Sing wie ein Vogel - Ein Schweden-Krimi. Thomas Kanger

Sing wie ein Vogel - Ein Schweden-Krimi - Thomas Kanger


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zuletzt getroffen?«

      »Bei seiner Verabschiedung im Rathaus. Seitdem hab ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich hatte den Eindruck, er wollte eine Weile allein sein, und dachte, er würde von sich aus wieder Kontakt zu uns aufnehmen, wenn ihm danach wäre.«

      »Hm. Vielleicht war sein Wunsch nach Alleinsein so stark, dass er keine Lust hatte, die Wahlveranstaltung zu besuchen?«

      »Das ist sehr unwahrscheinlich.«

      »War er krank oder deprimiert?«

      »Keineswegs. Im Gegenteil, er war bester Laune, als ich ihn zuletzt traf. Er hat sich auf seine Pensionierung gefreut.«

      Elina erhob sich.

      »Dann fahren wir wohl besser zu seinem Haus. Wissen Sie, ob jemand einen Schlüssel hat?«

      »Vielleicht seine Töchter.«

      »Wir schauen erst mal nach. Haben Sie ein Auto?«

      Sieben Minuten später parkte Ragnar Sundstedt seinen Volvo vor einem blauen Holzhaus auf dem Stora Ursulasväg in Blåsbo, einem Viertel für jene, die es sich leisten konnten, in gut erhaltenen, älteren Häusern mit großen Gärten zu wohnen. Elina ging zum Haus und klingelte. Nachdem sie eine Minute gewartet hatte, legte sie die Hände an die Stirn und spähte durch das Küchenfenster.

      »Auf der Spüle steht eine Kaffeetasse«, stellte sie fest. »Ansonsten sieht es leer aus.«

      Sie trat ein paar Schritte zurück und musterte die Fassade. Dann ging sie einmal ums Haus und stieß auf dem Schotterweg vor der Tür wieder auf Ragnar Sundstedt.

      »Alles sieht normal aus, aber das Fenster zur Waschküche an der Rückseite ist nur angelehnt. Es wäre gut, wenn mir eine der Töchter die Erlaubnis geben würde einzusteigen.«

      »Sie bekommen meine Erlaubnis. Wie gesagt, er ist mein bester Freund, und ich versichere Ihnen, es ist in Ordnung. Schließlich machen wir uns berechtigte Sorgen um ihn.«

      Elina sah ihn an und dachte eine Weile nach.

      »Nein. Wenn ich es richtig bedenke, ist es falsch, durchs Fenster zu steigen. Jemand anders könnte ja diesen Weg benutzt haben, um ins Haus oder wieder hinauszugelangen. Ich würde Spuren verwischen. Wir versuchen besser, eine der Töchter zu erreichen und einen Schlüssel zu bekommen.«

      »Jemand anders?«, wiederholte Ragnar Sundstedt, vollendete den Satz jedoch nicht.

      Eine Dreiviertelstunde später steckte Elina den Schlüssel ins Haustürschloss. Auf dem Schotterweg standen Ragnar Sundstedt und Annelie Björk, Wiljam Åkessons älteste Tochter. Sie wirkte sehr verkrampft. Elina öffnete vorsichtig die Tür und bat die beiden, draußen zu warten. Sie betrat die Diele. Links lag die Küche und ein Stück weiter rechts befand sich die Tür zum Wohnzimmer. Sie ging hinein. Mitten auf dem Fußboden lag ein Buch, die einzige Störung der sonst so musterhaften Ordnung. Sie trat näher, um den Titel zu entziffern.

      Nachdem sie in der Waschküche, der Toilette und im Esszimmer im Erdgeschoss nachgeschaut hatte, stieg sie die Treppe zum ersten Stock hinauf. Wiljam Åkessons Schlafzimmer war aufgeräumt, das Bett unbenutzt. Gegenüber befand sich ein weiteres Zimmer, vielleicht ein Gästezimmer, da es keine persönlichen Gegenstände enthielt. Es sah ebenfalls unbenutzt aus. Vorsichtig öffnete sie die Tür zum Bad, das genauso ordentlich war wie die übrigen Räume.

      Ganz hinten gab es noch ein Zimmer. Vom Flur aus sah Elina einen Schreibtisch und Bücherregale, in denen Ordner standen. Sie ging auf die Tür zu und schaute lange hinein. Sie versuchte sich jedes Detail einzuprägen. Dann drehte sie sich um, nahm ihr Handy aus der Tasche und wählte die Direktdurchwahl zum Diensthabenden im Präsidium.

      Weder Ragnar Sundstedt noch Annelie Björk sagten etwas, als Elina wieder herauskam. Sie sah die beiden an.

