Phantomschmerzen. Susan Hill
das wird wann genau sein?«
Er stöhnte.
»Da gibt es bestimmt jemanden, der mehr Zeit hat als du.«
Kieron hatte eine Handvoll Bohnen in die Hand genommen. Er legte sie wieder ab. »Jetzt, wo du es sagst …«
»Simon?«
»Simon«, bestätigte er.
8
Der Sturm hatte sich den ganzen Nachmittag über zusammengebraut, und als die letzte Fähre in den Hafen einbog, stampfte und schlingerte sie durch hohe Wellen, der stürmische Wind blies über den Bug, sodass sie dreimal wenden musste, um erneut das Dock anzusteuern. Als sie schließlich vertäut wurde, war nur die Mannschaft fest auf den Beinen und fröhlich.
Sam war noch nie seekrank gewesen, aber diese Fahrt hatte ihn auf die Probe gestellt. Er stützte sich ab, als er den Kai betrat, und der Boden schien unter seinen Füßen nachzugeben. Er hievte sich den Rucksack auf die Schultern und schaute den Hang hinauf, wo die Lichter im Pub noch brannten. So spät hatte er nicht ankommen wollen. Geplant war, dass er eine Fähre am frühen Nachmittag nahm, doch eins kam zum anderen, einschließlich verschlafen, keine Mitfahrgelegenheit finden, dann hinter einem anfahrenden Zug herlaufen, der, wie sich herausstellte, in die falsche Richtung fuhr. Daher hatte er es erst kurz vor Betriebsschluss geschafft.
»Du hast Glück. Die fahren morgen eher gar nicht aus, wenn die Wettervorhersage stimmt.«
Es war dunkel, und niemand wartete am Kai. Die einzigen anderen Passagiere waren ein Mann mit Rucksack, der allein zum Parkplatz ging, und eine Gruppe Studenten auf Exkursion, die in einen wartenden Kleinbus stiegen, der sie auf die andere Seite der Insel zum Feldforschungszentrum bringen würde. Die Crew machte die Fähre zum Auslaufen bereit. Sam ging den Hang hinauf zum Pub. Draußen standen zwei Fahrräder und ein verbeulter Transit. Drinnen war es ruhig, bis auf das Heulen des Windes und zwei Männer, die am Tresen etwas tranken. Sie drehten sich um, als die Tür aufging.
»Komm rein und mach die Tür zu, Junge, sonst werden wir ins Meer geweht.«
Sam war keinen Schritt näher gekommen, nachdem die Tür zu war.
»Du brauchst vielleicht einen Whisky, so grün, wie du aussiehst.«
»Mir geht’s gut. Hat jemand ein Auto, um mich mitzunehmen?«
»Haben sie nicht, jedenfalls nicht zu dieser Nachtzeit und bei dem Wetter. Wo willst du denn hin?«
»Komm schon, Junge, ich geb dir einen aus.« Der Mann mit dem roten Gesicht schob dem Wirt ein paar Münzen über den Tresen. »Ich hab dich schon mal gesehen.«
»Ich war schon mal hier.«
»Dann komm … Auf dich und ein langes Leben.« Sam betrachtete den Whisky. Er hatte noch keinen probiert, aber sie beobachteten ihn. Alle drei. Er hob sein Glas und leerte es in zwei Zügen, wie die Medizin, nach der er schmeckte, stellte das Glas ab und fragte noch einmal, ob die Möglichkeit bestand, über die Insel gefahren zu werden.
Der Wirt seufzte. »Meine Schrottkarre ist in der Werkstatt mit Riss in der Ölwanne, die Frau fährt Fahrrad, und das willst du dir heute Abend nicht leihen. Du lässt deins doch sicher auch hier, oder, John?«
Der Mann mit dem roten Gesicht glitt vom Barhocker. »Aye.«
»Danke für den Drink«, sagte Sam.
Der Mann nickte, schob sich aus der Tür und ließ den nächsten Windstoß herein.
»Er wohnt nur hundert Meter von hier den Hügel rauf. Wenn du auf die andere Seite willst, hast du heute Abend kein Glück. Ich hab kein leeres Zimmer, aber du kannst gern auf meiner Couch schlafen. Du bist Simons kleiner Vetter, oder?«
»Neffe.«
»Ich erinnere mich. Er wohnt ungefähr drei Meilen von hier, nur kannst du bei dem Wetter nicht zu Fuß gehen.«
Sam schaute auf seinen Rucksack. Er könnte ein paar Stunden auf der Couch schlafen und gegen Morgen aufstehen, wenn der Sturm vielleicht nachgelassen hätte. Aber als er das Angebot schon annehmen wollte, hörte er draußen durchdrehende Räder, und die Tür wurde dem Eintretenden aus der Hand gerissen. Draußen herrschte ein Chaos aus Sprühnebel, Regen und Wind.
