Die Königsfälschung. Max Melbo

Die Königsfälschung - Max Melbo


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Moderierung, »Säkularisierung«, ja Konstitutionalisierung des Feudalismus auf. Außerdem leuchteten die vielen Signale der Reformierung des total autoritär-ausbeuterisch gewordenen christlichen Kultes, also einer Emanzipation vom Papsttum, an der in erster Reihe auch regierende Fürsten teilnahmen.

      Es gab in Europa den Fürsten als den »guten«, »weisen«, »klugen«, »großmütigen« oder »beständigen«. Solche Herrscher wie den »schrecklichen«, »grausamen« und »wahnsinnigen« gab es immer seltener. Der französische König Ludwig 12, der direkte Vorläufer von Franz, wurde von seinem Volk »père du peuple« genannt, weil er ein Herz fürs Volk hatte. Die Gefolgsmänner von Henri IV sprachen von ihrem König als »nostre Henri«, weil sie sich mit ihm verbunden fühlten. – Gegen den Bannfluch Papst Sixtus V., der Henri IV am 9. September 1585 exkommunizierte, schreibt der 31-jährige, seit dem 10. Juni 1584 Thronerbe von Gesamtfrankreich gewordene König von Navarra seinen Beschwörungsbrief an den französischen Adel: Ein rechtmäßiger Thronerbe ist kein Krimineller. Der Papst will über die Nachfolge des Katharina-Medici-Sohnes und amtierenden schwulen kinderlosen Königs Henri III entscheiden. Schlimmer: Frankreich soll (weiter) von der Kardinalscorporation in Rom dirigiert werden. Mit Religion hat die politische Lage nichts zu tun (108, II, S. 169f.).

      Heinrich VIII. von England (1491–1547) zeigt beides: das noch in Willkür Wüterische und das schon Emanzipatorische. Er befreit die gesamte Kirche seines Landes vom Papst, ohne sie zu reformieren, und er bricht mit dem Dogma der ausschließlich männlichen Erbfolge, bestimmt seine beiden Töchter, Maria und Elisabeth, zu seinen Nachfolgerinnen – ein Schritt, der nicht als bedeutend genug angesehen werden kann, bahnt er doch den fast 50 Jahren »Elisabethanischen Zeitalters« den Weg, der schließlich in der konstitutionellen Monarchie gemündet ist, dem verfassungsgebundenen Fürstentum, das ganz Großbritannien im eigenen Land bis heute vor faschistischen Ausbrüchen in politische Diktaturen bewahrt hat.

      Mit dieser Entwicklung, von Elisabeth 1 angefangen, geht es auch auf dem Festland Europas weiter. Die Jahrhunderte vom 16. bis 18. kontrastieren Ludwig den Vierzehnten in außerfranzösischen Nationen. In deutschen und skandinavischen Ländern und Städten, in den Niederlanden, in der Schweiz herrschen Religionsfreiheit und Prosperität der Bürger.

      Russland wird fast das ganze 18. Jahrhundert über von Frauen regiert, von vier Zarinnen und einer Regentin.

      An der Vorbereitung der Französischen Revolution sind wesentlich französische Adlige beteiligt, auch die Fürsten Bourbon-Condé und Bourbon-Conti. Ein Conti geriert sich als Mäzen der Eckpfeiler der Revolution, der Schriftsteller Beaumarchais und Rousseau. Letzterer wird sogar von Bourbon-Conti gegen Verfolgungen durch Ludwig den Fünfzehnten geschützt.

      Im deutsch-österreichischen Kaiserreich regiert von 1711 bis 1740 Karl VI. (geboren 1685), verheiratet mit der protestantischen Großherzogin Elisabeth-Christine von Braunschweig, das Elternpaar Maria Theresias, für die die »Pragmatische Sanktion« durchgesetzt wird, die Maria Theresia berechtigt, in Ermangelung eines männlichen Thronerben Königin von Böhmen und Ungarn zu werden und zugleich als Kaiserin zu fungieren – in Verbindung mit ihrem nominell als Kaiser posierenden Franz I. von Lothringen. Maria Theresias Söhne Joseph II. und Leopold II. profilieren sich als aufgeklärte Regenten.

      In Frankreich lief die Entwicklung ursprünglich ebenso wie im restlichen Europa. Henri IV regierte gemeinsam mit seinem Administrations-Strategen Sully, wie Elisabeth die Erste von England mit ihrem Kanzler Baron Burghley zusammen regierte.

      Ludwig der Dreizehnte berief 1614 zum letzten Mal die Generalversammlung der Stände, eine Art Hoftagung, an der Vertreter aller Interessengruppen des Landes teilnahmen, um Dinge von Staat und Gesellschaft zu diskutieren, neue Regelungen durchzusetzen – eine Vorläufer-Einrichtung der demokratischen Parlamentsdebatten.

      Bis der nächste französische Ständetag von Ludwig dem Sechzehnten 1789 einberufen wird – und das auch nur, weil der König dazu gezwungen wird –, vergehen 175 Jahre. – Allein dieser Fakt des fast 200-jährigen »Ruhens« jeglicher Mitbestimmung der Bürger in den Belangen der Nation beweist, dass etwas mit der Entwicklung in Frankreich nicht stimmte, härter: Was zwischen 1615 (dem Ende der letzten französischen Generalversammlung) und 1789 in Frankreich »gelaufen« ist, war Europa-»abartig«.