      »Sie müssen hier draußen warten«, sagte sie schließlich. »Es kommt gleich polizeiliche Verstärkung. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass im Obergeschoss ein toter Mann liegt.«

      Ragnar Sundstedt fuhr zusammen. Annelie Björk machte einen Schritt vorwärts. Keiner von ihnen sprach ein Wort, sie starrten Elina an.

      »Ich weiß nicht, wer es ist. Es könnte Wiljam Åkesson sein, aber ich bin mir nicht sicher.«

      »Warum nicht«, sagte Ragnar Sundstedt leise. »Sie müssen doch den Gemeinderat kennen, sein Gesicht kennt jeder in Västerås.«

      »Das Gesicht ist nicht zu sehen. Ich möchte nichts anrühren, bevor unsere Leute von der Spurensicherung da sind. Es tut mir Leid, aber bis dahin müssen wir uns gedulden.«

      Annelie Björk machte noch einen Schritt nach vorn.

      »Was ist passiert?«, rief sie aus. »Warum ist er tot? Sagen Sie doch etwas!«

      Elina legte Annelie die Hand auf den Arm. Der Schrecken stand der Frau ins Gesicht geschrieben, die plötzlich aussah wie ein kleines Kind. Elina dachte an ihren eigenen Vater.

      »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Auf dem Fußboden ist Blut, es handelt sich also nicht um ... einen natürlichen Tod. Mehr wage ich im Augenblick nicht zu sagen. Lassen Sie uns warten, bald werden wir mehr wissen.«

      Drei Stunden später saßen Elina Wiik, Oskar Kärnlund und John Rosén in Kärnlunds Chefzimmer im Dezernat des Präsidiums. Es war Mittwoch, der 14. August, kurz vor vier Uhr nachmittags.

      »John wird die Ermittlung leiten«, sagte Kärnlund. »Du, Wiik, und John, ihr bildet ein Team. Und ich werde sofort ein paar Leute anfordern, die euch bei der Arbeit unterstützen.«

      Er stand auf und begann im Zimmer herumzugehen.

      »Ein ermordeter Gemeinderat«, murmelte er. »Herr im Himmel, fast ein lokaler Palme-Fall.«

      Er hob den Kopf und sah John Rosén und Elina an.

      »Die von der Spurensicherung haben natürlich einen Selbstmord ausgeschlossen«, verkündete er. »Erkki Määttä sagt, dass es vollkommen unmöglich ist, sich auf diese Weise umzubringen. Eine überflüssige Feststellung, so wie es aussieht, nicht wahr? Eingerollt in einen Teppich, die Arme am Körper und von oben in den Kopf geschossen. Wiljam Åkesson hatte viele Talente, aber ein Houdini war er nicht.«

      »Was ist mit der Mordwaffe?«, fragte Elina. »Hat Erkki irgendwelche Spuren gefunden? Eine Patronenhülse zum Beispiel?«

      »Keine Hülse, ich habe vor fünf Minuten mit ihm gesprochen. Die Laborergebnisse werden zeigen, ob es Pulverspuren an Kopf, Teppich oder auf dem Fußboden gibt. Erkki glaubt, dass man Åkesson aus nächster Nähe umgebracht hat, da er mitten in den Kopf getroffen wurde. Das ist aber auch alles. Mehr Spuren haben wir nicht. Jedenfalls bis jetzt. Nicht einmal Fußspuren vor der Waschküche, falls der Mörder dort eingestiegen ist. Der Gerichtsmediziner vermutet, dass Åkesson seit ungefähr einer Woche tot ist, und letzte Woche hat es ziemlich heftig geregnet. Mögliche Spuren könnten also verschwunden sein.«

      »Vielleicht hat Åkesson den Täter auch zur Haustür hereingelassen«, sagte Elina. »Oder der Mörder hatte einen Schlüssel, ist durch die Tür hereingekommen und hat wieder hinter sich abgeschlossen.«

      »Wie hat er Åkesson dazu gekriegt, sich in den Teppich einzurollen?«, wollte John Rosén wissen. »Åkesson war ein kräftiger Mann. Natürlich wurde er mit einer Waffe bedroht, aber trotzdem. Vielleicht waren mehrere Personen daran beteiligt.«

      »Entwickelt einen Arbeitsplan, ihr beiden. Mailt ihn mir und fangt sofort an. Sorgt dafür, dass ich über alles auf dem Laufenden gehalten werde. Um sechs findet eine Pressekonferenz statt.«

      Kärnlund setzte sich auf seinen Stuhl und schaute schweigend aus dem Fenster. Elina Wiik und John Rosén wussten, dass dies das Zeichen für das Ende der Besprechung war. Draußen auf dem Korridor blieb Elina stehen und drehte sich zu John Rosén um.

      »Ich verstehe, dass du die Leitung der Ermittlung bekommen hast. Du kannst das und hast große Erfahrung. Und auch wenn es offiziell ein Geheimnis ist, weiß ich doch, dass du aus Göteborg hierher geholt worden


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