Die letzten Keiths auf Balumoog. Wilhelm Ernst Asbeck
Hohngelächter ist die Antwort. Mitten im Lachen wird die Kranke jedoch von einem furchtbaren Hustenanfall überwältigt. Es scheint, als ob sie ersticken solle.
Die junge Frau nimmt Meike wie ein Kind in ihre Arme und trägt sie aus der Hütte. Sorgfältig, mit dem Rücken gegen den Hang gelehnt, setzt sie die Alte auf einen Hügel nieder, der der Einsamen offensichtlich als Ruhebank dient, und gibt ihr zu trinken.
Die milde Sommerluft tut der Geschwächten wohl. Allmählich erholt sie sich wieder. Sie ergreift die Hand ihrer Wohltäterin und spricht: „Als ich so jung war wie Du, besaß auch ich ein weiches Herz und Vertrauen zu Gott und den Menschen. — — Mädchen, hättest Du das mit durchgemacht, was ich erleben mußte, Du würdest begreifen, daß ich nicht anders werden konnte, als ich es heute bin.“
Die Junge holt den alten, wackeligen Tisch aus der Hütte und stellt ihn vor Meike auf. Brot, Fleisch, Speck, und Gemüse breitet sie darauf aus. „Stärke Dich erst einmal, Meike; und wenn Du ein wenig zu Kräften gekommen bist, so wollen wir weiter plaudern.“
„Laß mich, Frauke! Es ist mein Wunsch, die müden Augen zu schließen; ich fühle es, mein Weg ist bald beendet.“
„Mein Wunsch aber ist es, Dir den Rest Deines Weges freundlich zu gestalten, auf daß Du mit frohem Gemüt in jenes unbekannte Land eintrittst. — Hilf mir dabei ein wenig!“
„Du bist gut, Frauke; besser als die anderen!“
„Du irrst! Es werden viele so denken wie ich, aber sie haben nicht den Mut, gegen das Vorurteil der Allgemeinheit aufzutreten, oder sie sind in abergläubischer Furcht befangen. — Meike, hast Du nicht selbst dazu beigetragen, daß man Dich meiden und vielleicht auch hassen muß?“
Eine Weile sitzen beide schweigend nebeneinander. Die Kranke ißt. Sie ißt mit dem Heißhunger eines Menschen, der lange Zeit das Nötigste entbehrt hat, und dem jetzt plötzlich die Tafel mit köstlichen Speisen gedeckt wird.
Die Junge schafft inzwischen in der Hütte ein wenig Ordnung, richtet die Lagerstätte, so gut es gehen will, her und packt die mitgebrachten Lebensmittel aus.
Als sie wieder ins Freie tritt, beleuchten die Sonnenstrahlen das runzelige Gesicht der Alten. Es scheint, als ob alles Herbe, Harte daraus verschwinden wolle und etwas wie Friede sich über ihr Antlitz ausbreite.
Frauke hat neben der Einsamen Platz genommen. Sie ergreift die welken, rauhen Hände und streichelt sanft darüber hinweg.
Endlich bricht Meike das Schweigen.
Seltsam weich klingt ihre Stimme.
„Fast glaube ich, daß Dich der Himmel geschickt hat. Und auf Dein Haupt habe ich in blindem Haß den Fluch geschleudert!“
„Laß gut sein! Man hat Dich gekränkt und wie eine Ausgestoßene behandelt. Dein Hassen ist verständlich.“
„Leicht ist es, einen Fluch auszusprechen, aber schwer, seine Folgen wieder abzuwenden.“
„Gib Dich nicht so törichten Gedanken hin. Gott wird sich weder um Deinen noch um sonst eines Menschen Fluch kümmern; das glaube mir!“
„Nein, Gott wird sich nicht darum kümmern, darin magst Du recht haben; aber wir sind von unsichtbaren Wesen umgeben, erdgebundenen, unreinen Geistern; und sie sind es, die mehr Macht über uns und unser Tun besitzen, als Du denkst. S i e sind es, die ich über Dich gebracht habe, und deren Einfluß ich wohl zu rufen aber nicht wieder zu bannen vermag. — Lache nicht, Frauke! Wer viele Jahre, wie ich, abgesondert in tiefster Einsamkeit lebt, nur Haß und Bitternis im Herzen hegt, zieht jene Schattenwesen an. Ich sehe manches, was Du mit Deinen vom Tagewerk erfüllten und auf das Irdische gerichteten Augen nicht zu schauen vermagst. — Vielleicht haben die Leute auf ihre Weise nicht so ganz unrecht, wenn sie mich eine Hexe nennen.“
Die junge Frau lehnte sich mit der ganzen Kraft ihrer gesunden Sinne gegen diese Auffassung auf; und doch kann sie sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren. Sie glaubt sich von Wesen umgeben, die sie zwar weder sehen noch greifen kann, die aber trotzdem zugegen sind. Wie oft in einsamen Stunden, an nebligen Tagen und stürmischen Nächten waren ihr auf Balumoog die gleichen Gedanken gekommen!
