Pächter der Zeit. Thomas Flanagan
Das war alles. Neben einer der Hütten die zusammengekauerte Figur einer Frau, undeutlich zu erkennen. »Die Polizeistation von Kilpeder«, stand unter dem Bild. »Schauplatz eines Angriffes der bewaffneten Fenier am 6. März. Die Schlacht, die hier ihren Anfang nahm, endete in derselben Nacht im nahegelegenen Clonbrony Wood.«
Er erinnerte sich plötzlich, daß er seinen Vater gefragt hatte: »Was war die Schlacht von Kilpeder?« Sein Vater hatte gedankenverloren aufgeblickt, sich seine Antwort gut überlegt und dann gesagt: »Kilpeder? In Irland? Es gibt ein Kilpeder in Cork, an der Straße nach Killarney. Einen Marktflecken. Unter den Tudors kann es da eine Schlacht gegeben haben. Vielleicht während der Desmond-Rebellion.«
»Nein«, widersprach Patrick. »Hier ist ein Bild von Kilpeder in den Illustrated News. Kilpeder und Clonbrony Wood.«
Sein Vater legte seine Feder beiseite und sah Prentiss an, zwei weiße Hände ruhten auf dem Schreibtisch. »Gott schütze uns, Junge. Clonbrony Wood. Zeig es mir mal!« Es war gar nicht so leicht, das schwere Buch hinüberzutragen. »Leg es hierhier, Patrick«, sagte sein Vater dann. »Kümmer dich nicht um die Papiere; denen passiert schon nichts.«
Prentiss beugte sich über das vor ihnen geöffnete Buch, und Vater und Sohn betrachteten den Stich. Durch einen perspektivischen Trick schienen sie zusammen auf der Straße zu stehen, wo auch der Künstler gestanden hatte, und zu Kaserne, Polizisten, Bauern hinüberzublicken. Daran erinnerte er sich nun am besten.
»Ich war im Trinity«, sagte sein Vater. »Ich war ein paar Jahre älter als du jetzt. Der Aufstand der Fenier – ich erinnere mich an jene Tage. Ballyknockane, Clonbrony Wood, Tallaght. Der Fenier-Schnee, Schießereien unten in Munster, in unseren eigenen Hügeln – hier, in der Nähe von Dublin. Und dann schien alles einfach zu ersterben. Aber das Jahr war noch nicht vorbei, als alles uns wieder ins Gedächtnis gerufen wurde. In Manchester wurde der Gefängniswagen überfallen und Colonel Kelly gerettet. Allen und Larkin und O’Brien wurden öffentlich aufgehängt, während ein betrunkener englischer Mob sie verspottete. Clonbrony Wood. Ich habe vielleicht genau diesen Stich damals gesehen. Als junger Mann im Trinity.«
Der junge Prentiss konnte sich seinen Vater nicht als Studenten vorstellen. Sein Vater war doch immer in Autorität gekleidet, in elegantes, ebenholzschwarzes Kammgarn, in weichen, dicken Tweed.
»Gott segne sie alle«, sagte sein Vater. »›They rose in dark and evil days.‹ Hast du dieses Lied je gehört?«
Prentiss schüttelte den Kopf.
»Bei Clonbrony Wood waren Jungen dabei, die nicht älter waren als ich«, erzählte sein Vater. »Und wem, um Himmels willen, haben sie gedient? Der Eitelkeit von James Stephens und der Habgier von Yankee-Abenteurern. Ihre erbärmliche Organisation, dürchsetzt mit Denunzianten und Scharlatanen. Diese armen Burschen, die gekämpft haben, mußten den Preis bezahlen. Weißt du, wo der größte Aufmarsch stattgefunden hat, Patrick? Hier, in den Bergen außerhalb Dublins. Tallaght, Glencullen, Stepaside. Tapfere Männer. Irregeleitet, aber tapfer.«
Prentiss konnte diese unzusammenhängende Rede nicht begreifen. Sein Vater hatte etwas von einem Universitätsdozenten, der den Beruf verfehlt hatte. Er hielt gerne Vorlesungen, rollte die Vergangenheit auf, am Mittagstisch oder bei langen sonntäglichen Spaziergängen in den Bergen, wo einst ein großer Aufmarsch stattgefunden hatte. Einmal, während einer Wanderung über Scalp, zwischen hohen, kahlen Felsbrocken und kargen Mooren, hatte sein Vater ihm Napoleons gesamte Karriere dargelegt, vom hageren, hungrigen Leutnant bis zum ruinierten fetten, weinerlichen Verbannten von St. Helena. Aber nun dozierte er nicht, und seine Rede war abgehackt und beschwert von Gefühlen, die Prentiss nicht verstehen konnte.
»Du kennst doch F. X. O’Brien, nicht wahr, Patrick?« fragte sein Vater. »Er ist oft hier gewesen. F. X. war einer von ihnen. Einer von den Feniern von Cork. Er war nicht in Clonbrony Wood, aber er war in Cork, hat dort gekämpft. Für ihn hatten sie sich ein besonderes Schicksal ausgedacht. Gehenkt, gestreckt und gevierteilt, so lautete das Urteil. Er war der letzte, über den das Britische Gesetz jemals dieses Urteil verhängt hat. Das Urteil, das am armen Emmet vollstreckt wurde, hier in unserem Dublin. Aber sie haben sich nicht getraut, es durchzuführen. Ist dir jemals Mr. O’Briens Hand aufgefallen? Daß er nur eine Hand benutzen kann? Die andere ist verkrüppelt, und er kann die Finger nicht voneinander lösen. Das haben sie ihm im Gefängnis angetan.«
Aber Prentiss war O’Briens Hand nie aufgefallen. Er erinnerte sich an einen Mann, der uralt wirkte, mit einem langen, dünnen Bart, der über seine Weste floß, onkelhaft und öde.
