Die unerträgliche Leichtigkeit der Schulden. Axel Stommel
Die Altenheime, in denen besonders viele Tote zu beklagen sind, die Krankenhäuser, die Gesundheitsämter, die niedergelassenen Ärzte…? Die bayerische Landesregierung verfügt, dass in Bayern produzierter Mundschutz ausschließlich in Bayern veräußert werden darf. In Apotheken wird Kunden anfangs empfohlen, aushilfsweise Heftpflaster der Größe 4 auf den Mund zu kleben.
Plötzlich wird bekannt, dass Deutschland, einst die Apotheke der Welt, infolge bedenkenloser Produktionsverlagerungen in eine fatale Abhängigkeit von chinesischen und indischen Pharmaherstellern geraten ist; einzelne Medikamente werden knapp. Währenddessen fließen Krankenhauskeime ungefiltert in Kanäle und Oberflächengewässer. Die personellen Untergrenzen und Qualifikationen auf Intensivstationen, so erfährt eine erstaunte Öffentlichkeit, können schon im Normalbetrieb nicht eingehalten, die Beatmungsgeräte, soweit vorhanden, nicht rundum sachgerecht bedient werden – wie erst bei Überlast? Personalknappheit in Gesundheitswesen und Altenpflege ist eh schon Dauerthema.
Als »(d)ie offizielle Zahl der Infizierten [am 16. März in der deutschen Hauptstadt] auf 15 Fälle steigt, … sind die bezirklichen Gesundheitsämter damit überfordert, alle Kontaktpersonen zu informieren. Menschen waren tagelang in ihrer Wohnung auf Tests«, notiert Der Tagesspiegel.23 Wer kein Symptom aufweist, wird nicht getestet, und wer eins aufweist, muss Glück haben. Und das, obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) »testen, testen, testen« als erfolgreichste Maßnahme empfiehlt, um die Entwicklung in den Griff zu bekommen.24 Eine repräsentative Stichprobe testen? Ausgeschlossen. Eine Weile später lobt man sich dafür, dass man es geschafft habe, die Kapazität enorm zu erhöhen (auf täglich 3.000 Tests). Der Sonntagskolumnist des Tagesspiegel hat nachgerechnet: »Nach spätestens drei, vier Jahren ist jeder an die Reihe gekommen. Leute, die krank wurden oder tot sind, brauchen ja keinen Test mehr. Anderswo gibt es Drive-ins. Man fährt im Auto hin (oder lässt sich fahren), es ist sicher, dauert Minuten« und sei enorm effizient, konstatiert er konsterniert auf Seite 1.25
Aber dieses Anderswo liegt im Fernen Osten. Noch wochenlang lässt man Flugzeugreisende aus Hochrisikogebieten ohne jede medizinische Kontrolle ins Land, die im Flugzeug auszufüllenden Informationsbögen sammelt mangels Zuständigkeitsregelung niemand ein.26 Der Planungshorizont rückt auf Tagesdistanz heran: »Die Berliner Polizei steht, Stand heute, absolut stabil und ist gut ausgerüstet«, versichert die Polizeipräsidentin in beruhigender Absicht auf Seite 1 der Tagespresse.27
Das medizinische Personal wird in Deutschland, einem der reichsten Staaten dieser Erde, ohne auch nur halbwegs angemessene Schutzkleidung in den Kampf gegen das Virus geschickt. Weil kein Mundschutz für die Bevölkerung verfügbar ist, obwohl das Robert-Koch-Institut noch 2013 darauf hingewiesen hatte, wird dessen Sinnhaftigkeit anfangs offiziös bestritten. Gleichwohl veröffentlichen Massenmedien Bastelanleitungen für einen Basis-Mundschutz im Eigenbau – eine fast schon kuriose Variante der von Corona ins Spiel gebrachten Deglobalisierung.
Im Schengenraum verriegelt man die nationalen Durchgangstüren, dasselbe übrigens auch zwischen einzelnen Bundesländern, ja sogar zwischen einzelnen Landkreisen (in der Ostprignitz dürfen sich nur noch als ansässig gemeldete Ostprignitzer aufhalten, selbst auswärtige Ferienhauseigentümer dürfen ihr Eigentum nicht mehr betreten), der Warenverkehr wird gestaut, Lieferketten zerbrechen, die schöne Just-in-time-Belieferung28 wird auf einmal kritisch hinterfragt. Kooperation, international, regional? Geht unter im ubiquitären Aufschrei des »Wir zuerst«; engste Verbündete bezichtigen einander der Schurkenstaaterei;29 die Erosion der EU- & Euro-Vision schreitet weiter voran.30
Außerhalb des Gesundheitswesens können 200.000 Stellen für Spezialisten und Experten im Öffentlichen Dienst, darunter Amtsärzte, seit Jahren zu den Gehältern, die von Amts wegen gezahlt werden, nicht besetzt werden; die Justiz steht mit der weißen Fahne in der Hand kurz vor der Kapitulation, wichtige Prozesse werden ohne Urteil eingestellt.31 Eine Kuriosität am Rande: Kurzzeitig wurde in Fachkreisen in Erwägung gezogen, ein Bedingungsloses Grundeinkommen zeitlich befristet einzuführen, und zwar schlicht und einfach deshalb, weil die Verwaltung wohl kaum in der Lage sei, sachgerechte Bedingungsprüfungen durchzuführen. Die Mängelliste ließe sich seitenweise fortführen.
