Seewölfe - Piraten der Weltmeere 699. Jan J. Moreno
umfloß die Prothese, als hätte ihr festsitzendes Ende zu brennen begonnen. Old O’Flynn stieß ein erschrecktes Zischen aus.
„Beeil dich, Shane! Oder soll ich Wurzeln schlagen?“
Das Stückchen Felsen, auf dem sie standen, sackte ab. Von einem Moment zum anderen.
Alles ging so schnell, daß Old Donegal erst begriff, als er Blacky schon gut drei Yards über sich an der Abbruchkante hängen sah. Vergeblich versuchte er sich in die Höhe zu ziehen.
Wieder ein harter Ruck – die nächste Etappe auf dem Weg zur Hölle.
Während Shanes Achtersteven unsanft mit dem Geröll Bekanntschaft schloß, ruderte Old Donegal schon wieder mit den Armen. Die verklemmte Prothese hielt ihn aufrecht, und das war unter den gegebenen Umständen schlimmer als ein Sturz.
Dabei geschah alles innerhalb weniger Augenblicke. Keiner der Seewölfe fand Zeit, sich zu besinnen, geschweige denn, etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen. Als die Bodenspalten aufzubrechen begannen, stolperten die Männer hastig weiter, und bis Hasard und die anderen, die immer noch die Führung innehatten, bemerkten, was mit Old Donegal, Shane und Blacky geschah, konnte sich letzterer schon nicht mehr halten.
Schreiend stürzte er fast sieben Yards in die Tiefe, und eine Unmenge Lockeres Geröll prasselte auf ihn und die anderen nieder.
„Ein Tau, verdammt!“ brüllte Big Old Shane. „Werft uns ein Tau zu!“
Dabei wußte er zu gut, daß niemand auch nur einen Tampen bei sich hatte. Aber irgend etwas mußte er tun. Die Gewißheit, auf dem Grund eines düsteren Schachtes gefangen zu sein, war niederschmetternd.
Blacky lag zusammengekrümmt da, schützend die Arme über den Kopf erhoben, und eine Unmenge Erde, lockeres Geröll und Schwefelstaub ergoß sich über ihn. Ob er sich beim Sturz verletzt hatte, war nicht zu erkennen.
Shane hatte selbst genug Probleme. Der Schwefel raubte ihm den Atem. Neben sich hörte er Old Donegal gequält husten. Innerhalb weniger Augenblicke wurde ein ersticktes Keuchen daraus.
Wie aus weiter Ferne drangen Worte zu ihm. Shane glaubte, die Stimme des Seewolfs zu erkennen, doch was Hasard rief, verstand er nicht.
Immer noch bebte der Boden. Niemand hatte je so ein gräßliches, durch Mark und Bein gehendes Knirschen und Bersten gehört. Selbst wenn Schiffsrümpfe beim Enterkampf aneinanderrieben, war es nicht so.
„Wir holen euch raus!“
Mehr Druck prasselte aus der Höhe nach unten. Die Augen brannten vom Schwefelstaub, aber sie auszuwischen, hatte wenig Sinn. Das hätte bedeutet, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Überall war dieser schreckliche feine Staub.
„Wir holen euch …!“
Big Old Shane wußte schon nicht mehr, ob er die Stimme wirklich hörte, oder ob sie nur in seiner Einbildung existierte. Und darüber nachzudenken oder gar zu versuchen, es herauszufinden, blieb ihm keine Zeit.
Von einer unwiderstehlichen, imaginären Riesenfaust gepackt, klatschte er gegen die Felswand. Vergeblich versuchte er noch, sich abzufangen. Der Aufprall schürfte ihm die Hände auf und trieb ihm endgültig die Luft aus den Lungen. Vorübergehend hüllte ihn Schwärze ein. Er balancierte auf dem schmalen Grat zwischen Ohnmacht und Wachen, doch die Schmerzen in den Armen und Old Donegals Gebrüll hielten ihn in der Wirklichkeit fest.
Irgendwie erfaßte er, daß die Bodenspalte, ebenso schnell wie sie sich aufgetan hatte, in sich zusammenbrach. Große Lehmbrocken lösten sich aus der Wand, und die Geräuschkulisse steigerte sich zum ohrenbetäubenden Inferno.
Flieh! hämmerte es in ihm. Bring dich in Sicherheit!
Der erste Impuls war, dem Drängen nachzugeben, halb blind und von Panik erfüllt dem Sensenmann ein Schnippchen zu schlagen. Aber wo fand er Sicherheit? Solange die Schwefelmine in der Tiefe von heftigen Beben erschüttert wurde, konnte jeden Augenblick alles zusammenbrechen. Rücksichtslos waren die Stollen vorangetrieben worden, doch die wenigsten waren ausreichend abgestürzt, und wo Kanthölzer dem Gesteinsdruck trotzten, hatten zumindest Schwefel und stinkende Sickerwässer das Holz zermürbt.
