Die Erneuerung der Kirche. George Weigel
sowohl das Papsttum als auch die katholische Kirche erschöpft und mutlos.
Dann, nach dem kurzen »Septemberpontifikat« von Johannes Paul I., kam der Papst aus Polen, Johannes Paul II., und flößte der katholischen Kirche neuen evangelikalen Mut ein, als er bei seiner ersten öffentlichen Messe als Bischof von Rom mit kühnen Worten zur Furchtlosigkeit aufrief: »Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!« Sechsundzwanzigeinhalb Jahre lang tat Johannes Paul II. mit der tatkräftigen Unterstützung seines wichtigsten theologischen Beraters, Joseph Kardinal Ratzinger, das, was man noch 1978 für unmöglich gehalten hatte: Er gab dem Konzil eine amtliche Deutung; er führte die Kirche durch das große Ereignis des Heiligen Jahrs 2000 zu einem neuen Pfingsterlebnis, wie Johannes XXIII. es sich erhofft hatte, und er richtete die Kirche mit der »Neuevangelisierung«, die er zur Gesamtstrategie für die Kirche im 21. Jahrhundert und dritten Jahrtausend erklärte, fest und zuversichtlich auf die Zukunft aus.1 Dadurch, dass Benedikt XVI. diese Gesamtstrategie beibehielt, stand sein Pontifikat in dynamischer Kontinuität mit dem seines Vorgängers, der aufgrund seiner Leistungen vielleicht als Johannes Paul der Große in die Geschichte eingehen wird.
Die Turbulenzen, die das katholische Leben seit dem II. Vaticanum prägen, werden oft auf einen anhaltenden kirchlichen Bürgerkrieg zwischen »Progressiven« und »Konservativen« (oder »Traditionalisten«) zurückgeführt. Diese Einteilung hat sich seit dem II. Vaticanum im öffentlichen (und katholischen) Denken festgesetzt und ist den Menschen seither kaum mehr auszutreiben. Und doch muss sie ausgetrieben werden. Denn wenn es darum geht, das katholische Leben nach dem II. Vaticanum zu erkennen, ist die progressiv-konservative Brille eher dazu angetan, unsere Sicht zu trüben, als sie zu schärfen. Und vor allem trübt sie unseren Blick auf die tiefgreifende Reform, die in der Kirche im Gange ist, seit Vincenzo Gioacchino Kardinal Pecci am 20. Februar 1878 zum Bischof von Rom gewählt wurde und sich den Namen Leo XIII. gab. Peccis Wahl – und nicht etwa die Eröffnung des II. Vaticanums am 11. Oktober 1962 – ist der Geburtstag der Kirche des 21. Jahrhunderts. Denn Leo XIII. setzte eine weitreichende Veränderung des Katholizismus in Gang, die die Kirche Schritt für Schritt von dem seit der Gegenreformation des 16. Jahrhunderts vorherrschenden katechetisch-devotionalen Modell weg- und einem neuen Modell entgegenführte: einem Modell, das sich am besten als evangelikaler Katholizismus beschreiben lässt.
Heute, mehr als eineinviertel Jahrhunderte nach ihrer Initiierung durch Leo XIII., ist diese Veränderung alles andere als abgeschlossen. Um sie zu vollenden, bedarf es einer weiteren und tieferen Reform der katholischen Kirche. In dieser Reform wird sich eine radikal neu grundgelegte Vorstellung sowohl von der christlichen Jüngerschaft als auch von der Aufgabe der Kirche niederschlagen: eine Vorstellung von Jüngerschaft und Sendungsauftrag, in der sich die Entwicklung des katholischen Selbstverständnisses von Leo XIII. bis hin zu Benedikt XVI. verdichtet; die anerkennt, dass die Herausforderungen dieses einzigartigen Augenblicks in der Geschichte der Weltkultur eine neue und dynamische Art des Katholisch-Seins in Kontinuität mit dem authentischen Erbe der Vergangenheit erfordern; und die die Kirche aus den seichten Gewässern der institutionellen Instandhaltung herausführt und den Katholizismus auf das hin ausrichtet, was Johannes Paul II. den »tiefen See eines neuen Jahrtausends«2 genannt hat.
Benedikt XVI. ist also insofern ein »Übergangspapst«, als die katholische Kirche mit seinem Pontifikat tatsächlich am Ende einer Ära steht. Doch das nahe Ende trägt die fruchtbare Saat einer neuen Zukunft in sich. In dieser Zukunft wird eine zutiefst katholische Reform – eine Reform, die auf zwei Grundpfeilern ruht, nämlich Wort und Sakrament – die Kirche in die Lage versetzen, mit neuer Energie auf den Missionsauftrag ihres Meisters zu reagieren: »Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« (Mt 28,19).
