Gehalten, wenn nichts mehr hält. Katrin Schmidt

Gehalten, wenn nichts mehr hält - Katrin Schmidt


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konnte.

      Der Arzt brauchte nicht lange, um das Wort Anenzephalus auszusprechen. Er erklärte uns, dass sich bei unserem Kind kein Schädelknochen gebildet habe und auch nicht mehr bilden würde. Das Gesicht sei recht normal entwickelt, aber oberhalb der Augen, am Hinterkopf bis zum Hals hinunter sei alles offen. Das Gehirn sei in diesem frühen Stadium noch ganz normal entwickelt und durch eine Haut, die es vom Fruchtwasser abgrenzt, geschützt. Mit dem weiteren Verlauf der Schwangerschaft würde sich diese Haut immer mehr durch das Fruchtwasser zersetzen, somit würde auch ein langsamer Zersetzungsprozess des Gehirns beginnen. Dies hier so aufzuschreiben, ist nicht einfach für mich. So konkret habe ich es den wenigsten Menschen erzählt. Es ist schwer zu beschreiben, was in einem vorgeht, wenn man dies über das eigene Kind gesagt bekommt. Wir sahen es ja zudem mit eigenen Augen. Da war so viel Schockierendes und doch so viel Liebe.

      Unser Kind bewegte sich, so wie ich es auch schon von unserem Sohn in der ersten Schwangerschaft kannte. Ein Ultraschall kann einem die Tatsache, dass da ein Kind in einem heranwächst, bewusster machen. Uns zeigte es jetzt mit aller Deutlichkeit die schonungslose Situation, in der wir nun steckten. Ich hatte bei allem nur einen Gedanken in meinem Kopf: Unser Kind hatte keine Chance auf Leben. Da bestätigte der Arzt auch schon meine Befürchtungen. Er sagte, dass Kinder mit diesem Krankheitsbild außerhalb des Mutterleibes nie überleben. Im Mutterleib wären sie gut versorgt und würden so meist den Geburtstermin erreichen. Dann würde das Kind entweder bei der Geburt sterben oder eventuell sogar noch lebend geboren werden, um dann innerhalb der nächsten Stunden oder Tage zu sterben. Das Gehirn ist einfach schutzlos. Leider könne nichts für unser Kind getan werden. Die maximale Lebenserwartung läge bei zwei Wochen. Genaueres könne er über den tatsächlichen Verlauf von Schwangerschaft und Geburt jedoch nicht sagen, denn ein solches Kind würde heutzutage nicht mehr ausgetragen werden. Dadurch hätten die Ärzte auch kaum praktische Erfahrungen mit diesem Krankheitsbild. Da waren wir innerhalb von wenigen Minuten auch schon beim nächsten Thema: Schwangerschaftsabbruch.

      Wie kann ein Mensch das, was wir jetzt in ungefähr sieben Minuten gehört und gesehen hatten, irgendwie verarbeiten und damit umgehen? Es war einfach nur völlig schockierend. Doch es gab keinen Weg mehr zurück. Unser Kind war in mir und schon auf eine beachtliche Größe herangewachsen – aber wir bekamen das direkte Angebot, alles zu beenden. In mir stieg das Grauen hoch, alles war einfach nur grausam, egal wie es auch verlaufen würde. Es gab keinen einzigen Hoffnungsschimmer, egal wie wir uns entscheiden würden. Das Ende dieser Schwangerschaft würde grausam sein. Es kam mir vor, als würde ich mit dem Auto in einen dunklen Tunnel ohne Wendemöglichkeiten mit Vollgas auf eine Mauer zurasen, an der ich zerschmettern musste. Was uns bevorstand, war ein Horrorszenario ohne Ausweg. Außer Gott tat ein Wunder – dieser Option gab ich durchaus Raum, denn ich glaube an Gottes heilende Kraft.

      Der Arzt hatte bei der Untersuchung auch noch festgestellt, dass unser Kind neben dem offenen Kopf auch noch einen offenen Rücken hatte, wodurch die auffällige Körperkrümmung zustande kam, die schon in der neunten Schwangerschaftswoche zu beobachten gewesen war. Natürlich stand sofort die Frage im Raum, ob ich in ausreichendem Maße ein Folsäure-Präparat genommen hatte, was allen schwangeren Frauen angeraten wird und in aller Regel vor den Fehlbildungen unseres Kindes schützt. Ich konnte diese Frage, die mir noch sehr häufig gestellt wurde, zum Glück bejahen, hatte ich doch schon mehrere Monate vor der Schwangerschaft täglich dieses Präparat genommen. Der Arzt erklärte die Ursache der Fehlbildungen mit einem zufälligen Gen-Defekt, der sich nur auf dieses Kind beziehe und nicht vererblich sei.

