Gehalten, wenn nichts mehr hält. Katrin Schmidt
habe ich auch die Zeit mit Dalia sehr bewusst erlebt und gelebt. Für mich war es eine schwere Lebenskrise mit ganz unterschiedlichen Facetten.
Im Prozess der Verarbeitung verfasste ich viele Texte, sie flossen aus mir heraus. Ich fotografierte in der Natur und fügte die Bilder und Texte in einem Buch zusammen. Das Buch half mir, mich selbst zu erkennen und die Vielschichtigkeit meines im Inneren Durcheinandergebrachten zu ordnen. Ich setzte mich intensiv mit meiner Tochter, meinem Glauben und mit den ganz unterschiedlichen Reaktionen von Menschen auf meine Situation auseinander.
Nach einem Gottesdienst, den ich mit meinem Mann gestaltete und während dessen auch Texte aus meinem Buch vorgelesen wurden, hatte ich einige Gespräche mit Frauen, die ähnliche Erlebnisse zum Teil unverarbeitet mit sich herumtrugen. Sie sagten mir, dass meine Texte ihnen helfen würden, an den tief versteckten Schmerz in ihnen heranzukommen. Ich würde ihnen Gefühle aufzeigen, von denen sie noch nicht einmal gewusst hatten, dass sie in ihnen sind. Ich konnte auch noch mit anderen betroffenen Frauen und einigen Personen mit ganz anderen Leidensgeschichten sprechen und sogar mein Buch weitergeben – immer mit der Reaktion, dass es hilfreich bei der Verarbeitung der eigenen Geschichte sei.
In mir wuchs der Wunsch, meine Erfahrung mit Dalia für andere zu öffnen, verbunden mit der Hoffnung, anderen Menschen im Leid zu begegnen. Ich wünsche mir, Mut zu machen, sich in allem Leid und Schmerz Jesus zuzuwenden, der alle unsere Wunden verbinden und heilen möchte. Mir ist bewusst, dass meine Geschichte sehr individuell ist und jeder die Dinge, die ihm im Leben passieren, anders aufnimmt und erlebt. Dennoch hat es mir persönlich immer wieder geholfen, mich in den Gefühlen eines anderen Menschen wiederzufinden und zu merken: »Ich bin nicht allein in einer schwierigen Situation.« So wünsche ich mir auch, dass es anderen mit meiner Geschichte ähnlich geht.
Mein Erleben beinhaltet intensive Phasen der Ohnmacht, des völligen Am-Ende-Seins und des Glaubenskampfes bis hin zu neuer Hoffnung und einem erneuten Wiedereinstieg ins Leben, mit einer ganz neu gewonnenen Freude. Leben pur.
Es war ein schwieriger Weg, und von Anfang an gab es die Möglichkeit, all dem durch einen Schwangerschaftsabbruch aus dem Weg zu gehen und ein schnelles, scheinbar schonendes Ende für alle herbeizuführen. Ich denke aber, dass es wichtig ist, auch schwierige Wegstrecken in unserem Leben anzunehmen und zu gehen. Im Leid, was sich niemand wünscht oder selbst wählen würde, liegen meiner Erfahrung nach tiefe Chancen verborgen. Ich habe es so erlebt.
Jesus möchte uns in unserem Leid begegnen. Er leidet mit uns und für uns. Das zu erkennen, ist nicht immer leicht. Es ist stets neu herausfordernd und ein lebenslanger Wachstumsprozess. Ich selbst hatte Zeiten des Anklagens, in denen ich Gott am liebsten den Rücken gekehrt hätte. Es lohnt sich aber, sich Lebenssituationen bewusst zu stellen und zuzulassen, dass Jesus heilend an uns wirken und uns bei allem begleiten darf.
Ich persönlich bin mir heute sicher, dass ich meine Schwangerschaft mit Dalia besser verarbeiten konnte, gerade weil ich mich auf sie und das damit verbundene Leid eingelassen habe. Ich kann heute vielmehr als vorher Menschen verstehen, die sich anders entschieden haben. Ich weiß, wie leicht es einem gemacht wird, und ich bin mir sehr bewusst, dass ich ein sehr stabiles familiäres Umfeld hatte, ohne das ich es nur schwer geschafft hätte. Ich denke, dass Jesus, auch wenn Menschen sich in so einem Fall anders entscheiden, als ich es getan habe, genauso mit den Leidenden geht und Heilung und Vergebung schenken möchte. Ich habe mit einigen Frauen gesprochen, die einen Schwangerschaftsabbruch erlebt haben. Als ich ihre weitere Geschichte anhörte, begriff ich erst, mit welchen Fragen und Belastungen sie nun weiterleben müssen. Es geht mir in keinem Fall darum, anzuklagen, wie sich jemand entscheidet. Sondern zu sagen, dass es meiner Meinung nach gute Gründe gibt, sich schwierigen Lebensumständen zu stellen. Was unsere Entscheidungen mit uns machen, sehen wir oft erst im Nachhinein.
Die Reaktionen auf meine Situation aus meinem unmittelbaren und weiteren Umfeld haben mir gezeigt, dass es im Gegensatz zu früheren Zeiten bereits einen gesellschaftlichen Umgang mit dem vorgeburtlichen oder kurznachgeburtlichen Versterben von Kindern gibt. Trotzdem ist es auch immer noch ein verstecktes, an die Seite gedrängtes Thema. Es gibt schmerzliche Haltungen und Meinungen zu diesem Thema, die Betreffenden zusätzlich schweren Kummer bereiten und im Heilungsprozess sehr hinderlich sein können.
