Gesammelte Werke. Ricarda Huch
konnte, beugte sich freiwillig vor alten Pergamenten, auf denen alte Privilegien verzeichnet waren, wagte selbst abhängigen Bauern die Abgaben nicht über das Herkömmliche zu steigern, wenn auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen andere geworden waren. Das Heilighalten des Rechtes hängt zusammen mit der Ehrfurcht vor den Göttern; diese beseelte den Deutschen, wenn er auch die christlichen Gebote häufig verletzte. Nicht nur, daß er die äußerlichen Formen des religiösen Lebens mitmachte, die Kirche besuchte, die Messe hörte, die Knie vor dem Allerheiligsten beugte; Weltliche wie Geistliche fühlten sich eingebürgert in dem wunderbaren Reich, das die Erde, den Stern der Mitte, umrundete, in dem das Sichtbare und das Unsichtbare eingegossen war. Das Drüben, wo alle Tränen versiegten, war nichts Fernes, nicht ein entlegener Ort, sondern es war da, wo man stand, ein Meer des Glanzes, das aufblinken konnte, wo immer ein Gläubiger den trügenden Schein der Welt überwand. Kam die Stunde des Todes, so löschte die sterbende Hand das letzte Fünkchen Welt aus, und der Tote tauchte in den Goldgrund der Dinge. Die Verbundenheit mit dem Jenseits bewog so viele Adlige, die diesseitige Welt, nachdem sie ihre Freuden erprobt hatten, plötzlich mit einer heroischen Gebärde von sich zu stoßen, zuweilen jung, vor der Hochzeit, trotz des Flehens der Eltern, zuweilen auf der Höhe des Ansehens und der Erfolge. Gero, der berühmte Markgraf Ottos des Großen, der einen Teil des slawischen Landes zwischen Elbe und Oder eroberte, von dem das Volkslied sang, daß er dreißig slawische Große ermordet habe, endete sein Leben im Kloster. Der Tod seines letzten Sohnes, in dem er auf Erden weiterzuleben gehofft hatte, erschütterte das Herz, das in zahllosen Schlachten nie unruhiger geschlagen hatte. Schon sein Vater hatte geplant, ein Nonnenkloster in der Nähe einer seiner Burgen zu stiften; das führte er nun aus, um die Zukunft der jungen Witwe seines Sohnes zu sichern, die er, wie es scheint, zärtlich liebte. Sie hat 55 Jahre lang der Abtei Gernrode als Äbtissin vorgestanden. Dann ging er, nicht zum ersten Male, nach Rom und legte das zur Bekehrung der Heiden geführte Schwert zu Füßen des Papstes nieder; schon nach anderthalb Jahren starb er. Für den Kriegsmann wie für den Geistlichen war der Übergang von der Erde zum Himmel weniger als ein Schritt, nur ein Schließen der Augen: die irdischen Lichter erlöschen, über der Seele gehen die göttlichen Geheimnisse auf.
Herzog Bernhard zur Lippe, ein treuer Anhänger Heinrichs des Löwen, wurde aus einem gefürchteten Kriegsmann, der vor Beraubung von Klöstern nicht zurückgeschreckt war, ein Kreuzzugsprediger und schließlich ein Bischof. Als Vater von fünf Söhnen und sechs Töchtern trat er in ein Kloster ein nach Überwindung des Widerstandes seiner Frau, die vermutlich weniger gesündigt und mehr gelitten hatte als er. Der religiöse Schwung war so stark, daß, wenn die Klöster entarteten, was immer geschah, sich neue Orden bildeten, die sie reformierten und mit religiösem Leben erfüllten. Im zwölften Jahrhundert gründeten Adlige die vielen Zisterzienserklöster, die so Großes zur Kultivierung des Nordens und Ostens geleistet haben. Graf Brüning von Gleichen trat in das Kloster Volkerode ein, das seine Mutter nördlich von Mühlhausen in Thüringen gegründet hatte, Graf Siegfried von Bomeneburg gründete Kloster Amelungsborn, ein Edler von Wolmundstein, der einen Freund im Turnier verwundet hatte, Kloster Waldsassen, Ritter Ludolf von Wenden das Kloster Riddagshausen bei Braunschweig, Graf Wilbrand von Hallermund in einer Einöde zwischen dem Steinhuder Meer und der Weser Kloster Loccum. Erklärt auch der wirtschaftliche Nutzen, den die Zisterzienserklöster brachten, ihre rasche Aufnahme, so war doch fast in jedem einzelnen Fall ein religiöses Gefühl der Antrieb der Stiftung, Reue über vergossenes Blut, Einsicht in die Flüchtigkeit irdischer Güter oder auch nur die Meinung, daß ein wirkungsvoller Akt der Frömmigkeit zur Vollendung eines christlichen Edlen gehöre.
