Sing wie ein Vogel - Ein Schweden-Krimi. Thomas Kanger

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den Brief sofort, ohne zu antworten. Zu Kreuze zu kriechen kam für sie nicht in Frage. Der Entschluss sich von ihm zu trennen, war ihr fast unerträglich gewesen, da sie ihn liebte. Oder geglaubt hatte, ihn zu lieben. Jetzt, ein halbes Jahr später, war sie sich nicht mehr so sicher. Die Erkenntnis, dass es keine gemeinsame Zukunft für sie gab, hatte zum Bruch geführt. Sie glaubte ganz einfach nicht mehr daran, dass er seine Frau verlassen würde. Seitdem hatte er versucht sie umzustimmen, ohne sich jedoch zu dem nötigen Schritt durchringen zu können.

      6

      Ist das nötig? Ich verstehe nicht, was ich dazu beitragen könnte.«

      Annelie Björks Hände lagen fest gefaltet in ihrem Schoß. Sie trug ein hellgrünes Kostüm und saß mit geradem Rücken in einem Sessel. Hier ist es genauso ordentlich wie zu Hause bei ihrem Vater, dachte Elina.

      »Wenn Sie wollen, kann ich einige Fragen auf später verschieben«, sagte sie. »Aber wir haben schon eine Woche verloren. Der Gerichtsmediziner sagt, dass Ihr Vater vermutlich letzte Woche Mittwoch oder Donnerstag gestorben ist. Da wir keine Ahnung haben, wer es getan hat oder was hinter der Tat steckt, müssen wir uns ein Bild davon machen, wer Wiljam Åkesson war. Wir müssen wissen, mit wem er verkehrte, was seine Gewohnheiten waren, wer etwas gegen ihn hatte, alles. Sie gehören zu den Menschen, die uns weiterhelfen können.«

      »Er traf sich mit jedermann«, sagte Annelie Björk. »Er war der einflussreichste Mann von Västerås und hatte seine Finger in allem, was in der Gemeinde geschah. Feinde hatte er eine ganze Menge, schließlich war er Politiker. Aber wir leben ja in Schweden. Ein Liberaler erschießt keinen Sozialdemokraten. Was soll ich Ihnen also sagen?«

      Sie schaute gedankenverloren aus dem Fenster.

      »Ich möchte, dass Sie mir etwas von seinem Privatleben erzählen«, sagte Elina.

      Annelie Björk drehte sich zu Elina um. Eine Weile schwieg sie. Sie wirkte angespannt.

      »Er und meine Mutter haben sich vor fünfundzwanzig Jahren scheiden lassen. Keiner von beiden hat wieder geheiratet. Vermutlich hat er seitdem Frauen gehabt – aber das weiß ich nicht und will es auch gar nicht wissen.«

      »Hat er nach der Scheidung den Kontakt zu Ihnen und Ihrer Schwester aufrecht erhalten?«

      »Selbstverständlich. Ich war damals fünfzehn und Elisabeth zwölf. Wir waren oft bei ihm. Unsere Mutter hat uns keine Steine in den Weg gelegt.«

      Steine?, dachte Elina. Es muss eine schmerzhafte Scheidung gewesen sein.

      »Und danach, wie viel Kontakt hatten Sie da?«

      »Warum fragen Sie das? Was hat das mit der Sache zu tun?«

      »Wie gesagt, ich versuche mir ein genaueres Bild von Wiljam Åkesson zu machen. Und da sich die Person, die ihn umgebracht hat, in seinem privaten Umfeld befinden könnte, sind Sie eine der wenigen, die mir vielleicht helfen können, dieses Umfeld zu erschließen.«

      »Kommen Sie immer so direkt zur Sache, wenn Sie die Angehörigen eines Menschen treffen, der gerade ermordet aufgefunden wurde?«

      »Sie wirken auf mich wie jemand, der direkte Fragen bevorzugt«, sagte Elina, ohne Annelie Björks Blick auszuweichen.

      »Privates Umfeld! Ist Ihnen klar, dass Sie da auch von mir sprechen?«

      Elina Wiik nahm ein Notizbuch hervor.

      »Ja, das ist mir klar. Wollen wir anfangen?«

      Als Elina in ihr Dienstzimmer zurückkehrte, gab sie ihre Notizen in den Computer ein. Sie verfügte nun über eine lange Liste mit Namen von privaten Bekannten, Politikern und Beamten, mit denen Wiljam Åkesson häufig verkehrt hatte. Daraus ergab sich das Bild eines Mannes, der viele Beziehungen, aber wenige Freunde gehabt hatte. Annelie Björks Bericht hatte den Eindruck bestätigt, den sie bereits in Åkessons Haus gehabt hatte. Wenn Ragnar Sundstedt sein bester Freund gewesen war, dann mutete das ziemlich traurig an. Sundstedt hatte dem mächtigen Åkesson Unterwürfigkeit und Bewunderung entgegengebracht, aber keine Wärme. Und in dem Haus fehlte jede Spur einer anderen menschlichen Gegenwart.