Eine Verwaltung aber, die außer Stande ist, Einreisekontrollen auf Flughäfen, Atemmasken, Desinfektions- und Testmittel zu organisieren und repräsentative Testungen u. a. durchzusetzen, ist gezwungen, entschlossene Handlungsfähigkeit mit Hilfe autoritärer Verordnungen unter Beweis zu stellen. Fabrikschließungen, Kontaktverbote, Ausgangssperren – die große Stilllegung (»Lockdown/Shotdown/Shutdown«) zu verordnen fällt ihr unter den gegebenen Umständen deutlich leichter als Atemmasken zu beschaffen, ein Tempolimit auf Autobahnen, ein Werbeverbot für die tödliche Droge Tabak durchzusetzen, den unsäglichen säkularen sanitären Notstand in deutschen Schulen zu beenden oder eine sach- und sozialgerechte Erbschaftsteuerregelung zu gewährleisten.
Um es gehörig zuzuspitzen: Stilllegung der Wirtschaft und physische Distanzierung der Menschen mit all ihren wirtschaftlichen und persönlichen Folgen müssen als bitterer Ersatz für unzureichende Tests, Schutzausrüstungen, Fachpersonal und Krankenhausausstattungen herhalten, damit die Kurve der neu Infizierten abflacht und die diversen Kapazitätsgrenzen und Mängel überbrückt werden können. Eine komplette Verkehrung der Verhältnisse: Bettenzahl und Testkapazität verfügen über Wirtschaft und Gesellschaft! Und enorm kostspielig, dieses Verkehrt-herum!32
Flankierend wird der Regierung die verheißungsvolle Verkündung froher Botschaften wie »Deutschland wird aus der Krise gestärkt herauskommen«, verbunden mit dem Hinweis, man mache es besser als der Nachbar, zum billigen Anfangsgebot der Stunde.
Sowie gigantische Kreditausweitung, Staatsverschuldung und Geldflutung – auch das in der Stunde der Not ein leicht zu erfüllendes Gebot. Besonderen gesetzgeberischen Aufwand fordert es jedenfalls nicht. Vielmehr genügt gewissermaßen ein Fingerschnippen der Exekutive, um dieses Projekt von bisher einzigartiger Größe aus der Taufe zu heben.
Dessen Für und Wider verdient, näher betrachtet zu werden. Dafür gilt es zunächst, den erwähnten zentralen und grundlegenden, den gesamten Blick verstellenden Denkfehler aus dem Weg zu räumen.
6Bund, Länder und Gemeinden erzielten sogar einen Überschuss von zusammengerechnet 37,6 Milliarden Euro. Quelle: Statistisches Bundesamt, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/08/PD19_322_813.html, zuletzt aufgerufen am 19.2.2020.
7Exportüberschuss-Weltmeister, wohlgemerkt, nicht Exportweltmeister. Für nähere Ausführungen zur Exportüberschuss-Weltmeisterschaft und den Problemen, die sie schafft, s. z. B. AXEL STOMMEL, Basics…, S. 227–262.
8Der Tagesspiegel vom 3.2.2020, Seite 1. Ein paar Seiten weiter hinten, im Lokalteil, kommt das nächste Versagen einer ausgemergelten Verwaltung ans Licht der Öffentlichkeit: »Bei der Ausschreibung für das Schulessen der nächsten vier Jahre ist ein Fehler passiert, der gravierende Auswirkungen haben könnte.« (Ebd., S. 8.) Eigentlich erstaunlich, wie viel trotzdem immer noch klappt. »Routine hält den Laden zusammen«, bieten gestresste Insider als Erklärung an. Leider versagen Routinen gegenüber Neuem, ja sie verhindern angemessenes Handeln. Am Ende droht der Anschluss verloren zu gehen.
9Der Tagesspiegel vom 4.3.2020, S. 8.
10»Spreeradweg verläuft im Sande – Seit 40 Jahren wird über die wichtige Verlängerung nach Spandau diskutiert. Nun soll es losgehen – im Jahr 2024.« (Der Tagesspiegel vom 12.4.2020, S. 12)
11Foundational Economy Collective, Die Ökonomie des Alltagslebens – Für eine neue Infrastrukturpolitik,