Pächter der Zeit. Thomas Flanagan
Tweed, mit rundem, massivem Kopf und Gesichtszügen, die schon auf den ersten Blick zuversichtlich, interessiert, freundlich gewirkt hatten. Er war ein Teil dieser Welt, was Prentiss selber niemals sein könnte, trotz New College, seinem Club in London, seiner Wohnung beim Embankment.
»Mir kommt das immer noch diffus vor, das muß ich zugeben«, sagte Leese. »Eine formlose Farce.« Geschickt schnitt er ein Muffin durch und bestrich die eine Hälfte mit einem Löffel von Eleanors Erdbeermarmelade. »Bauern und Ladenschwengel stehen auf in einer Handvoll von Städten. Auf Befehl einer Verbrecherbande aus New York, die sich die Taschen mit jämmerlichen halben Dollars von Dienstmädchen und Eisenbahnarbeitern vollstopfen. Denunzianten und Scharlatane. Wenn du unbedingt eine Rebellion willst, warum nimmst du dann nicht eine richtige? Versuche’s mal mit der von Tyrone – ›dem entsetzlichsten Rebell, der sich je wider sein Königreich erhoben‹, wie Elizabeth ihn genannt hat.«
Aber Prentiss erinnerte sich an Kilpeder und Macroom, verdreckte strohgedeckte Hütten, schlammige Straßen.
»Diese Bauern und Ladenschwengel«, sagte er. »Warum haben sie zu den Waffen gegriffen, Dick? Ich weiß es selber nicht. Noch nicht. Sie wußten, was sie riskierten, weißt du. Und sie haben diesen Preis bezahlt, einen entsetzlichen Preis. Einige von ihnen haben im Gefängnis den Verstand verloren.«
»Haben sie das wirklich?« fragte Leese. »Den Preis gekannt? Hier ist das Land der Monmouth-Rebellion, weißt du. Genau hier. Verwirrte Bauern, die diesem törichten jungen Mann als ›König Monmouth‹ gehuldigt haben. Jeffrey hat drüben in Dorchester Gericht über sie gesessen, Schübe von ihnen in Kitteln und zerfetzten Hosen. Die Schurken, die sie aufgestachelt hatten, wußten, was sie taten – Shaftesbury und die anderen. Sie wollten Macht. Aber die Bauern glaubten… was? Daß sie ihre wahre Religion gegen Papisten wie dich verteidigten, vielleicht. Was sie vor Gericht und unter dem Galgen gesagt haben, ist nicht vollständig aufgezeichnet worden. Elende Analphabeten, die Gott um Vergebung anflehten.«
»Die Fenier haben nicht gefleht«, sagte Prentiss. »Sie haben weder Gott noch Queen Victoria um Verzeihung gebeten.«
An einem Galgen in Manchester fand eine dreifache Hinrichtung statt: O’Brien, Larkin und Allen hatten sich geküßt, ehe sie ruhig auf die schwarzen Kapuzen, den Strang warteten. Aber sie hatten ihr Ziel erreicht: Sie hatten Kelly gerettet, den Mann, der Stephens als Anführer der Fenier-Armee ersetzt hatte. In der Hölle von Dartmoor hatten einige Fenier eine bedingte Amnestie abgelehnt. Prentiss hatte in New York mit einigen von ihnen geredet, nun alte Männer, die sich prahlerisch an zerfetzte Erinnerungen klammerten, an zerrissenes leuchtendes Fahnentuch. Ebensowenig wie Dick Leese konnte er verstehen, was sie einst empfunden hatten, Jungen mit Piken und gestohlenen Schrotflinten.
»Es war ein wüstes Durcheinander, nicht wahr?« fragte Leese. »Das ist alles, was jetzt noch darüber bekannt ist. Das Fenier-Fiasko. Operettengeneräle und durcheinanderlaufende ›Colonels‹, und dann ein paar Scharmützel.«
»Es war ein Chaos«, gab Prentiss zu. Das wußte er aus Notizen und alten Zeitungsausschnitten, aus den Protokollen der Prozesse, aus den Erzählungen der alten Männer – nicht ausführlich, nicht wahrheitsgetreu –, aus den Staatsakten, die er hatte durchsehen dürfen. An der Spitze Eitelkeit, dumme Fehler, Verzweiflung, und unten Burschen, die hinter einer Scheune oder in einer dunklen Schenkenecke ihren Eid abgelegt hatten.
Der Aufstand wurde von New York aus geleitet, erzählte er Leese. Dreitausend Meilen entfernt, spät nachts, nach öffentlichen Versammlungen, in schäbigen Logierhäusern in Seitenstraßen des Broadway. O’Mahoney war beiseite gedrängt worden. In seinem Schrank hing, nun verstaubt, die Uniform, die er als Colonel in der Nordstaatenarmee getragen hatte, eine Geste der Yankee-Regierung, um unter den jungen Iren, die in den Werften von Manhattan und Brooklyn arbeiteten, Rekruten zu werben. In seinem Kopf wirbelten immer noch die Nebel der keltischen Sage, Finn und Cuchulainn, wunderbare Helden. John Roberts, rivalisierender Anführer, der sein Haus zu einem Feniertreffpunkt gemacht hatte, wo Stabsoffiziere in einem mit Bourbonflaschen, Zigarrenkisten, Spucknäpfen ausgestatteten Salon herumlungerten, hatte Pläne, die eines Cuchulainn würdig gewesen wären: ein Kriegsschiff, das englische Handelsschiffe überfallen sollte, eine Invasion Kanadas. Die öffentlichen Versammlungen, egal welchen Lagers, waren riesig groß, die New Yorker Iren strömten herbei, um sich an Rhetorik und Prahlerei gütlich zu tun, an Roberts, mit leuchtenden Wangen über seinem buschigen Bart, hinter ihm auf dem Podium seine Veteranen aus der Potomac-Armee, Männer in viereckigen Stiefeln, blauen Uniformröcken, an denen einst goldene Knöpfe gesessen hatten. Bei anderen Versammlungen, in einem Vortragssaal in der Nähe von Cooper Union, O’Mahoney und seine Veteranen, O’Mahoney groß und blaß, sein herabhängender Schnurrbart kriegerisch und melancholisch zugleich, ein Ehrenmann, romantisch und düster, der sein geheimes Wissen hegte, daß die Stunde vorbei war, falls es sie je gegeben hatte.
