Sing wie ein Vogel - Ein Schweden-Krimi. Thomas Kanger

Sing wie ein Vogel - Ein Schweden-Krimi - Thomas Kanger


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zog seine Schuhe im Vorraum aus und wurde in die Küche geführt, wo sie ihm einen Stuhl anbot.

      »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«, fragte sie.

      »Ja, gerne«, erwiderte Svalberg. »Sagen Sie mir, wann Sie Åkesson das letzte Mal gesehen haben.«

      Zu seinem Erstaunen lachte sie.

      Er rutschte nervös auf dem Stuhl herum. Er war es nicht gewohnt, dass Zeugen sich über seine Verhörtechnik lustig machten.

      »Ich habe ihn an demselben Abend gesehen, an dem er ermordet wurde«, sagte sie dann lässig.

      »Und wann genau?«, fragte Svalberg. Er versuchte seine Verwunderung darüber zu verbergen, dass sie ihrer Sache so sicher war, was den Mordabend anging.

      »Es war Viertel vor sechs. An dem Abend ist er gleichzeitig mit mir nach Hause gekommen. Wir haben einander gegrüßt. Wir kennen uns ... kannten einander. Freundschaftlich als Nachbarn, beruflich in unseren jeweiligen Funktionen – als Journalistin und Politiker. Åkesson akzeptierte es, dass ich ihm als Journalistin häufig insistierende Fragen stellte. Hinterher war er nie sauer auf mich.«

      »Und freundschaftlich? Bedeutet das, dass Sie ihn gut kannten?«

      »Darf ich Ihnen einen Rat geben? Ich meine, unter Profis?«

      Svalberg sah sie leicht verwirrt an.

      »Formulieren Sie diese Frage neu«, fuhr sie fort. »Formulieren Sie es doch so: ›Wie gut kannten Sie ihn?‹ Dann bin ich gezwungen, das Niveau unserer freundschaftlichen Beziehung mit eigenen Worten zu definieren. Wenn man wie Sie eben fragt, ob ich ihn gut kannte, riskieren Sie, dass Sie nur ein Ja oder ein Nein als Antwort erhalten. Aber was verrät Ihnen das eigentlich? Was bedeutet es, jemanden ›gut‹ zu kennen. Offene Fragen! Das ist elementare Interviewtechnik. Oder Verhörtechnik, wenn man Polizist ist.«

      »Darf ich Ihnen meinerseits einen Rat geben«, sagte Svalberg nun mit erhobener Stimme. »Bleiben Sie bei der Sache. Wenn Sie das tun, verspreche ich Ihnen, dass ich versuchen werde, offene Fragen zu stellen.«

      Sie goss Kaffee ein.

      »Zucker, Milch?«

      »Schwarz«, sagte Svalberg knapp.

      »Okay. Wir kannten uns wie Nachbarn, die Distanz zueinander wahren. Grüßten uns und redeten manchmal übers Wetter. Dann wieder kam es vor, dass etwas in der Politik geschah, über das ich Informationen von ihm wollte. Oder er wollte mit mir über etwas diskutieren, was ich geschrieben hatte. Übrigens haben wir uns immer nur draußen unterhalten. Ich habe nie sein Haus betreten und er ist nie bei mir gewesen.«

      »Und woher wissen Sie, dass Sie ihn gerade am Mordabend gesehen haben?«

      »Ich muss zugeben, dass ich mir nicht ganz sicher bin. Aber ich habe darüber nachgedacht und versuche zu analysieren, was ich gesehen habe.«

      »Das möchte ich gern hören«, sagte Svalberg in dem Bemühen, wieder die Oberhand zu gewinnen. »Aber unterscheiden Sie bitte zwischen dem, was Sie wirklich gesehen haben und den Schlussfolgerungen, die Sie daraus ziehen.«

      Agnes Khaled lächelte.

      »Vielleicht habe ich Sie unterschätzt. Ich werde versuchen, mich daran zu halten. Aber die Dinge hängen zusammen. Er kam also um viertel vor sechs nach Hause. Das weiß ich mit Sicherheit. Nicht auf die Minute, aber fast. Gewöhnlich machte er noch einen Spaziergang, wenn das Wetter nicht zu schlecht war. Den ganzen Abend blieb sein Auto in der Auffahrt stehen. Wie Sie sehen, kann ich von meiner Küche aus auf sein Haus blicken, und hier habe ich mich fast die ganze Zeit aufgehalten. Er hat weder drinnen Licht gemacht, noch hat er die Außenbeleuchtung eingeschaltet.«

      »Das Letzte müssen Sie mir erklären.«

      »Åkesson hielt es wie die meisten von uns hier. Er machte im Haus und draußen Licht an, wenn er wegging. Um vorzutäuschen, dass jemand zu Hause ist. Wegen möglicher Einbrecher. Und wenn er zu Hause war, ließ er auch überall Licht brennen. Draußen, damit es ein wenig gemütlicher wirkte, nehme ich an. Drinnen, weil man Licht braucht, wenn es draußen dunkel ist. Mit anderen Worten, bei ihm brannte abends immer Licht. Aber nicht an diesem Abend. Und es blieb dunkel, bis Sie kamen. Meine Schlussfolgerung ist also einfach: Er wurde ermordet, bevor es einen Grund oder eine Gelegenheit gab, das Licht anzuknipsen.«

      »Und wann wäre das?«

      Sie zuckte mit den Schultern.