Ich schreibe dieses Buch auch, um Angehörigen einen Einblick zu geben, wie intensiv die Trauer um ein ungeborenes Kind sein kann.
Um in meine Geschichte mit Dalia einsteigen zu können, ist es wichtig, einleitend ein paar Dinge über mich zu erzählen. Ich bin heute 36 Jahre alt und der Verlust meiner Tochter war nicht die erste schmerzliche Erfahrung in meinem Leben. Aber gewiss diejenige, die mich am meisten an meine Grenzen gebracht hat.
1.
Vorgeschichte
Ich bin in einer tollen Familie mit drei Geschwistern und liebenden Eltern aufgewachsen. Wir hatten einen intensiven Familienzusammenhalt, so konnte ich eine gute, entspannte Kindheit genießen. Ich konnte mich selbst entfalten und wuchs mit der Gewissheit auf, dass meine Eltern und mein Vater im Himmel mich liebten. Der Glaube war immer Teil unseres Familienlebens, das Gemeindeleben ein fester Bestandteil unseres Alltags. Seit früher Kindheit lernte ich Gott als meinen Schöpfer und Vater kennen und nahm Jesus als meinen persönlichen Heiland und Erlöser in mein Leben auf. Ich nahm meine Gottesbeziehung sehr ernst und lebte meinen Alltag in Beziehung mit Gott. Als ich ins Jugendalter kam, ging es mir weiterhin sehr gut. Ich war eine gute Schülerin, sportlich und in anderen Dingen begabt. Da mir viele Dinge leicht von der Hand gingen, hatte ich immer Kapazität für angenehme Beschäftigungen und Freundschaften. Ich hatte es gut im Leben und war zufrieden. Natürlich gab es zwischenzeitlich die eine oder andere Schwierigkeit, Enttäuschung oder Krankheit, aber nichts, was mich aus der Bahn geworfen hätte. Meine Pubertät verlief relativ glatt. Ich war mit mir, Gott und der Welt im Reinen. Neben meiner Familie war ich mit einer tollen Freundin gesegnet und befreundete mich, als ich zwanzig Jahre alt war, mit dem jungen Mann, in den ich mich mit Kopf und Herz verliebt hatte. Bei ihm spürte ich von Anfang an, dass ich mir vorstellen konnte, mein ganzes Leben mit ihm zu teilen. Mein Leben verlief sehr gut.
Bis zu dem Tag, als alles das erste Mal buchstäblich auf den Kopf gestellt wurde. Genau mit meinem Kopf hatte es zu tun. Als ich einundzwanzig Jahre alt war, wurde bei mir ein mandarinengroßer Hirntumor direkt am Sehnerv festgestellt. Vier Monate vor der Diagnose hatte sich mein Sichtfeld verändert. Ich sah alles doppelt und auf der rechten Seite sogar mehrfach. Beim Sport bekam ich Probleme, konnte beim Volleyball den Ball immer schwerer orten und hatte große Schwierigkeiten, wenn ich Schiedsrichter sein musste. Nach einiger Zeit passte sich mein Gehirn an die neue Situation an, ich konnte wieder besser spielen, obwohl meine Sicht sich eher verschlechterte. Teilweise sah ich sieben Bälle auf mich zufliegen und lernte, den mittleren Ball anzunehmen. Was für ein faszinierendes Gehirn wir doch haben. Ich war aber definitiv körperlich so eingeschränkt wie noch nie. Vor der Diagnose und nach vielen unnützen Augenarztterminen dachte ich, ich müsste nun mit der neuen Beeinträchtigung leben und mich, so gut es geht, auf mein Sehproblem einstellen. Ich ließ mich nicht wirklich runterziehen, fuhr sogar noch auf eine Skifreizeit, weil ich mich nicht einschränken lassen wollte. Ich war fest entschlossen, positiv weiterzuleben. Irgendwann meinten meine Eltern, dass es so nicht weiterginge und ich nun weitere Schritte gehen müsste. Mit einer Kernspintomografie kam dann die Wahrheit ans Licht. Am Tag der Diagnose hatte ich das erste Mal im Leben das Gefühl, dass alles um mich herum erstarrt. Nichts war mehr, wie es gewesen war. Ein tiefes schwarzes Loch tat sich auf. Angst, die durch Mark und Bein geht und alle anderen Gefühle auslöscht.
Gedanken überfluteten mich: Was ist, wenn ich sterbe? Was, wenn ich eine langfristige Behinderung haben werde? Was erwartet mich nach dem Tod? Ich hatte die feste Gewissheit auf ein Leben bei Gott nach dem Tod, aber nun wollte ich es genau wissen: Wie würde es konkret aussehen? Was würde mich erwarten? Diese Emotionen und Gedanken, die ich noch nie gehabt hatte, waren stark. Es lag ein dunkles Tal vor mir. Es war aber nicht so, dass mein Glauben an Gott erschüttert wurde. Ich schaute auf mein Leben und wusste, dass ich bisher nicht viel zu kämpfen gehabt hatte. Ich war dankbar für alles Gute, was ich bisher erlebt hatte, und konnte es annehmen, dass ich nun durch eine schwierige Zeit gehen musste.
Nach einer baldigen Operation erholte ich mich innerhalb eines Jahres, auch meine Sehkraft