Hin und her über den Atlantik, aus Frankreich, aus Irland, reiste Stephens, an seabhac, der Habicht. Seine Wanderung der tausend Meilen, durch die vier Provinzen Irlands, lag jetzt zehn Jahre zurück. Den Berichten zufolge, die die Regierung in Dublin von Denunzianten und Polizisten auf dem Lande erhielt, war er überall. Ein Sergeant in Dungarvan hatte gehört, er sei in Waterford, nun blind, mit einem kleinen Jungen als Führer. In Leitrim, dem County der Moore und der nassen Weiden, der schilfumwachsenen Seen, sprach er vor eingeschworenen Männern, bei Nacht zusammengerufen, und er war bärtig wie ein Prophet des Alten Testaments und bewaffnet. Die Stunde ist da, sagte er ihnen, im Jahre 66. Das berichtete der Sergeant aus Carrick-on-Shannon, mühsam zu Papier gebracht in runder Schuljungenschrift.
Wann immer er jedoch wirklich erschien, verschwand die Sage in der Haut des Mannes. Er hatte durch Überheblichkeit und Prahlerei die Hoffnungen seiner Anhänger geweckt, war von seinen eigenen Versicherungen aufrecht gehalten worden, daß am Ende alles in Ordnung kommen, daß die Truppen sich zu Zehntausenden versammeln würden, bewaffnet und exerziert. Aber wenn er zur Tat gerufen wurde, schrumpfte der Mythos, den er geschaffen hatte, auf seine wirkliche, eiskalte Größe zusammen. Im düsteren Dezember 65, in Kellys Dubliner Quartier, als Devoy und seine Abteilung, bewaffnet mit amerikanischen Revolvern, die Grantham Street bewachten, während gelber Nebel vor den roten Ziegeln aufstieg, hatte Stephens an einem dunklen Nachmittag den Aufstand abgeblasen. Nur für einen Monat, vielleicht zwei, aber auf keinen Fall für länger. Er mußte wieder nach Amerika, mußte die dortige Spaltung wieder ausgleichen, Waffensendungen organisieren. Es hatte zu viele Verhaftungen gegeben – O’Leary und O’Donovan Rossa in Dublin, Kenealy und Keane in Cork. Die Leitung mußte neu organisiert werden. Zu zweit und zu dritt brachten Kelly und Devoy die Kommandeure in das Wohnzimmer in der Grantham Street, wo er ihnen gegenüber hinter einem niedrigen Tisch saß, an seabhac, der Legendäre. Einen Monat, vielleicht sechs Wochen.
Ein fataler Aufschub? Die Fenier sollten diese Frage ein halbes Jahrhundert lang diskutieren. Devoys Meinung zufolge, die er Prentiss in einem Restaurant in Manhattan mitgeteilt hatte, hatte Stephens alles verdorben. Die Regierung konnte nun in aller Ruhe die Regimenter irischer Soldaten ersetzen, die er und Boyle O’Reilly mit Engelsgeduld rekrutiert hatten, die rotberockten Gemeinen Soldaten und Corporals, denen sie in einer Schenke in der Camden Street den Eid abgenommen hatten. Bis Ende Februar war die habeas corpus-Akte ausgesetzt worden, und Devoy und Hunderte andere saßen im Gefängnis.
»Er hat alles verdorben«, sagte Devoy, unversöhnlich, nicht bereit zu verzeihen. »Als Kelly und ich ihn aus Richmond herausgeholt haben, hatten wir das Spiel in der Hand. Das weiß ich, Mr. Prentiss, das ist keine Spekulation. Während dieser Monate nach Richmond habe ich seine Leibwache kommandiert. Das Land war organisiert, Dublin war organisiert. Wir hätten Dublin einnehmen können.«
»Ohne Waffen?« fragte Prentiss.
»Waffen? Wir hatten Waffen. 12000 eidgebundene Männer allein im County Dublin, und Waffen für tausend von ihnen. Ganze Regimenter hatten geschworen, sich gegen ihren Kommandanten zu erheben. Das Pigeon-House-Arsenal war voll von Waffen, und es war zum Pflücken reif. Aber nach dem Februar wurden sie über die See nach Chester Castle gebracht. Deshalb mußte MacCafferty ein Jahr später seinen Überfall auf Chester versuchen.«
Ein Jahr später. Bis zum Mai 66 hatte Stephens sich in Dublin bedeckt gehalten und sich dann abermals