Pächter der Zeit. Thomas Flanagan
hohen Wangenknochen sah er mehr denn je aus wie ein Indianer aus den amerikanischen Ebenen.
»Kilpeder ist sprunghaft angewachsen«, sagte Bob ohne Vorrede. »Hugh und ich können die Stadt offenbar nicht eine Nacht lang unbeaufsichtigt lassen.«
»Fünfzehn«, erwiderte Ned. »Berittene Polizei. Sie sind gestern nachmittag gekommen, in ihren Umhängen, die Karabiner über die Schultern gehängt. Sie haben einen eigenen Sergeant, aber ein Inspektor war auch dabei, um sie Honan zu übergeben.«
»Die Armee selber steht in Kerry«, erzählte Bob. »Sie sind von Limerick Junction aus nach Süden gegangen.«
»Wir haben Glück, daß sie nicht auch hier sind«, sagte Ned. »Sondern nur Peeler.«
»Nur Peeler«, wiederholte Bob mit trügerischer Sanftheit.
»Wir haben wirklich genug zu tun«, sagte Ned. »Von jetzt bis zum festgesetzten Tag.«
»Bis zum Sechsten, meinst du«, sagte Bob in demselben lässigen Tonfall, und Ned starrte ihn einen Moment lang wütend an, dann lächelte er.
»Ja«, erwiderte er. »Bis zum Sechsten. Bis zur Nacht des Fünften, um ganz korrekt zu sein. Aber wir greifen am Sechsten an, nach der Dämmerung. Sie reden wohl sehr gern, da unten in Kerry.«
»Das ist ihnen schon immer nachgesagt worden«, sagte ich.
»Wir haben das Datum nicht von jemandem aus Kerry erfahren«, erklärte Bob, »sondern von einem Yank wie dir. Einem Mann namens Reilly. O’Connor versteckt sich in Iveragh, und seine Männer sind versprengt.«
Ned nickte, lehnte sich dann an den Bücherschrank, umfaßte seine Ellbogen mit den Händen und hörte zu, lauschte Bobs Bericht über alles, was wir in Killarney erfahren hatten. Besser gesagt, was Bob erfahren hatte, denn es überraschte mich, wie aufmerksam er gewesen war; er hatte sich die Abzeichen verschiedener Regimenter gemerkt und wußte noch genau, was wir gesehen und gehört hatten. Die Einrichtung des Zimmers, sicher und behaglich, schien seine Worte zu tadeln, als ob er Soldaten und Pferde durch die enge Tür hereingebeten hätte.
»Aber weder Reilly noch Timoney wissen, warum er seine Leute auseinandergejagt hat«, sagte Bob. »Und die Patrouillen ziehen sich bis hin zu den Derrynasaggarts. Wir sind an einer vorbeigekommen, aber sie haben uns nicht aufgehalten.«
»Gut«, sagte Ned, fast gleichgültig. »Kommt mit in die Küche, ihr beiden.« In der Tür blieb er stehen und fügte hinzu: »Hugh, bring den Examiner mit.«
Die Zeitung war offen über dem Sessel ausgebreitet, in dem ich meine Abende zu verbringen pflegte, beim Feuer, und die Seite, auf die mein Blick fiel, sah irgendwie fremd aus, eine Spalte neben der anderen über ein einziges Ereignis, einige Abschnitte waren in dickeren Buchstaben gesetzt als die übrigen. Ich zog mein Brillenetui aus der Brusttasche und setzte die Brille auf. Einer der kühn hervortretenden Abschnitte schwamm in mein klarer gewordenes Blickfeld, wie ein Fisch, der aus trübem Wasser an die klare Glaswand seines Aquariums schießt.
»Sie waren schmutzig, zerlumpt, geschwächt und zitterten«, las ich, »als ob die Armenfürsorge die Skelette aus ihren Krankenstationen auf die Kais von Dublin geschafft hätte. Sie trugen die seltsamste und buntest zusammengewürfelte Kleidung, und doch hatten die meisten von ihnen Geld, und es wurde auch eine große Anzahl von Revolvern gefunden, die sie auf der Flucht weggeworfen hatten. Der Anblick, den sie boten, war eine seltsame Mischung aus Wildheit und Erbärmlichkeit. Die Menge der rüpelhaften Zuschauer, die das Schauspiel angelockt hatte, stieß vereinzelte Rufe rebellischen Trotzes aus, die diese geschlagene und hoffnungslose Fenier-›Armee‹ jedoch nicht beachtete.«
Gnädiger Gott, dachte ich, was ist das für eine Katastrophe? Und ich faltete die Zeitung wieder zusammen, um die erste Seite lesen zu können. Dort gab es zwei Artikel, jeder mit seiner Schlagzeile in großen, schwarzen Lettern, und keine von beiden sagte mir etwas, und ich konnte auch keinen Zusammenhang zwischen beiden erkennen. Ein Artikel behandelte die Festnahme von über hundert Rebellen in den Docks von Dublin, die soeben von der Fähre aus Liverpool an Land gegangen waren. Der andere Artikel berichtete über den »gewagten« und »verbrecherischen« Versuch der irischen Fenier, Chester Castle zu besetzen. Und das verblüffte mich nun wirklich, denn das einzige Chester, von dem ich je gehört hatte, lag irgendwo in England. Ich vergaß meinen Auftrag, ließ mich in den Sessel fallen und schob mir die Brille höher auf die Nase.
