Die unerträgliche Leichtigkeit der Schulden. Axel Stommel
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Der Grund ist ebenfalls leicht einzusehen: Der Staat muss seine, d. h. die öffentlichen Aufgaben auf jeden Fall erfüllen, also grade auch in schlechten Zeiten – Infrastruktur, Bildung, Sicherheit und vieles mehr je nach Kassenlage geht nicht, das wäre kontraproduktiv.
Wenn es schon wirtschaftlich bergab geht, darf man nicht auch noch die Infrastruktur, Bildung, Sicherheit hinterherschicken sowie dem Wirtschaftskreislauf weitere Mittel entziehen: »Dämpft der Staat die Nachfrage, sinkt die Wirtschaftsleistung – es sei denn, die Lücke wird durch etwas anderes geschlossen. So einfach ist das.« (JOSEPH STIGLITZ34)
Wenn es schon bergab geht, gibt es, vom Staat abgesehen, nichts und niemanden, der bereit und in der Lage ist, Nachfragelücken zu schließen, erst recht nicht die zusätzliche Lücke, die sein eigener Rückzug aufreißt. Deshalb gilt es genau umgekehrt, durch verstärkte staatliche Ausgaben in Infrastruktur, Bildung, Sicherheit und manches mehr dem Niedergang finanziell und materiell Einhalt zu gebieten und das Steuer herumzureißen.
»Wer zu hohe Ausgaben hat, soll einfach weniger ausgeben«: Dieser gern zitierte Lehrsatz der privaten Hauswirtschaft führt folglich nicht aus einer ökonomischen Krise heraus, sondern tiefer in die Krise hinein. Er weitet die ökonomische zu einer politisch-ökonomischen Krise aus, macht aus der Wirtschafts- eine Staats- und Gesellschaftskrise. Das sollte seit BRÜNINGs Wirtschaftspolitik und KEYNES’ Wirtschaftstheorie allgemein bekannt sein. Stattdessen muss der Staat gegebenenfalls seine Einnahmen an die Ausgaben anpassen, und zwar vorzugsweise indem er die, die es zu tragen vermögen, die Vermögenden also, stärker besteuert. Aushilfsweise sind Kreditaufnahmen geboten. Auf die Rangfolge (erst Steuern, dann Kredite) wird noch ausführlich einzugehen sein. Hier geht es zunächst lediglich darum, eine grundlegende Eigenart staatlicher Haushaltsführung festzustellen: Beim Staat bestimmen die Aufgaben die Ausgaben, und die Ausgaben bestimmen seine Einnahmen. So sollte es jedenfalls sein.
An dieser Stelle drängt sich ein kritischer Einwand auf: Aber es gibt doch auch unsinnige, verschwenderische Staatsausgaben. Die dürfen doch nicht die Einnahmen mitbestimmen!
Ja, es gibt sie, die unsinnigen Staatsausgaben, z. B. in Gestalt widersinniger Subventionen für den Agrarsektor, darunter etwa für den Export von Schweinefleisch nach China und in die USA, von Hähnchenteilen nach Westafrika; es gibt sie in Gestalt von Subventionen für Flugbenzin, Förderung von Waffenexporten, einer unwirtschaftlichen Verwendung öffentlicher Gelder und dergleichen mehr. In der Tat dürfen derartige Ausgaben (bzw. Einnahmeverzichte) die Staatsaufgaben und folglich auch die Staatseinnahmen nicht mitbestimmen. Der Einwand ist berechtigt.
Aber der Einwand geht an der hier behandelten Frage vorbei. Bei unsinnigen bzw. unwirtschaftlichen Staatsausgaben geht es im Grunde um eine Aufgabenkritik; die kritischen Ausgaben sind Folgeerscheinungen falscher Aufgabenbestimmungen (oder sachwidriger Abweichungen von gesellschaftlich korrekt erfolgten Aufgabenbestimmungen). Unwirtschaftliche Ausführungen dagegen müssen mit laufenden Überprüfungen der Mittelverwendung, mit internen und externen Untersuchungen, Länderund interkommunalen Vergleichen verfolgt werden.
Dieses Einsparpotential besteht unabhängig von der Haushaltslage, muss deshalb immer und überall, also auch im Falle hoher und höchster Haushaltsüberschüsse, zu heben versucht werden. Die Einsparerfolge werden allerdings niemals vollständig sein. Das erzwingt sowohl die Dynamik der Organisationen als auch die Natur des Menschen. Außerdem beträgt die Misswirtschaft des Staates, soll man dem Bundesrechnungshof glauben, etwa ein Prozent aller öffentlichen Ausgaben.35
Staatliche Misswirtschaft wird also von der Misswirtschaft im Bereich der privaten Unternehmen und Banken mit Sicherheit locker übertroffen. Man erfährt es allerdings nicht, weil privatwirtschaftliche Misswirtschaft als »Betriebsgeheimnis« auf das Strengste geschützt ist. Demgemäß wird diese Form der Misswirtschaft von keinem Rechnungshof untersucht und von niemandem öffentlich zur Sprache gebracht:36 Sie steht unter dem absoluten Schutz des Tabus.