      Feindschaften, die es in Wiljam Åkessons Umfeld gab, resultierten aus kommunalen Streitfragen. Nach Aussage von Annelie Björk hatte Åkesson während seiner langen politischen Karriere, die in den fünfziger Jahren begonnen hatte, einer ganzen Reihe von Leuten auf die Füße getreten. Aber sie hatte nicht eine einzige Person nennen können, die sich mit Rachegedanken getragen haben könnte.

      Annelie Björk war am Mittwochabend vergangener Woche alleine zu Hause gewesen. Ihr Mann Marcus war die ganze Woche verreist. Kinder hatten sie keine. Ein Alibi fehlte.

      Elina lehnte sich auf dem Stuhl zurück und überlegte, welchen Eindruck Annelie Björk bei ihr hinterlassen hatte: ein Mensch, bestrebt niemals die Kontrolle zu verlieren, sie wählte die Worte mit Bedacht und wirkte eher zurückhaltend.

      Vielleicht geht es hier um nicht erwiderte Liebe zum Vater, dachte Elina. Vielleicht können die andere Tochter und die Exfrau die Unklarheiten im Gesamtbild ergänzen.

      Sie beschloss etwas zu tun, was sie noch nie getan hatte. Sobald sie Gelegenheit hätte, würde sie zu ihrem Vater fahren und den Fall mit ihm diskutieren. Das war zwar gegen die Vorschriften, aber wer, wenn nicht er, konnte ihr besser erklären, wie ein führender Sozialdemokrat wie Wiljam Åkesson dachte? Ihr Vater war selbst sein ganzes Leben lang aktives Parteimitglied gewesen, länger als Åkesson, und selbst wenn er nur halb so erfolgreich in seiner politischen Karriere gewesen war, hatte er im Laufe der Jahre viele Ämter innegehabt. Vermutlich kannte er Åkesson, zumindest flüchtig. Außerdem konnten sie über die Beziehung zwischen Vater und Tochter sprechen.

      »Willst du mit? Ich fahre zu Åkessons Haus, um seine Papiere durchzugehen.«

      Es war John Rosén, der den Kopf zur Tür hereinsteckte.

      »Gerne«, antwortete Elina. »Mit der zweiten Tochter bin ich erst am späten Nachmittag verabredet und mit der Exfrau morgen.«

      John Rosén lotste sie hinaus zu seinem Wagen, einem BMW, der teuer aussah, und hielt ihr lächelnd die Tür auf.

      »Danke«, sagte Elina.

      Während der Fahrt erzählte sie, was Annelie Björk ausgesagt hatte.

      »Schwer zu glauben, dass es sich um eine Familientragödie handelt«, bemerkte John Rosén. »Fünfundzwanzig Jahre nach der Scheidung und dann noch an dem Tag, an dem er pensioniert wird. Die Gefühle sollten seit langem abgekühlt sein.«

      »Zwischen dem Mann und seiner Exfrau, ja«, stimmte Elina zu. »Aber nicht unbedingt zwischen Vater und Tochter. Da handelt es sich um eine lebenslange Beziehung. Aber ich gebe dir natürlich Recht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Annelie oder Elisabeth Björk ihren Vater in einen Teppich eingerollt und dann umgebracht haben. Aus dem einfachen Grund, weil er sich nicht hätte einrollen lassen, nicht einmal, wenn sie ihn mit einer Waffe bedroht hätten. Ich glaube, wenn ihn ein Familienmitglied bedroht hätte, hätte er versucht, ihm die Waffe abzunehmen. Dann hätte ihn womöglich ein Schuss in den Körper getroffen, aber nicht von oben in den Kopf.«

      »Aber er ist erschossen worden, während er im Teppich lag«, bekräftigte Rosén. »Oberhalb der Schussverletzung fand man Pulverspuren am Teppich. Ich habe heute Morgen mit dem Labor gesprochen.«

      »Wir werden sehen, was das Gespräch mit der zweiten Tochter bringt. Aber ich glaube, hier handelt es sich um etwas, das erst nach der Scheidung passierte.«

      Der Polizist, der die Absperrung vor Åkessons Haus bewachte, nickte ihnen freundlich zu. Elina und John Rosén erwiderten den Gruß und betraten das Haus. Die Spurensicherung war abgeschlossen, sie konnten sich also frei bewegen.

      »Wir fangen im Arbeitszimmer an«, verkündete John Rosén.

      Das Zimmer war klein, hatte aber Fenster in zwei Richtungen. In einer Ecke stand ein Sessel. Unter einem der Fenster stand ein Schreibtisch aus dunklem Holz. Abgesehen von einer Unterlage mit einem Kalender des Jahres 2002, einem Stift, einem grauen Telefon und


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