Phantomschmerzen. Susan Hill

Phantomschmerzen - Susan Hill


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dem Dach und das Pfeifen des Windes durch die undichten Fenster hinweg ein Geräusch wie eine Turbine von sich gab. Sam dachte, so könnte er ruhig noch tausend Meilen weiterfahren. Sein Kopf sang.

      »Worum ging’s da bei dem ganzen Zeug?«

      »Was für ein Zeug?«

      Sam versuchte, mit schwerer Zunge die Frage zu formulieren, die er ihr stellen wollte, aber als es ihm gelang, hatte er sie vergessen.

      Die Scheibenwischer hatten Schwierigkeiten mit der Bewältigung des strömenden Regens und kratzten nur schwach hin und her, Pause, hin und her, Pause.

      »Wie können Sie rauskucken?«

      »Da gewöhnt man sich dran. Ich kenne die Straße.«

      »Sind Sie hier geboren, Sandy?«

      »Nein. Aber mir gefällt es hier, Sam. Die Leute kommen im Juni, Juli her, und alles ist Friede, Freude, Eierkuchen, und sie sehen es überhaupt nicht. Simon mag es, meinst du nicht? Mist.«

      Der Jeep rutschte seitwärts über die nasse Straße. Sandy fing ihn geschickt ab, und sie waren auf der letzten Geraden. Sam schaute aus dem Fenster, konnte aber nichts erkennen.

      »Ist das ein großer Umweg für Sie?«

      »Kein großer.«

      Sie bogen ab.

      »Da sind wir … zu Hause. Und jetzt gib acht auf dich – es gießt in Strömen, und der Boden ist glitschiger Schlamm.«

      »Vielen, vielen Dank. Wirklich nett von Ihnen. Ich bin Ihnen echt dankbar. Danke. Vielen Dank.«

      »Gern geschehen, Sam.« Er sah, dass Sandy lachte. Über ihn? Das ärgerte ihn, und er war kurz davor, ihr Paroli zu bieten, wie er da in Regen und Wind stand, aber dann setzte sie zurück, die Räder warfen Schlamm und Wasser auf, und noch bevor er Simons Haustür erreichte, hatte er vergessen, was er hatte sagen wollen.

      Eine halbe Stunde später, nachdem er ein heißes Bad genommen, frische Kleidung von Simon angezogen hatte und der Inhalt seines Rucksacks in der Waschmaschine war, saß Sam vor einem Becher Tee und sah zu, wie Eier, Speck und Bratkartoffeln auf dem Herd brutzelten. Simon hatte nicht viel gesagt, bis auf »Ach, du Scheiße!« ganz zu Anfang, als er die durchnässte, schwankende Gestalt vor seiner Tür hereingeholt hatte. Jetzt hörte er sich den oberflächlichen, aber etwas nüchterneren Reisebericht seines Neffen an. Er fragte nicht, was er getrunken hatte, denn er ging davon aus, dass es nicht so viel gewesen war.

      »Was ist mit deinen Haaren passiert?«, fragte Sam plötzlich und starrte ihn an, als hätte er ihn erst jetzt gesehen.

      »Bisschen heftig?« Simon fuhr sich mit der Hand darüber. Die blonden Haarsträhnen, die ihm normalerweise in die Stirn hingen, waren sehr kurz geschnitten worden und ließen seine Gesichtsknochen und den langen Hals erkennen.

      »Bisschen wie ein Sträfling.«

      »Danke. Nur weil Geordie es nicht richtig schneiden kann, daher hab ich’s ihn lieber mit der Schermaschine machen lassen. Hält auch länger. Möchtest du Toast?«

      »Nein danke. Aber hast du Tomaten?«

      »Leider nein.«

      Simon stellte ihm den Teller hin und wartete, bis Sam drei oder vier Bissen verschlungen hatte und eine Pause einlegte, um etwas zu trinken. Dann sagte er: »Okay, du hast mir erzählt, wie du hergekommen bist. Aber warum?«

      »Na ja, weißt du, ich war in der Nähe.«

      »Niemand ist in der Nähe von Taransay.«

      »Na ja, so ungefähr. Hab dich lange nicht gesehen. Hab gedacht, ich könnte mal wieder vorbeischauen.«

      »Wie schmeichelhaft.«

      »Wie geht’s …?« Er deutete mit einem Kopfnicken auf Simons Arm.