33Die Möglichkeiten zur Steigerung der Einnahmen sind im Privathaushalt eng begrenzt und werden größtenteils nicht vom Haushalt selber bestimmt, sondern von äußeren Umständen wie offenen Stellen, beruflichen Fähigkeiten, familiärer Situation, Gesundheit, Alter etc.
34JOSEPH STIGLITZ, Europa spart sich kaputt…, S. 262.
35»Laut Bundesrechnungshof beschränkt sich ›die Misswirtschaft‹ [des Staates] aber auf ein Prozent aller öffentlichen Ausgaben.« (DIERK HERSCHEL, Die Reichen sollen zahlen, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.5.2015.)
36Betriebsräte benennen allenfalls ein »Missmanagement« der Geschäftsleitung als verantwortlich für bevorstehende Entlassungen; Details in die Öffentlichkeit zu tragen ist ihnen versagt. Von den Geldvernichtungen durch Banken wie der Münchner Hypo Real Estate im Rahmen der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise soll hier deshalb erst gar nicht die Rede sein.
5 Wer nicht investiert, verliert – am Ende gar die Demokratie
Dass die Ausgaben die Einnahmen bestimmen, gilt, wie gesagt, beim Staat generell, also keineswegs nur in Zeiten der Krise, sondern in schlechten wie in guten Zeiten. Art und Umfang der öffentlichen Aufgaben ihrerseits werden von der Gesellschaft im Interesse des gemeinen Wohls in Anbetracht der eigenen produktiven Kapazitäten jeweils aktuell und insofern historisch bestimmt. Die öffentlichen Aufgaben wachsen mit zunehmender gesellschaftlicher Komplexität – Schule, z. B., heute im Kernbereich staatlicher Zuständigkeit gelegen, ist erst vor rund 200 Jahren zur öffentlichen Aufgabe geworden, und seitdem ist diese Aufgabe beständig gewachsen sowie immer verzweigter und komplexer, folglich immer aufwendiger geworden.
In Bezug auf die staatliche Verantwortung für die Stabilisierung des Wirtschaftskreislaufs gilt Ähnliches.37 Informationstechnologie sowie Umwelt- und Klimaschutz schließlich sind Kinder unserer Tage; sie stellen dem Staat dauerhaft eine Vielzahl neuer, äußerst aufwendiger Aufgaben. Mit den Aufgaben wachsen beim Staat die Ausgaben; in ihrem Gefolge wachsen die Einnahmen, die benötigt werden, um die Aufgaben zu erfüllen (sogenanntes WAGNER’sches Gesetz der wachsenden Staatsquote38). Die Staatsaufgaben erfüllen aber heißt investieren, nämlich in die Erfüllung der staatlichen Aufgaben.
Und wer’s lässt, sprich: wer nicht investiert, verliert. Unter dem Motto unseres kanzleramtlichen »Auskommen mit dem, was da ist« wird Deutschland seit Jahren auf Verschleiß gefahren. Darin sind sich ausnahmsweise einmal alle einig, die sich näher mit dieser Frage beschäftigen. Die Infrastruktur zerfällt – Brücken zum Beispiel, Schulen, Polizei, Ordnungsämter, kommunale Behörden, die digitale Infrastruktur und manches mehr, um es bei Stichworten und der Erinnerung an FRATZSCHERs lange Liste39 zu belassen. Besonders teuer wird es, wenn man erst einmal den Anschluss verpasst hat. Für den Staat gilt deshalb grundsätzlich: Über ausgabenbestimmte Steuern zu aufgabengerechter Steuerung – kurz: Mit Steuern steuern. In jüngster Zeit stellt sich die Aufgabe mit einer bedeutenden Erweiterung dar; sie heißt nun: Mit Steuern klimasensibel steuern.
Mit Abstand sieht man die Verhältnisse oftmals besser; im Ausland wird unser andauerndes, tägliches Staatsversagen sehr wohl bemerkt. Unter der fetten Überschrift »Drittweltland Deutschland« vermerkt die Basler Zeitung beispielsweise süffisant: »Die Schweiz täte gut daran, Deutschland künftig als Drittweltland einzustufen, insbesondere wenn es dort um Infrastruktur und Verkehrspolitik geht. Die Schweiz muss sich deshalb überlegen, ihr Entwicklungshilfebudget aufzustocken…«40 Der Anteil der öffentlichen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt liegt in Deutschland seit Jahrzehnten bei maximal 2,4 %. Mit dieser Quote ist Deutschland, der Konkurrenz in EU und OECD abgeschlagen hinterherhinkend, zum verlässlichen Träger der roten Laterne geworden.41
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