Die letzten Keiths auf Balumoog. Wilhelm Ernst Asbeck
brachte Sturm und eisige Kälte. Es war am Tage des heiligen Marcellus, als der Sturm zum Orkan anschwoll. Schon im ersten Anprall war das Vorland mit schäumenden Fluten und Eisschollen bedeckt. Höher und höher stiegen die Wasser; reißende Strudel umbrausten das einsame Eiland.
Einen vollen Tag und eine ganze Nacht kämpften die entfesselten Elemente gegen die Halde; und als endlich am folgenden Mittag der Orkan sich legte und die Fluten allmählich verebbten, bot Balum ein trauriges Bild.
Der reißende Strudel hatte den Damm untergraben; krachend stürzten Erdmassen ins Meer, das Gotteshaus, Höfe und Ställe in die Tiefe ziehend. Gierig wälzt sich das Wasser in die entstandene Lücke; weiter und weiter fraß es sich in die Hallig hinein, bis das Werk von Menschenhand den Gewalten der Natur unterlag und aus dem Kirchspiel Balum das Eiland Balumoog wurde.
Nicht minder schlimm erging es den Bewohnern Nordstrands. Die Fluten wälzten sich durch den Hever, eine flußartige Einbuchtung, an der die Stadt Rungholt lag, durchbrachen die Wälle, und sowohl der Ort selbst als auch die meisten der Kirchspiele versanken im Meer. Eine Nacht hatte genügt, das Gesamtbild der nordfriesischen Inselwelt umzugestalten. Weite Flächen Landes verschwanden; die alte Hafenstadt Wendingsted auf Sylt ging zugrunde. Viele tausend Menschen und unzählige Pferde, Kühe und Schafe ertranken; die fruchtbarsten Ackerländer, Wiesen und Felder waren vernichtet.
Die Keiths aber sind ein zähes, tapferes Geschlecht.
Wieder wurde mit unermüdlicher Ausdauer und Mühe Erde auf Erde getragen, bis eine Wurft entstand, deren Höhe keine Springflut erreichen konnte. Schwere Steine schafften die Halligleute von weither herbei, mit denen sie ihren Damm schützten, und Strandhafer wurde gesät, dessen Wurzeln sich tief in den Boden graben und dem Erdreich Halt und Widerstandskraft verleihen.
Als in jahrelangem Schaffen das neue Werk vollendet war, wurden Pfähle in den Hügel gerammt und hierauf die Häuser erbaut. Schwere Eichenbalken, die Sturm und Wetter trotzten, dienten als Baumaterial. Über jeder Tür waren eiserne Klammern, zu Jahreszahlen geformt, angebracht, die noch späten Geschlechtern verkünden sollten, daß hier eine Friesentat vollendet wurde, die Jahrhunderte überleben würde.
Nun mag der ‚blanke Hans‘ ans Fenster klopfen!
Zeiten gingen und kamen. — Die ruhig zehrende See und verheerende Wasserfluten hatten Land auf Land verschlungen. Manche Hallig, bewohnt oder nur von Vogelschwärmen bevölkert, war dem unerbittlichen Meer zum Opfer gefallen. Weite Gebiete der Uthlande, wie die nordfriesische Inselwelt genannt wird, waren verschwunden, aber Balumoog stand!
Zwei Hügel erhoben sich nun. Der eine mit Uwe Keiths und Ulf Karstensens Gehöften, der andere, etwas niedrigere, mit den Wohnstätten von Agge Tomsen und Emma Meiken, der Witwe.
Freundlich schaute das grüne Eiland aus dem weiten Meere hervor.
Friedvoll lebte die kleine Gemeinde in ihrer Abgeschiedenheit.
*
Die Tür von Uwe Keiths Haus wird aufgerissen, und hinaus stürmen mit lautem Freudengeheul zwei Jungen im Alter von etwa fünf und sieben Jahren. Ihnen folgt, so schnell es nur die Füße tragen wollen, ein zweijähriges Mädel.
„Onkel Ipke kommt!“ rufen die Drei immer und immer wieder und laufen schon lange, bevor das schwerfällige Boot das Ufer erreicht hat, am Strande aufgeregt hin und her.
Der Holzschnitzer springt aus dem Kahn und zieht ihn aufs Land. Dann hebt er lachend die jauchzenden Kinder eines nach dem anderen in die Höhe. Nun geht’s ans Auspacken. Eskel, der Älteste, erhält einen fein geschnitzten, dickbäuchigen Fischkutter mit einem braunen Leinensegel; Dirk bekommt einen kleinen Kastenwagen, in dem er Sand, Muscheln und Steine ausfahren kann. Für die kleine Kerrin hat Ipke eine Puppe geschnitzt und sie mit bunten Farben bemalt.
Während die Kinder mit ihren Schätzen glückstrahlend abziehen, ist Uwe Keith die Böschung heruntergekommen und begrüßt den gern gesehenen Gast.