      »Als es anfing zu dämmern natürlich. Spätestens gegen halb acht.«

      »Also wurde er zwischen Viertel vor sechs und halb acht ermordet? Ist das Ihre Folgerung?«

      »Wenn es nicht durch die Obduktion widerlegt wird, ist es gut geraten.«

      »Er hat nicht viel Zeit gehabt, sein Leben als Pensionär zu genießen«, sagte Svalberg düster. »War an dem Abend jemand bei Ihnen hier im Haus? Ihr Mann?«

      »Der war verreist. Ich war allein.«

      »Haben Sie einen Schuss gehört?«

      »Nein. Darüber habe ich erst hinterher nachgedacht, als ich las, dass er erschossen worden ist. Aber ich habe nichts gehört.«

      »Dann habe ich nur noch eine Frage an Sie. Haben Sie jemanden gesehen? Sie verstehen bestimmt, was ich meine.«

      »Den Mörder? Auch darüber habe ich nachgedacht. Hier fahren ja Autos vorbei und Leute sind unterwegs aus allen möglichen Gründen. Da ist es schwer zu erraten, ob etwas nicht in Ordnung ist. Ich habe jedenfalls nichts Auffälliges bemerkt. Auf Åkessons Grundstück habe ich auch niemanden gesehen, daran würde ich mich erinnern. In diesem Punkt kann ich Ihnen leider nicht helfen.«

      8

      Zu Beginn der Woche hatte Olavi Andersson das Haus nur verlassen, um etwas zu essen zu kaufen. Die Schlafprobleme und die Angst, jemandem zu begegnen, den er kannte, und die Angst vor all jenen, die er nicht kannte, hielten ihn drinnen fest. Einige Male hatte jemand an die Wohnungstür geklopft, und einmal war er im Zweifel gewesen, ob er es sich nur eingebildet hatte. Er hatte nicht geöffnet.

      Aber als er am Freitagmorgen erwachte, fühlte er sich ausgeruht. Es war seit seinem großen Dämmerzustand die erste Nacht, die er durchgeschlafen hatte, und das ohne Alpträume. Er stand sofort auf, ging ins Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Danach nahm er eine Plastiktüte und steckte Bierdosen und Flaschen hinein. Essensreste und Kippen warf er in eine andere Tüte. Er wusch ab und saugte Staub. Dann tat er etwas, das früher nur seine Mutter getan hatte. Er putzte die Fenster.

      Plötzlich begann er zu weinen. Die Erinnerung an seine Mutter, die vor drei Monaten gestorben war, überkam ihn.

      Schließlich duschte er ein zweites Mal, rasierte sich und zog die sauberste Kleidung an, die er hatte. Die Wahl fiel ihm nicht schwer, da er nur zwei Hosen und drei Hemden besaß.

      Er musterte sich im Flurspiegel.

      »Ein Wunder, dass du noch lebst, Olavi«, sagte er laut zu seinem Spiegelbild.

      Er setzte sich aufs Bett und biss in die Fingerknöchel seiner linken Hand.

      Es ist wie üblich, dachte er. Aktivitätsparanoia. Ich bin nicht gesund, nur weil ich mich gut fühle. Aber diesmal soll es anders laufen. Ich bin den schweren Weg gegangen und habe es geschafft. Diesmal geht es um mehr als um mein eigenes jämmerliches Leben.

      Er reckte sich nach seiner zweiten, ziemlich schmutzigen Hose und angelte seine Geldbörse aus der Gesäßtasche. Sie enthielt nur ein paar Zettel. Er grub in den anderen Taschen und fand zwei Ein-Kronen-Münzen.

      Jetzt ist es Zeit hinauszugehen, dachte er.

      Er band seine Schnürsenkel. Schon fünfzig Meter von der Haustür entfernt traf er den Ersten.

      »Olli, wo hast du gesteckt? Mann, ich bin diese Woche mindestens zwei Mal bei dir oben gewesen. Komm, wir gehen einen trinken. Du hast doch was im Haus, ich hab grad nichts mehr.«

      »Ich


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