.
Zobels Einstellung zum Fußball änderte sich durch den Vereinswechsel nicht grundlegend. Künftig mit den Großen der Branche auf einer Bühne zu stehen, war eine schöne Bestätigung seines Talents, aber von der Erfüllung eines Kindheitstraums konnte keine Rede sein. Seine Welt würde auch nicht aus den Fugen geraten, wenn sich die neue Liga als eine oder gleich mehrere Nummern zu groß erweisen sollte. Es gab noch ein Leben außerhalb des Profifußballs und das stellte ihn vor ganz andere, ebenso wenig geplante Herausforderungen: Zobel war Vater geworden, mit 19 Jahren ein ziemlich junger.
Die Begeisterung darüber hielt sich bei den Eltern seiner Jugendfreundin in Grenzen. Die ebenso junge Mutter war das, was man ohne groß zu übertreiben eine sehr gute Partie nennen durfte. Ausgesprochen hübsch, dazu noch aus bestem Hause. Ihr Vater, gebürtiger Münchener, arbeitete als Chefarzt am Krankenhaus in Uelzen und war als Vorsitzender der Deutschen Röntgenologen eine auf seinem Fachgebiet international gefragte und anerkannte Persönlichkeit. Geldfragen spielten in dieser Familie eine deutlich geringere Rolle als solche des Stils und der Etikette. Und die Frage, ob es sich bei Rainer um ihr Idealbild eines Schwiegersohns handelte, war noch lange nicht abschließend geklärt, da hatten die beiden jungen Leute auf ihre Art schon bei der Antwort geholfen.
Dass die Geburt unmittelbar bevorstand, erfuhr Rainer auf dem Frankfurter Flughafen, er war gerade mit der Amateurnationalmannschaft von einer Islandreise zurückgekehrt. Tags darauf sollte das Training bei Hannover 96 beginnen. Ohne bei seinem neuen Verein eine Nachricht zu hinterlassen, nahm er das nächste Flugzeug nach München, wo seine Freundin auf der Geburtsstation eines Krankenhauses lag. Sie in den Arm zu nehmen und seinen Sohn Holger im Leben zu begrüßen, war jetzt wichtiger als alles andere auf der Welt, wichtiger sogar als die ersten Übungseinheiten der neuen Saison.
Als Zobel drei Tage später wieder in Hannover eintraf, erhielt er neben ein paar mündlichen Glückwünschen auch eine schriftliche Abmahnung. Er überflog das Blatt Papier, ein bisschen Interesse zu simulieren konnte nicht schaden, versprach, dass so etwas nicht wieder vorkommen würde, zog sich dann um und nahm als junger Vater das Training auf.
Bei Hannover 96 wollten sie in der Saison 1968/69 größere Räder drehen. Von den letzten beiden Jahren hatten sich alle deutlich mehr erwartet. Ein neunter und ein zehnter Platz waren bei so namhaften und teuren Einkäufen wie den beiden Nationalspielern Josip Skoblar oder Jupp Heynckes zu wenig, um den auslaufenden Vertrag mit dem Trainer zu verlängern. Horst Buhtz musste gehen, für ihn kam Zlatko Cajkovski, von allen nur „Tschik“ genannt. Einer der wenigen Stars der Branche, für den 96 tief in die Tasche griff. Von 20.000 Mark monatlich war die Rede, plus Prämien, in diesen Gehaltsregionen bewegte sich außer dem früheren jugoslawischen Nationalspieler nur Österreichs Meistertrainer Max Merkel.
Aber „Tschik“ hatte bereits bewiesen, dass er sein Geld wert war: Bevor er bei 96 unterschrieb, hatte er fünf Jahre lang Bayern München trainiert, aus Maier, Beckenbauer und Müller Nationalspieler gemacht, 1967 den Europapokal der Pokalsieger nach München geholt und war zweimal DFB-Pokalsieger geworden. Von ähnlichen Erfolgen träumten sie auch in Hannover. Cajkovski war jedenfalls nicht gekommen, um wie sein Vorgänger im Mittelfeld zu versauern.