Plötzlich dringt leise, wie aus weiter Ferne kommend, Meikes Stimme an ihr Ohr: „Ich will Dir die Geschichte meines Lebens erzählen: Außerhalb des Seedeichs, wo jetzt die Amsinckköge liegen, war früher weithin festes, reiches Marschland. — Blutjung hatte ich geheiratet. Wir lebten froh und glücklich auf unserer Halde. Nichts fehlte uns. Wir liebten uns, waren im Vollbesitz unserer Kraft; fruchtbarer Boden und fettes Vieh nannten wir unser Eigentum. — Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädel, ließen uns hoffnungsfroh in die Zukunft blicken. Sicher fühlten wir uns auf der Wurft und hinter dem festen Deich. Wohl ein Dutzend Bauernhöfe standen dort außer dem unsrigen.
„Dann kam vor jetzt zweiundsechzig Jahren jener entsetzliche 1. November.“
Frauke fällt der Alten ins Wort: „Du hast die ‚Allerheiligenflut‘ von 1570 miterlebt?!“
Sie nickt. Dann fährt sie fort:
„Eine Nacht genügte, um mich vom Gipfel meines Glücks in das tiefste Elend zu schleudern. Ich will Dir nicht die Schrekken aufzählen, die ich durchlebte. — Von Nordwest blies der Orkan ununterbrochen zwei volle Tage hindurch. Als er sich endlich legte, war der Damm durchbrochen, Halden, Höfe, Land und Vieh vernichtet.
Wie durch ein Wunder nur ward ich gerettet.
Volle vierundzwanzig Stunden trieb ich in Nacht und Finsternis auf den Dachsparren unseres Hauses. Ich hatte das Bewußtsein verloren. Die Nägel der Finger waren tief ins Holz eingekrallt.
Das Heulen des Windes, der Prall der hohen Wogen übertönten jede menschliche Stimme. Tiefste Dunkelheit nahm jede Sicht. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie mein Mann und meine beiden Kinder vom Meere verschlungen wurden. —
Ein heftiger Anprall und stechende Schmerzen ließen mich erwachen. Gebälk brach krachend zusammen, und ich versank. Mir deuchte es, als gleite ich in nicht endenwollende Tiefen hinab.
Als ich wieder erwachte, lag ich warm gebettet.
Man erzählte mir, daß auch der Seedeich gebrochen sei, und daß Volgsbüll zum größten Teile zerstört wurde. An der Friedhofsmauer zu Königsbüll war mein sonderbares Fahrzeug zerschellt, ich selbst aber von den Pfarrersleuten im letzten Augenblick gerettet. Sie pflegten mich mit Liebe und Sorgfalt.
Damals, Frauke, dankte ich Gott für meine Rettung. Ich war ja noch jung; ich wußte noch nicht, daß es leichter sei, einen frühen Tod zu finden als ein langes Leben in Schmach und Schmerz verbringen zu müssen.
Kannst Du begreifen, was es heißt, alle Menschen, die uns lieb und teuer sind, von unserer Seite gerissen zu sehen, ja, nicht einmal ihren Leib in geweihte Erde betten zu können? — Nein, Frauke, das vermag nur der zu erfassen, der es selbst erfahren hat. —
Endlich genas ich. Als ich mich vom Krankenlager erhob, war ich zum hilflosen Krüppel geworden.
Aber ich war ja noch jung!
Ich hatte den törichten Glauben, mir stehe noch die Welt offen, und es heiße jetzt nur von neuem aufbauen.
Monate waren vergangen seit jenem Unglückstage ... Am Krückstock schleppte ich mich vorwärts. Herbstwind pfiff über kahle Stoppelfelder. Der Seedeich war wieder gedichtet; aber dort, wo sich meine Heimat befunden hatte, brandete das Meer. Von allen Wurften ragte nur noch unsere aus den Fluten. Die Stützpfähle unseres Hauses standen noch. Vom ehemaligen Deich waren jedoch nur noch einige klägliche Reste übrig geblieben.
Der alte Frerk ritt des Wegs, der Großvater Deines Mannes. Zum Deichgrafen hatte ihn die Harde ernannt. ‚Was willst Du tun, Meike?“ fragte er. — ‚Dorthin zurückkehren, woher ich gekommen bin.‘ — ‚Närrin, Du siehst doch, daß es verlorenes Land ist.‘ — ‚Ich kämpfe darum!‘
Der stolze Mann blickte kalt, fast verächtlich auf mich herab: ‚Kannst Du den Koogdamm wieder aufrichten, wo niemand im Koog außer Dir am Leben geblieben ist und Du Dich