Die enge Verbindung des kriegerischen Adels mit der Kirche wird erst recht verständlich, wenn man bedenkt, daß die frühmittelalterliche Kirche einen heidnischen Charakter hatte. Sie hatte ihn nicht nur, weil ihre Glieder zum großen Teil erst kürzlich bekehrte Heiden waren, nicht nur, weil zahlreiche Elemente des Heidenglaubens in die Kirche aufgenommen und übergegangen waren. Christus kam in eine erstarrte Welt, die er das Sterben lehrte. Er ist der Gott des Todes, darum waren seinem Antlitz von Anfang an Züge tiefster Trauer eingegraben. Vielleicht erlebte in ihm die Menschheit zum ersten Male bewußt den Tod. Das junge Germanenvolk war noch nicht erstarrt, sein Dasein vollzog sich jenseits von Gut und Böse, zwischen seinen strömenden Kräften des Hasses und der Liebe, des Frevels und der Reue konnte die Selbstsucht nicht zu hemmender Schranke gerinnen. Der spätere Mensch sieht mit Staunen, wie in der mittelalterlichen Welt entsetzlicher Blutdurst und zarte Himmelssehnsucht, Hochmut und Demut sich kreuzen, wie schwerste Verbrechen durch ein gelindes Priesterwort gesühnt werden, wie hohe Kirchenfürsten ihre irdischen Leidenschaften austoben, ohne sich dadurch beschwert zu fühlen. Blutrote Sünde wusch eine Träne ab. Diese junge Welt, in der der Tod nicht schmerzte, weil sie so voll Leben war, daß der Tod nur ein Überströmen in neues Leben bedeutete, erlebte das Christentum anders als die antike Welt, die vergessen hatte, daß nichts auferstehen kann, was nicht zuvor gestorben ist. Dementsprechend mußte die Kirche sich wandeln.
Das Gudrunlied erzählt, wie nach der blutigen Schlacht auf dem Wülpensande die überlebenden Helden die Toten zu bestatten beschließen, nicht nur die Freunde, sondern auch die Feinde, damit sie nicht den Raben und Wölfen zur Speise werden. Damit ihres tapferen Endes ewig gedacht werde, stiften sie ein Kloster mit einem Hospital, zu dessen Gunsten die Verwandten der Gefallenen Gaben beisteuern. Auch der Armen wird gedacht: ihnen soll der Erlös aus den Pferden, Rüstungen und Gewändern der Gefallenen zugute kommen. Eine Anzahl von Pfaffen, die dem Kloster zugewiesen wurde, soll betend und singend die Seelen der Erschlagenen Gott empfehlen. Vor der Schlacht hatten sie, weil es ihnen an Schiffen fehlte, einer Pilgerschar, die auf der Insel gelandet war, ihre Schiffe weggenommen; diesem Frevel schrieben sie den unglücklichen Ausgang des Treffens zu, und damit sie beim nächsten Gefecht besseres Glück hätten, beeilten sie sich nun, den Schaden zu ersetzen. Dann segelten sie heim, das Herz erfüllt von Rachegedanken, ungeduldig gespannt auf neues Blutvergießen. So war das Christentum der Edlen: zuweilen wurde ein härenes Gewand über den strahlenden Harnisch gezogen, dann, nachdem es wieder im Gepäck versorgt war, schlug das wilde heidnische Herz, ganz eins mit sich, dem nächsten Turnier, der nächsten Fehde, neuen Taten und Untaten entgegen. Die Kirche war mit diesen Söhnen zufrieden, und es ist anzunehmen, daß Gott es auch war.
Die Ottonen
Die Familie der Arnulfinger, die rasch in leuchtenden Stufen zu ihrem Gipfel aufgestiegen war, verfiel sofort nach dem Tode des größten, wenn sie auch noch lange nicht erlosch, als hätte das weithin weckende Licht, das von ihm ausging, vom Horizonte sich nicht lösen mögen und in einem langen Abendrote dem Untergange nachgeglüht. Trotz der Teilung unter die Söhne Ludwigs des Frommen erhielt sich noch das Bewußtsein des Zusammenhanges der west- und ostfränkischen Reichshälften durch die Dynastie, wie sie denn auch unter Karl dem Dicken noch einmal vereinigt wurden. Immerhin, obwohl das häufige Vorkommen germanischer Namen im 9. Jahrhundert der westfränkischen Hälfte noch ein germanisches Gepräge gab, beweisen die Eide, die bei Gelegenheit der Verträge von Verdun und Mersen über die Trennung geleistet wurden, daß im westfränkischen Reiche Französisch, im ostfränkischen Deutsch gesprochen wurde.
Die endgültige Trennung der deutschredenden Stämme vom Westfrankenreich wurde offenbar, als im Jahre 911 der letzte ostfränkische König, Ludwig das Kind, starb. Die Deutschen dachten nicht daran, sich nun wieder dem westfränkischen Karolinger anzuschließen, sondern ein Teil wählte Konrad zum König, der als Herzog von Franken und Anverwandter der karolingischen Familie der geeignete Nachfolger zu sein schien. Während seiner kurzen Regierung bemühte sich Konrad vergeblich um den Anschluß aller Stämme; außer in Franken und Schwaben wurde er nirgends anerkannt. Seine edle Gesinnung bewies er dadurch, daß er sterbend seinem Bruder Eberhard empfahl, auf die Nachfolge zu verzichten und die Krone seinem bisherigen Gegner, dem Sachsenherzog Heinrich, anzubieten.
Als mit dem Tode Karls des Großen der Mittelpunkt erschlaffte, in dem die Reichsglieder zusammengefaßt waren, wurde das Grundwesen der Germanen wieder wirksam, denen weniger der Trieb nach Einheit im Blute liegt als der Drang des einzelnen oder der Gruppe nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Der romanische Staat betont die Vertretung des Ganzen, schafft einen Beamtenapparat, der vom Mittelpunkt