      Im abschließenden Gespräch gab uns der Arzt noch einige Erläuterungen zu einem Schwangerschaftsabbruch. Wir lehnten diesen jedoch kategorisch ab. Die Entscheidung über Leben und Tod lag allein in Gottes Hand. Ich ahnte nicht, wie mich dieses Thema noch beschäftigen würde und wie meine Einstellung zu diesem Thema durch unsere Erfahrungen in den nächsten Wochen nochmals sehr viel differenzierter und individueller bedacht würde.

      Der Arzt gab uns seine Nummer mit und ermutigte uns, ihn jederzeit anzurufen, wenn wir Gesprächsbedarf hatten, er bot uns auch sofort psychologische Unterstützung durch zum Krankenhaus gehörige Psychologen an, was wir als fürsorglich empfanden.

      An den Rückweg kann ich mich nicht mehr erinnern, es ist wie ein Filmriss, obwohl mir sonst alle Details dieses Tages präsent sind. Da war nur dieses Gefühl des totalen Zerschmettertseins. Dann sehe ich mich vor meinen Eltern stehen, als wir unseren Sohn abholten. Ich sagte nur einen Satz und weinte dann das erste Mal: »Unser Baby hat keine Chance.« Es sollten noch viele Tränen folgen, die tränenreichste Zeit meines bisherigen Lebens.

      Wir schilderten meinen Eltern alles kurz und fuhren dann weiter zu Manuels Eltern, die auch wussten, dass wir an diesem Tag eine wichtige Untersuchung gehabt hatten. Da wir ein enges Verhältnis zu beiden Herkunftsfamilien haben, war uns ganz klar, dass wir ihnen sofort davon erzählen würden. Wir standen unter Schock, waren überfordert und konnten überhaupt nicht abschätzen, was da alles auf uns zukommen würde. Es war ja auch alles noch so neu. Als wir Manuels Eltern alles erzählt hatten, waren sie sehr bestürzt und fassungslos. Meine Schwiegermutter fragte, ob sie die Brüder und Schwägerin anrufen dürfte, damit wir alle zusammen sein könnten und alle zugleich erfahren würden, was los war. Bald waren wir umringt von den vier Brüdern meines Mannes und unserer Schwägerin. Schweigend, bedrückt und völlig fassungslos saßen wir da.

      Manuel und ich sagten an diesem Nachmittag, dass wir offen mit der Situation umgehen und kein Geheimnis aus der Sache machen wollten. Dass wir unser Kind austragen würden, mussten wir nicht betonen, weil diese Einstellung in unseren Familien sehr klar vertreten wird und alle davon ausgingen, dass wir so handeln würden. Wir erzählten noch am Abend dieses Tages unseren engsten Freunden von unserer Situation und erwähnten auch hier, dass wir mit der Situation offen umgehen wollten. Noch ahnten wir nicht, dass dieser Entschluss ziemlich voreilig gefasst war und uns in der nächsten Zeit noch einigen Kummer bereiten sollte.

      Heute würde ich viel behutsamer mit dieser ersten Phase des Schocks und der ersten Auseinandersetzung mit der Situation umgehen. Durch unsere Öffnung nach außen kamen schon am nächsten Tag die ersten Reaktionen von Menschen, mit denen wir persönlich noch nicht einmal gesprochen hatten. An den ersten zwei Tagen bekamen wir einige liebevolle SMS. Verwandte und Freunde teilten uns mit, dass sie an uns denken, für uns beten und es gut fänden, dass wir unser Kind austragen würden.

      Diese ermutigend gemeinten Worte beinhalteten schon eine Wertung unserer Entscheidung. Wer hier etwas gut fand, war mir eigentlich egal. Ich weiß, dass das nett gemeint war. Es sollte unsere Entscheidung untermauern und uns Achtung entgegenbringen. Doch ich merkte bereits bei den ersten Bemerkungen in diese Richtung, dass sich etwas in mir sträubte. Jeder, der dieses Kind nicht im Bauch hatte, konnte leicht sagen, was gut ist. Ich begann, das nicht mehr so leicht zu finden.

      Durch diese ersten Reaktionen kamen zum ersten Mal die Fragen in mir auf: War es wirklich gut, dieses Kind auszutragen? Was würde ich meinem Kind und mir damit antun?

      Unsere Verwandten und Freunde wussten nicht alles, was ich gehört hatte. Die Details um die Krankheit unseres Kindes ließen einige Fragen in mir aufsteigen, die sich mit der Zeit noch weiter in den Vordergrund drängen sollten. Ich bekam große Angst, mein Kind starken Qualen auszusetzen und mir selbst einen Leidensweg zuzumuten, von dem ich nicht wusste, wie ich daraus hervorgehen würde. Ich konnte mir nur vorstellen, daran zu zerbrechen.

      Und dann war da wieder die Frage, die in meiner ersten Schwangerschaft aufgekommen war: »Würde ich mit meinem Kind auch meinen Glauben verlieren?«

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