Frauke-Mutter deckt indessen schon den Tisch, um den Freund durch einen kräftigen Imbiß und einen guten Trunk zu erfreuen.
Keith besitzt eines der schönsten Hallighäuser in den Uthlanden. Es ist aus kräftigen norwegischen Hölzern erbaut, und die Wände sind mit Ziegelsteinen und Muschelkalk ummauert. Am Giebel befindet sich die Jahreszahl 1365 und die Hausmarke seines Geschlechtes: der kräftige Baumstamm mit den zahlreichen Ästen.
Die beiden Männer haben Platz genommen, während die Frau noch eine Weile in der Küche zu tun hat.
Ipke schaut sich im Zimmer um. Alles atmet Ruhe und Beschaulichkeit. Vor dem Fenster stehen Töpfe mit Blumen und die Sanduhr; im Winkel Stuhl und Spinnrad, auf dem Klapptisch das Messingtranlämpchen. Zur Linken befindet sich das breite Wandbett, an der Rückwand ist die Strohmatte als Wärmeschutz angebracht, und von der Decke hängt ein Strick mit Holzgriff zum Aufrichten. Die große, reichgeschnitzte Eichentruhe, worin sich Fraukes Brautausstattung befunden hatte, bildet das Prunkstück des Raumes. Einige Seebilder schmücken die Wände.
Die Hausfrau gesellt sich zu den beiden Männern.
Langsam, bedächtig, jedes Wort abwägend, wird die Unterhaltung geführt.
Eine große Ehre ist Ipke zuteil geworden. Für die alte Pellworm-Kirche soll er ein Kreuz mit einer Christusfigur schnitzen. Er ist sehr stolz über diesen Auftrag und will ein Werk schaffen, woran sich noch viele kommende Geschlechter erbauen werden.
Umständlich übermittelt er die Grüße der Balum-Leute und erzählt von den kleinen Freuden und Sorgen, die ihr Dasein ausfüllen, von ihren Zukunftsplänen und Hoffnungen.
Dann kommt er auf den starken Deich zu sprechen und endlich auf die Prophezeiung und das traurige Ende der alten Meike. Auch von Per Godbersen, dem Mörder berichtet er. Niemand hat ihn wieder zu Gesicht bekommen; aber alle wissen, daß sein Opfer ihn zu sich ins Moor hinabgezogen hat.
Endlich ist Ipke bei dem Punkte angelangt, um dessentwillen er zur Hallig fuhr. Man ist drüben um die Sicherheit der Bewohner des kleinen Eilandes besorgt und fürchtet, daß es nicht mehr widerstandsfähig genug sei, um den bevorstehenden Sturmfluten Trotz bieten zu können. Keith soll mit den Seinen und den übrigen Familien der Wurft wenigstens während der Wintermonate hinter den festen Deich ziehen; dort sind sie sicher und geborgen, und jedermann im Kooge ist bereit, ihnen Unterkunft zu bieten.
Uwe blickt zum Fenster hinaus.
In weiter Ferne zieht sich ‚der goldene Ring‘ um die große Insel; hochmütig und stolz ragt er aus den Fluten hervor.
Nach langer Pause kommt die Antwort: „Ipke, ich danke Dir und Euch allen da drüben für den Beweis Eurer Freundschaft; aber wir fühlen uns sicherer auf unserer Halde als hinter jenem Deich. Mir deucht, daß Meike ihn nicht als Schutz anerkennen wollte; denn ihre Weissagung bezog sich auf Nordstrand, nicht auf unsere Hallig. Wie dem aber auch sei, dieser Boden, auf dem, so weit unser Geschlecht zurückdenken kann, meine Ahnen lebten, ist mir heilig, und eher werde ich auf ihm zugrunde gehen als ihn verlassen!“
Der Gast blickte bedenklich auf Frauke.
„Jeder von uns weiß, wie plötzlich und unerwartet die Gefahr um diese Jahreszeit hereinbrechen kann. So laß mich wenigstens sie zum festen Land bringen. In ihrem Zustand bedarf sie der Ruhe und Sicherheit, und dort ist Beistand zur Hand, sobald sie ihn benötigt. Jedes Haus steht ihr offen.“
Die Frau aber hat sich an ihren Mann geschmiegt und sagt:
„Bevor es so weit ist, daß ich Hilfe benötige, geht noch ein Monat ins Land. Also mache Dir keine Sorge! Aber von meiner Scholle werde ich deswegen doch nicht gehen; denn dort, wo Uwe ist, will auch ich sein, in den Stunden der Freude, der Not und, wenn es sein muß, auch des Untergangs.“
Keith spricht: „Ihr seht Gespenster. Unser Grund und Boden steht sicher, und unsere Häuser sind nicht auf Sand gebaut; wir fürchten nicht den ‚blanken Hans‘!“
Vergebens sind auch die Wege zu Ulf Karstensen, Agge Tomsen und der Witwe Meiken. Niemand denkt daran, den angebotenen Schutz in Anspruch zu nehmen.
Ipke