Das Ende der Gegenreformation
Als Papst Pius IX. 1878 starb, glaubten viele europäische Staatsmänner und Intellektuelle, das Papsttum – und damit auch die katholische Kirche – sei am Ende seiner Möglichkeiten, um die Geschicke des Menschen zu beeinflussen. Nach dem Verlust des Kirchenstaats war der Papst »Gefangener im Vatikan«. Die rasch wachsende Arbeiterklasse eines zunehmend industrialisierten Europas trat in Scharen aus der Kirche aus, und die Säkularisierung der europäischen Hochkultur schritt immer schneller voran und führte nicht selten zu einer geradezu feindseligen Haltung gegenüber der biblischen Religion.3 Und obwohl viele Pius IX. (den ersten Papst, der eine Art Personenkult auslöste) als einen bewundernswerten Menschen in Erinnerung behielten, der von seinen Zeitgenossen schmählich geschmäht worden war, lastete das Bild des »Pio No-No« schwer auf der Kirche, denn er war eben auch der Papst, der seiner Epoche ein schallendes »Nein« entgegengerufen hatte, als er 1864 in seinem Syllabus Errorum (»Verzeichnis der Irrtümer«) die Vorstellung verurteilte, der römische Papst könne und müsse »sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der heutigen Zivilisation versöhnen und vereinigen«. Bei seinem Tod wies in der »Großwetterlage« nur wenig darauf hin, dass der Katholizismus noch einmal imstande sein würde, sich von den Schlägen zu erholen, die er hatte einstecken müssen, seit die Französische Revolution mit ihren kulturellen und politischen Folgen die alten europäischen Regime gestürzt, die traditionellen Autoritätsvorstellungen zerschlagen und das Band zwischen Kirche und Staat, das seit den Zeiten des römischen Kaisers Konstantin für zentrale Aspekte des katholischen Lebens prägend gewesen war, zerschnitten hatte.
Angesichts der antiklerikalen Stoßrichtung des Risorgimento (der Gründung des Nationalstaates in Italien im 19. Jahrhundert) waren die Kardinäle, die in Rom zusammenkamen, um Pius’ Nachfolger zu wählen, nicht einmal sicher, dass sie dies ohne Gefahr für Leib und Leben würden tun können. Der englische Kardinal Henry Edward Manning schlug sogar vor, man solle das Konklave des Jahres 1878 auf Malta – unter dem Schutz der Kanonen der Royal Navy – abhalten.4 Die Kardinäle entschlossen sich letztlich, doch in Rom zu bleiben, aber sie dachten vermutlich, sie hätten mit dem 68-jährigen Vincenzo Gioacchino Pecci lediglich einen Platzhalter gewählt. In Wirklichkeit läutete diese Wahl das Ende des gegenreformatorischen Katholizismus ein und setzte einen Prozess in Gang, der auch heute, im 21. Jahrhundert, noch nicht abgeschlossen ist.
Das Pontifikat Leos XIII. war das längste seit Beginn der zuverlässigen historischen Aufzeichnungen. Im Laufe dieser Amtszeit, die mehr als ein Vierteljahrhundert währte, arbeitete er unbeirrbar, stetig und beharrlich daran, die Voraussetzungen für eine neuartige katholische Auseinandersetzung mit dem kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben der Moderne zu schaffen. Dadurch, dass er eine gründliche Beschäftigung mit den Originaltexten Thomas von Aquins anordnete, die so zur Grundlage eines spezifisch katholischen Umgangs mit der Moderne wurden, reformierte er das philosophische und theologische Denken der Kirche.5 Er war der päpstliche Vater der modernen katholischen Bibelwissenschaft, die er für notwendig hielt, um dem zu begegnen, was die Herausforderung der historisch-kritischen Lesart antiker Texte womöglich an zersetzenden Einflüssen mit sich bringen würde.6 Mit seinen Bemühungen, das zu unterscheiden, was im Leben der Kirche wirklich von Dauer und was vergänglich ist, förderte er die ernsthafte historische Wissenschaft.7 Außerdem begünstigte er, gestützt auf die Ideen von Männern wie dem Deutschen Wilhelm Emmanuel von Ketteler und dem britischen Kardinal Manning, eine neue katholische Begegnung mit dem politischen und wirtschaftlichen Leben und legte 1891 mit der Enzyklika Rerum Novarum den Grundstein zu einer modernen katholischen Soziallehre; schon der Titel weist darauf hin, dass es darin um die »neuen Dinge« der Moderne geht und sich seit der rundweg ablehnenden, antimodernen Haltung Pius’ IX. (die Leo als eine Folge der besonderen Situation und Persönlichkeit seines Vorgängers gedeutet hatte) eine entscheidende Wende vollzogen hatte.8Seine stillschweigende Billigung der Art und Weise, wie das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in der amerikanischen Verfassung geregelt worden war, setzte einen Prozess in Gang, der dazu führte, dass die katholische Kirche die Religionsfreiheit auf dem II. Vaticanum als grundlegendes Menschenrecht anerkannte. Und das wiederum war die Voraussetzung dafür, dass Johannes Paul II. – der Mann, der das bisher längste Pontifikat Leos XIII. übertraf – die Geschichte des 20. Jahrhunderts veränderte.9