Die Fußketten, die man allen Minensklaven angelegt hatte, waren das größte Hindernis. Oft genug verfingen sie sich auf dem geröllübersäten Boden. Old Donegal Daniel O’Flynn trug als einziger von ihnen keine Ketten. Offenbar waren die Aufseher der Meinung gewesen, allein schon sein Holzbein hindere ihn daran, aufmüpfigen Gedanken nachzuhängen.
Der Alte hatte sich in der Tat alle Mühe gegeben, seine Hilflosigkeit herauszukehren, hatte dabei aber nie riskiert, daß ihn die Inder für überflüssig hielten.
„Meinetwegen bin ich der letzte Dreck für diese Schinder“, hatte er noch vor zwei Tagen geäußert. „Die Hauptsache ist, sie sehen in mir keinen überflüssigen Esser. Solange sie mich unterschätzen, kann das für uns nur von Vorteil sein.“
Old Donegal zögerte nicht, als er mit Shanes verdreckter Gestalt zusammenprallte.
„Verdammt!“ knurrte er gereizt und rammte Shane die Fäuste in den Magen. „Kümmere dich gefälligst um Blacky! Allein schaffe ich es nicht. Und die da oben …“
Wahrscheinlich war es schon zu spät. Das Beste, was ihnen geschehen konnte, war, lebendig begraben zu werden. Im schlimmsten Fall wurden sie von den herabstürzenden Gesteinsbrocken erschlagen oder erstickten im Schwefelstaub.
Von einem krampfartigen Hustenanfall geschüttelt, brach der Admiral ab. Shane hatte ihn ohnehin nicht verstanden – doch das tat nichts zur Sache, solange er seine Gesten richtig deutete.
Gemeinsam befreiten sie Blacky von dem letzten Geröll, das seinen Unterleib und die Beine bedeckte. Blacky war schlichtweg im Traumland. Old Donegal versuchte, ihn mit sanften Schlägen ins Gesicht wieder auf die Beine zu bringen, doch begann nur die dicke Schicht aus Schweiß, Dreck und Schwefelstaub abzublättern.
„Hoffentlich hat er keine inneren Verletzungen.“
Shane schaute ihn verständnislos an.
„Hoffentlich … Ach was!“ Old Donegal winkte heftig ab.
Gemeinsam zerrten sie den Bewußtlosen weiter. Die Felsspalte mündete in einen halbverschütteten Stollen. Sich da drinnen zu verkriechen wie ein Maulwurf, erschien immer noch besser, als sich unter freiem Himmel von einstürzenden Felswänden erschlagen zu lassen.
Unmittelbar hinter ihnen brach die Spalte endgültig zusammen. Felsspalten von der Größe eines Fuhrwerks lösten sich aus den Wänden und donnerten alles zerschmetternd nieder. Dazwischen türmte sich lockeres Geröll.
Abgesprengte Gesteinssplitter schwirrten durch die Luft. Einer davon traf Old Donegal am Hinterkopf. Der Admiral verdrehte die Augen und sackte in sich zusammen.
Sie hatten keine Möglichkeit, den drei Männern beizustehen, die innerhalb weniger Augenblicke in die Tiefe der Spalte verschwunden waren. Der Seewolf rief noch nach unten, daß sie helfen würden, doch er glaubte selbst nicht daran. In dem Moment war ihm klar, daß er seinen kauzigen alten Schwiegervater wohl nie wiedersehen würde.
Wahrscheinlich würde keiner von ihnen überleben. Das Chaos war perfekt und strebte einem neuen Höhepunkt entgegen.
Hinter den Arwenacks, keine acht Schritte entfernt, öffnete sich ein neuer Abbruch wie ein düster gähnender Höllenschlund. Das Gebiet der überwiegend im Tagebau betriebenen Schwefelmine veränderte sich rasend schnell.
„Wir brauchen Taue!“ rief Edwin Carberry, der Profos der Arwenacks.
Hasard schüttelte stumm den Kopf. Sie hatten nichts außer den Fetzen, die sie am Körper trugen, und ihren bloßen, vom Schwefel angefressenen Händen.
„… oder Stangen. Die Kanthölzer der Stege und Rampen sollten genügen.“ Carberry schwieg wieder. Er sah ein, daß sie es schaffen konnten. Ein Blick in Hasards verhärmt wirkendes Gesicht verriet ihm, daß der Seewolf nahe daran war, zu resignieren.
„Verdammt, Sir, willst