»Es gibt noch einen Mann«, sagte sein Vater plötzlich viel lebhafter, »einen Mann, der zweimal in diesem Haus gegessen hat. Nein, vielleicht dreimal. Deine Mutter müßte das noch wissen. Jedenfalls war er dort, genau dort, in Kilpeder und Clonbrony Wood. Wurde vor Gericht gestellt. Bob Delaney.« Sein Vater tippte die brüchige Seite mit dem Zeigefinger an, als ob er wütend darüber sei, daß der Künstler Delaney nicht mitgezeichnet hatte, vielleicht neben dem Offizier und den Herren mit den Zylinderhüten. Aber Delaney konnte bei dieser Szene nicht zugegen gewesen sein, die doch zweifellos das Nachspiel der Schlacht dafstellt, oder wohl eher des Handgemenges, wenn man vom Bild auf die Ereignisse schließen konnte, unverständlich und unrühmlich. Schlachten wurden auf weiten, windigen Ebenen ausgefochten, Kavallerie und Reihen von marschierender Infanterie rückten vor, gestochener Dampf umgab wie ein Kreis die Kanonen.
»Er war dabei«, wiederholte sein Vater. »Einer der Helden von Clonbrony Wood, wie sie später genannt wurden. Hat ihm durchaus nicht geschadet, als er Jahre später fürs Parlament kandidiert hat. Ganz im Gegenteil. Erinnerst du dich an Mr. Delaney, Patrick – ein lebhafter, gutaussehender, glattrasierter Mann?«
Aber Patrick erinnerte sich nicht. Er hätte sich ohne den Weihnachtsmannbart auch nicht an F. X. O’Brien erinnert. Es hatte immer viel zu viel Gäste gegeben, als daß er sich an alle hätte erinnern können – Parlamentsmitglieder, Anwälte, LandLeague-Agenten, Richter, ein paar Mandanten. Sie waren verschwommene Gesichter über weißem Leinen.
In einer denkwürdigen Nacht vor vielen Jahren, lange nach dem Essen, als die Männer über Kaffee und Brandy saßen, war seine Mutter zu ihm herauf auf sein Zimmer gekommen, wo er halbwach im Bett lag. »Zieh Morgenrock und Pantoffeln an, Patrick. Mr. Parnell ist hier, und Vater möchte, daß du ihn begrüßt.« Keine schwarze Wolle, kein schwarzes Leinen, sondern grober Tweed, als ob er gerade von der Jagd zurückkäme, eine gestrickte Weste, kastanienbraune Haare und Bart. »Ein feiner Junge«, sagte er zu Patricks Mutter, zerstreut, mit einem Nicken. »Ein feiner kleiner Mann.« Er nickte wieder, und ein verlegenes Schweigen folgte.
»Ich habe ihn nur für einen Moment heruntergeholt«, erklärte Patricks Mutter. »Er schläft ja schon halb.«
»Und lassen Sie ihn schon Jura studieren, Prentiss?« fragte Parnell seinen Vater. »Ein junger Anwalt?«
»Alles zu seiner Zeit«, antwortete Patricks Vater. »Nur nichts überstürzen. Er gehört jetzt wohl wieder ins Bett, Ellen. Er wird sich an diese Nacht erinnern, in der er Mr. Parnell begegnet ist.«
In der Tür verrenkte Prentiss seinen Hals, um zurück zum Tisch blicken zu können. Parnell griff nach einem der Äpfel in der ovalen Silberschale.
»Er ist der ungekrönte König«, erklärte ihm seine Mutter oben auf dem Treppenabsatz, ihre Hand ruhte auf der geschnitzten Ananas aus schwarzem Walnußholz. »Es gibt ein Lied, in dem er so genannt wird. Die Mädchen in der Küche kennen es alle. Ein gutaussehender Mann, Patrick, er sieht fast so gut aus wie dein Vater.«
Katey kannte das Lied. Am nächsten Morgen sang sie ihm Bruchstücke daraus vor, als sie den Brotteig knetete, während das Mehl wie Puder ihre aufgekrempelten Ärmel bestäubte. »›For the uncrowned King of Ireland lies in Kilmainham Gaol.‹« Aber was konnte ein Gast am Tisch seines Vaters mit Gefängnissen und Kerkern zu tun haben? Patrick versuchte, sich Parnell in einer Gefängniszelle vorzustellen, ausgestreckt auf dem Stroh, die Zelle in tiefem Schatten liegend, Handfesseln und schwere Ketten an den feuchten Wänden befestigt, Ringe und Bolzen aus dunklem Eisen. »Was kannst du denn sonst von denen erwarten?« fragte Katey und knallte den gekneteten Teig auf den Tisch. »Robert Emmet war ein Gentleman, und Lord Edward