Der Wirt brach in schallendes Gelächter aus. »Und hier haben wir die Einzige, die so bescheuert ist, bei dem Wetter vor die Tür zu gehen, ob mit oder ohne fahrbaren Untersatz.«
Die Frau, die hereinkam, trug eine grüne Regenjacke, Stiefel und einen Südwester, den sie in den Nacken schob, woraufhin sich Wasser auf die Matte ergoss.
Sie zögerte kurz, warf einen Blick durch den Raum und bemerkte Sam und den anderen Trinker am Tresen, der jetzt beschloss, schlafen zu gehen.
»Ich brauche eine neue Gasflasche, wenn du noch eine von der letzten Ladung übrig hast, Iain. Scheiß Teil. Bin mir sicher, dass sie voll war. Ich hab auf keinen Fall schon eine ganze verbraucht.«
Iain lachte. »Das behauptest du immer, Sandy. Ich sage es dir dauernd, und jetzt soll ich bei dem Wetter raus und deine Gasflasche schleppen.«
»Ich nehme ein Half-Pint, um den Schock abzumildern.«
Iain zapfte ihr Bier. »Ich hol dir dein Gas. Kümmer dich inzwischen um den jungen Mann hier.« Sie wechselten rasch einen Blick, den Sam als ›Behalt ihn im Auge und pass auf, dass er sich keinen Drink oder was anderes nimmt‹ auslegte.
Sandy drehte sich um. Sie musterte ihn, taxierte ihn regelrecht, dachte er. Das war ihm unangenehm. »Sandy Murdoch. Bist du mit der letzten Fähre gekommen?«
Sam nickte. »Ich dachte, ich könnte von hier aus mit jemandem mitfahren, hatte aber Pech.«
»In so einer Nacht fährt keiner rum. Wo willst du denn hin?«
Er zögerte. Woanders hätte er es niemals einer Fremden gesagt, aber auf der Insel war es wohl in Ordnung. Jeder kannte jeden und ging offen damit um, jeder Besucher wurde bemerkt und beurteilt.
»Zu meinem Onkel. Er wohnt in Stane.«
»Simon? Gut, jetzt, wo ich dich ansehe. Du hast seinen guten Knochenbau, wenn auch nicht seinen Teint – oder seine Augen.«
»Dann kennen Sie ihn.« Sam schaute die Frau aus den Augenwinkeln an. Sie hatte ein knochiges Gesicht, sprödes, strohblondes Haar.
»Du trinkst nicht«, sagte sie.
»Ich möchte nichts.«
»Na ja, ich würde nicht behaupten, dass ich nie alleine trinke, aber Gesellschaft ist mir lieber. Was nimmst du, wenn Iain wiederkommt?«
»Limonade?«
»Nicht dein Ernst.«
Sam antwortete nicht, und sie saßen schweigend herum, bis der Wirt zurückkam.
»Sie ist im Jeep, und jetzt schau dir an, wie ich aussehe.«
»Danke, Iain. Einen Dram für Sam, und dann nehm ich dir das andere Half-Pint ab.«
Sie ignorierte Sams Protest, brachte seinen Whisky an den Tisch, dazu ein Glas Limonade.
»So spült man den runter.« Sie lachte und hob ihr Glas.
Eine Viertelstunde später hatte sie Sams Lebensgeschichte aus ihm herausgekitzelt. Er trank einen weiteren Whisky, und die Kneipe bekam einen goldenen Schimmer. Er war angenehm müde und hatte plötzlich einen Bärenhunger.
»Gut«, sagte Sandy, knallte ihr Glas auf den Tisch und stand auf. »Ich bring dich zu deinem Onkel, bevor ich dich hier raustragen muss. Und das könnte ich glatt.«
Sam war leicht unsicher auf den Beinen, ging aber zielbewusst zur Tür. Als er sie öffnete, riss der Wind sie ihm aus der Hand und schlug sie nach hinten.
»Moment noch – hab was vergessen.« Sandy ging rasch in die Kneipe zurück. Sam beobachtete sie. Sie machte einen ganz netten Eindruck, ein Mensch,