Vage sah ich in meiner Vorstellung eine Burg wie die, die Sage und Lied uns beschert haben, massiv, von Türmen gekrönt, in einsamer Eminenz, während wilde Wogen sich an den Felsen ihrer Fundamente brachen. Was hatte solch eine Zitadelle mit den düsteren Vogelscheuchen auf den Kais von Dublin zu tun?
Freundlicherweise lieferte der Examiner mir eine Erklärung, wie er das schon so oft in der Vergangenheit bei weniger wichtigen Fragen getan hatte. »Hätte die Konspiration ihr kompliziertes Ziel erreicht«, teilte er mir mit, »dann wären die Folgen äußerst schwerwiegend gewesen. Mindestens 10000 Gewehre und ein großer Vorrat an Munition befinden sich im Arsenal der Burg. Die Rebellen, die fast 1000 Mann stark waren, hatten sich in den vergangenen Tagen in Liverpool versammelt, das 15 Meilen nördlich von Chester liegt, und sie hatten den sorgfältig entwikkelten Plan, in Holyhead die Fähre an sich zu bringen und die Eisenbahn und andere Kommunikationsmittel zu zerstören. Drogheda an der irischen Ostküste war ihr geplanter Zielhafen, und in dieser Stadt ist von der Polizei eine große Anzahl Fenier verhaftet worden.«
Stärker noch als meine Erkenntnis einer Katastrophe waren meine Gefühle von Verwirrung und Furcht. Wir hatten natürlich immer gewußt, daß es irgendwo, weit entfernt von den Hügeln von Cork, ein Direktorat oder einen Obersten Rat gab, oder wie immer dieses Gremium sich nun, jeden Monat anders, gerade nennen mochte. Und wir hatten gewußt, daß es uns auf irgendeine Weise, vielleicht durch Zauberei, mit Waffen versorgen würde. Vielleicht hatten wir in unserer Unschuld angenommen, daß sie aus Amerika kommen würden, riesige Dampfer, bis zum Bersten vollgestopft mit glänzenden, geölten Gewehren. Ich machte mich wieder über den Examiner her, konnte aber dem Gelesenen keinen Sinn entnehmen. Dann fiel mir ein, daß ich ihn schließlich nur in die Küche zu bringen brauchte.
Und so geschah es, daß wir, aus den vertrauten Seiten des Examminer, vom fehlgeschlagenen Überfall auf Chester Castle erfuhren, durch den Waffen für den Aufstand besorgt werden sollten. In den folgenden Wochen lieferten die Illustrated News und ähnliche Zeitschriften ihren englischen Lesern die dazugehörigen Bilder, und Chester Castle war keine romantische Bastion mehr, abgesehen von seinem einen erhaltenen Turm, sondern eine düstere Ansammlung von nützlichen Lagerhäusern und ähnlichem, und unsere Fenier wurden als häßliche, verworfene Bande dargestellt, aus deren Arbeiterjacken Revolverläufe hervorlugten. Für den Moment jedoch war meine Phantasie auf ihre eigenen Produkte angewiesen.
Ned und Bob standen nebeneinander in der Küche, sie hatten die Generalstabskarte auf dem Tisch ausgebreitet und hielten Teetassen in den Händen. Bob hatte seinen Mantel aufgeknöpft, ihn jedoch noch nicht ausgezogen. Ich hielt ihnen die Zeitung hin, aber Ned hob seine Augen nicht von der Karte, es war Bob, der mir die Zeitung abnahm. Es war jedoch offensichtlich, daß Ned ihm bereits das Wesentliche erzählt hatte.
»Soldaten« las Bob laut vor, »wurden in den Stunden vor dem geplanten Überfall mit der Bahn nach Chester geschafft und bezogen Stellung, um jegliche feindliche Handlung der Insurgenten zurückzuschlagen.«
»Hervorragende Stellung«, sagte Ned. »Unsere Jungs hatten nur Revolver. Es wäre ein verdammtes Gemetzel gewesen. Irgendwo steht, daß sie fünftausend Soldaten hingeschickt hatten.«
»Der Tee ist frisch aufgegossen, Hugh«, sagte Bob und übernahm Neds Aufgabe, mich in meinem eigenen Haus in Sicherheit zu wiegen.
»Wußtest du von diesen Plänen, Ned?« fragte ich.
»Wir sollten vor dem festgesetzten Tag bewaffnet werden«, antwortete Ned. »Mehr habe ich nicht gewußt.«
Bob legte, wie um sich zu wärmen, beide Hände um seine Tasse. »Das ist verdammter Unsinn, Ned. Mörderischer Unsinn. Und das müßte dir auch klar sein. Wenn diese Gewehre in Drogheda an Land gebracht worden wären, dann