      Richelieu überzog sein Land und infiltrierte die europäischen Höfe mit einem vorfaschistischen Geheimdienst, mit Hilfe dessen er jeden Anflug eines Komplottes gegen seine Diktatur aufspüren konnte. Richelieu ließ einen – nach Vorbild von Henri IV – balancefähigen kooperationsbereiten Aristokraten nach dem anderen wegen Konspiration gegen seinen »rechtskonservativen« katholischen Totalitarismus, der das Land mit inadäquaten, um das Vierfache erhöhten Steuern auspresste, öffentlich hinrichten. Alle ein bis zwei Jahre fällt der Kopf eines hohen Adligen oder hohen Militärs. – Der Pariser Hof verödete in der Regierungszeit Richelieus. Louis XIII floh in seine Jagd- und Militär-Abenteuer unter Männern, die Königin Anne d’Autriche verschloss sich mit ihren Frauen zu religiösen Exerzitien und erging sich in ihren Rinnsal-Subversionen gegen Richelieu.

      Das Kind, das die beiden Königskardinäle, der alte thronende Richelieu und der junge Mazzarino, Kardinal in spe, ausbrüteten, drehte dann als Louis XIV die Verhältnisse zu allen Seiten hin zurück. Altertümlicher Orient im Personenkult, den er mit sich selbst als Sonnen-anbetungs-benötigender König betreiben ließ, und Volksaderlass im Stil von mittelalterlichen Destrutypen wie Dschingis Khan und Kriemhilds König Etzel. Die Einwohnerzahl Frankreichs sank allein in den letzten 15 Louis’schen Herrscherjahren zwischen 1700 und 1715 um drei Millionen, von 21 auf 18 Millionen – um ein Siebtel der Gesamtbevölkerung! Überall sonst in Europa stieg sie. Das Land ist beim Tod von Louis XIV erschöpft, der Staatshaushalt im Minus, um achtzehn Jahresbudgets überzogen! Das Gegenteil: Henri IV hinterließ bei seinem Tod einen Staatshaushalt mit einem Plus von zwölf Millionen.

      Der Nachfolger Ludwigs des Vierzehnten, Louis XV, begann delirisch zu prassen und zeigte auf andere Weise, dass er nichts von dem Verhältnis zwischen Volk und Regenten versteht. Er richtete sich ein Orgien-Ministerium ein, dessen Vorstand »maître de plaisir« genannt wurde, der täglich neue gruppensexuelle Arrangements zur Befriedigung der unstillbaren promiskuitiv-heterosexuellen Bedürfnisse des Königs treffen musste. Zugleich fielen die ärmsten Menschen in Paris auf der Straße vor Hunger tot um.

      Auch wenn die Fürsten Europas Louis XIV imitierten, war das, was an dessen Hof und mit dessen Umtrieben in Land und Europa geschah, ein »Ausflippen« – nicht um Adel zu repräsentieren, sondern um nichtgehabten Adel drohgebärdend nonstop an-aristokratisch zu demonstrieren. Das zeugungs- und geburtsverbriefte Blutsfürstentum der »Gottesgnade« hatten ausgerechnet die Kardinäle, die Helfer des Gottesstellvertreters in Rom, unterlaufen.

      Der beschaffte Louis XIV verfügte über keine phylogenetisch vermittelte Erfahrung, sich auf dem französischen Thron generationsgeübt richtig, das heißt zeitadäquat moderiert und aufgeklärt zu verhalten.

      Alles, was sich politisch in Frankreich regional-reformatorisch auch nur äußern wollte, wurde ab dem frühen 17. Jahrhundert von der Zentralgewalt in der Epoche zwischen Richelieu und Louis XIV ausgelöscht, die Rechte der Bürger und des Parlaments auf null geschraubt, das Volksvermögen für die ins Dinosaurische aufgepumpten privaten Spleens und Macken der entgrenzten Fremd-Herrscher verpufft.

      Das Geschichtsverständnis nach Karl Marx tut so, als sei die Französische Revolution etwas Gutes gewesen, beschämt die Deutschen, die zu solch einer Sprengung des Feudalismus nicht fähig gewesen seien.

      Die Französische Revolution war nicht gut und hat den Feudalismus auch nicht abgeschafft. Sie kam anderthalb Jahrhunderte zu spät. Die Franzosen haben seit den Kardinals-Regimen von Richelieu und Mazarin 1624 bis 1661 zahllose Aufstände, Sprengungen, ja Revolutionen versucht, die alle entweder in ihren Keimstadien erstickt oder niedergeschlagen wurden. Was dann 1789 passierte, war eine ausufernde Explosion nach 179 Jahren diktatorischer Fremdbestimmung – gezählt ab Ermordung des Königs Henri IV 1610.

      Der letzte revolutionäre, zeitadäquate und Umstände eingrenzende revolutionäre Akt in Frankreich war die Entmachtung des Usurpators Concini 1617, der nach der Ermordung Heinrichs des Vierten


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