      »Gut.«

      »Prima.«

      Simon ließ ihn allein, machte noch mehr Tee und legte einen Ingwerkuchen auf einen Teller. Kirsty backte sie zu Hause und verkaufte sie zusammen mit ein paar anderen Kuchen im Laden. Die Nachfrage war groß, womit sie ein wenig zum Familieneinkommen beitrugen, so wie mit den Eiern der Hühner. Das Leben auf der Insel war bescheiden. Nichts wurde verschwendet.

      In der kurzen Touristensaison im Sommer hofften alle, die spärlichen Einkünfte des langen Winters auszugleichen. Simon gefiel diese Art zu leben, aber er bezweifelte, zäh genug zu sein, es lange durchzuhalten. Im Übrigen langweilte er sich zu schnell für eine so begrenzte Existenz.

      Sie saßen sich gegenüber und lauschten dem immer noch tosenden Sturm. Sam hob seinen Becher. »Danke, Si.«

      »Gern geschehen.«

      »Da ist was, das ich irgendwie kurz mal ansprechen möchte.«

      Simon wartete und ignorierte Sams beiläufigen Tonfall.

      Ein plötzlicher Windstoß schlug den Regen gegen die Fenster. »Ich hoffe, sie ist gut nach Hause gekommen.«

      »Wer, Sandy? Um die mach dir mal keine Sorgen – sie ist eine Überlebenskünstlerin, wie sie im Buche steht. Und wenn es ums Entladen geht, arbeitet sie für zwei Männer.«

      »Wo wohnt sie?«

      »Über den Hügel Richtung Küste.«

      »Mit Familie?«

      »Nein, allein. Wenn es irgendwo eine Familie gibt, hat sie nie darüber geredet.«

      »Kennst du sie gut?«

      »Wie eine Nachbarin – jeder kümmert sich hier um jeden. Das muss sein. Sie ist mal auf eine Tasse Tee reingekommen, wenn sie etwas vorbeigebracht hat. Warum?«

      Sam zuckte mit den Schultern und wandte den Blick ab. Simon lachte. »Nein«, sagte er. »Das soll wohl ein Witz sein. Sie ist … na ja … nein

      »Okay. Deine Freundinnen sind immer megaschick, stimmt.«

      »Und was ist mit deinen?«

      »Hör auf!«

      »Ella, so hieß sie doch?«

      Sam warf ein Kissen nach ihm. »Hör zu … ich wollte Kieron danach fragen, aber dann, ich … ich glaube, dir vertraue ich einfach.«

      »Kein Grund, ihm nicht zu trauen, Sam, er ist ein guter Mann … guter Polizist. Du kommst doch klar mit ihm, oder?«

      »Ja, ja, und Mum ist glücklich, also … hält sie sich aus meinen Sachen raus.«

      »Genau.«

      »Die Polizei. Diese Sache mit SO17, die mir immer vorschwebte.«

      Sam hatte schon immer zu den bewaffneten Sondereinheiten der Polizei gewollt, solange er und Simon sich erinnern konnten. Der ursprüngliche Plan war gewesen, einen guten Abschluss zu machen und dann zur Polizei zu gehen, um von dort im Schnellverfahren so bald wie möglich zur bewaffneten Sondereinheit zu wechseln. In den letzten beiden Jahren hatte er Gewehrschießen gelernt und schnell Geschicklichkeit entwickelt. Er hatte die County-Tabellen im Tontaubenschießen angeführt, sich aber geweigert, Wild zu töten. Das hatte zu einigen hitzigen Debatten mit Kieron geführt, der nicht verstehen konnte, wie sein Stiefsohn in Erwägung ziehen konnte, einen Menschen erschießen zu müssen, wenn er aus Prinzip nicht einmal einen Fasan töten wollte. Sam hatte einfach darauf bestanden, dass beides nichts miteinander zu tun hatte. Am Ende hatten sie sich auf Cats Drängen hin darauf geeinigt, das Thema gänzlich zu meiden.

      »Ich hab nachgedacht … vielleicht neu überlegt.«

      »Polizist zu werden?«

      Sam rutschte hin und her. Er griff nach seinem Becher. Trank. Rutschte wieder hin und her. Simon wartete.

      »Als du auf halber Strecke das Medizinstudium aufgegeben hast –«

      »Weniger. Ich hatte nicht einmal das zweite Jahr beendet.«

      »Okay,


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