Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
»So, ist das Gesindel wieder da? Nun, ich will sie schon hüten.«
Lene war die Tochter eines Scherenschleifers, das heißt, sie gehörte einem Volksstamme an, der sich damals vagabundierend viel in Westfalen umhertrieb und denselben Erwerb hatte wie die Zigeuner, mit welchem Volke er verwandt schien, obwohl ein weniger schmutziges, auch minder fremdartiges und orientalisches Aeußere ihn vorteilhaft von denselben unterschied. Man nannte sie Scherenschleifer, weil die Männer, wenn sie wegen eines Diebstahls oder wegen unverschämter Bettelei zur Untersuchung gezogen wurden, behaupteten, in irgendeinem Winkel der Welt einen Scherenschleiferkarren stehen zu haben, mit dem sie ihren Unterhalt suchten und auch einige wenige in der Tat ein solches Gerät mit sich führten. Sie waren, wie gesagt, reinlicher und anständiger als die Zigeuner, ihre Gesichtsfarbe, wenn auch dunkler wie die der Landeseinwohner, doch weniger kupferbraun als die jener; ihre Tracht unterschied sich von der der Bauern durch größere Nettigkeit; die Männer waren kenntlich an Jacken mit zwei Reihen dicht aneinander gesetzter kugelrunder Silber- oder häufiger Zinnknöpfe. Sie lebten unter einem, ich weiß nicht, ob gewählten oder durch Erbfolge eingesetzten Oberhaupt, das die Bauern den Heidenküster nannten und der regelmäßig der pfiffigste und verschlagenste Bursche war, der je Handschellen getragen hat, verwegen und tollkühn, daß alle Bauern seinen Requisitionen an Lebensmitteln und Geld sich schweigend unterzogen, und die damals durch Armenvögte ausgeübte Polizei sich wohl hütete, ihm in den Weg zu kommen. Er war zugleich der Oberpriester des Stammes und gab zum Beispiel den nach Belieben wieder auflösbaren Ehen seine Sanktion, indem er das Brautpaar über seinen ausgestreckten Stab springen ließ. Jetzt ist dieser Stamm fast ausgestorben und niemand hat der Mühe wert gehalten, über ihre religiösen Ansichten und über ihre Sprache sichere Notizen zu sammeln. Ich erinnere mich nur noch, daß ihr letztes Oberhaupt den romantischen Namen Baromantho führte.
Lene war die Tochter eines solchen Scherenschleifers, der vor ihrer Geburt auf eine gewaltsame Art ums Leben gekommen war. Ihre Mutter hatte oft Wohltaten von Frau Fahrstein empfangen und, als sie auf dem Boden eines Schafstalls auf offener Heide im Sterben lag, einem Paar vorübergehender Bauersleute aufgetragen, ihr achtjähriges verlassenes Kind der Frau Fahrstein zu bringen; die werde sich ja wohl seiner erbarmen. Frau Fahrstein mußte sich nun freilich der Waise erbarmen, auch wenn sie keine Lust dazu gehabt hätte. Aber das Mädchen war hübsch, anstellig und versprach eine geschickte und tätige Gehilfin zu werden. So zog Margret sie denn groß, hatte nun und dann auch wohl einen kleinen Aerger an ihr, wenn Lene zum Beispiel laut aufjauchzend jeder Vagabundenschar entgegenlief, die sie von fern über Land ziehen sah, oder wenn sie über irgendeinen Anlaß so in Zorn geriet, daß die kleine Heidenrange blau und rot im Gesicht ward, war aber im ganzen mit ihrer Adoption sehr zufrieden. Margret führte eine strenge und scharfe Zucht; doch als sie heranwuchs, bedurfte Lene dieser nicht mehr; sie ward stille und in sich gekehrt, machte mit einer großen Leichtigkeit und Raschheit ihre Geschäfte ab, wie sie auch in der Schule allen andern Kindern zuvorgekommen war, und gab Margret nie den geringsten Anlaß zur Klage mehr. Sie mochte jetzt zwanzig Jahre alt sein und war nicht sehr groß geworden, aber so hübsch, daß alle Dorfschönheiten mit großer Befriedigung sahen, wie sie sich nie in ihre Kreise mischte und von allen Tänzereien, Hochzeiten und andern Zusammenkünften fern blieb. Die jungen Burschen machten still ein Spalier, wenn sie aus der Kirche kam, um geradeswegs wieder nach Hause zu gehen. Keiner hatte recht den Mut, sie anzureden; sie konnte so verzweifelt stolz mit ihren kohlschwarzen, schmalgeschlitzten Augen drein funkeln; erst wenn sie die Klinke des Kirchhofpförtchens schon in der Hand hatte, ließen sie ihren witzig sein sollenden Bemerkungen über jene freien Lauf. Woher sie den großen, zigeunerhaften Mann kennen könne, der am Eingänge des Fichtenwäldchens saß, begriff Bernhard nicht; freilich, er konnte sich auch geirrt haben und ihr leiser Schrei nur der einer unwillkürlichen Furcht gewesen sein. Aber einige Tage nachher, als er noch sehr spät in seinem Zimmer über seinen Büchern saß, sah er plötzlich einen langen Schatten an der Wand ihm gegenüber auftauchen und rasch entlang gleiten. Er fuhr auf, öffnete das Fenster und steckte den Kopf ins Freie; an der andern Seite des Hauses klirrte ebenfalls ein Fenster, nur Lenes Kammer lag dort hinaus. Bernhard sprang nun über die niedere Brüstung in den Baumhof und schritt um die Hausecke; aber alles war still hier, und das Geräusch, das er vernommen, schienen die Aeste der Apfelbäume gemacht zu haben, die dicht am Hause standen und sich im Nachtwinde bewegten; sie waren wahrscheinlich mit den Spitzen der Zweige an die Scheiben gefahren.
Zwölftes Kapitel
Wunderbare Stimmungen, welche früher noch nie berührte Saiten in uns anschlagen und uns selbst zum erstenmal deren Dasein ankündigen; Träume, Launen, Einfälle und Eindrücke paradoxer Art – wer hat, wer kennt sie nicht, in wem bilden sie nicht die leichten Truppen, die um den Kern seiner Gedanken schwärmen, die Schmetterlinge, die Maikäfer oder »Grillen«, welche um die eigentlichen fruchtbringenden Blüten seiner Seele flattern? Auch Bernhard hatte sie; aber mit dem Unterschiede von andern Sterblichen, daß sie mit einer Hartnäckigkeit sich in ihm festsetzen, die ihn unter dem Einflusse einer fixen Idee leidend erscheinen lassen konnte, eine Gewalt über ihn ausübten, die jedem unbegreiflich gewesen wäre, der an das wache Geschäft des Werktags gewiesen, keine Zeit zu dem müßigen Wolkenzug und Mückenflug Beobachtungen eines poetischen Gemütes hat und keine andre Nacht kennt als die, welche der Nachtwächter ausbläst.
Bernhard war nicht damit zufrieden, wie ein Fischer bloß die eßbaren Geschöpfe einzufangen, die an die Oberfläche der See und in sein Netz geraten; er mußte tiefer hinab in das Meer des Lebens, oft ein verzagender Taucher, aber wie von einem Zauber nach unten gezogen. Er spähte in den Abgrund und nach all den wunderbaren schönen oder schrecklichen Bildungen und Kreaturen der Tiefe, der farbenglühenden Korallenwelt und dem ekelhaft zappelnden Gewürm. Er schauderte vor dieser unergründlichen finstern Region des Daseins – seines eignen Daseins. Ja, in ihm selbst sah er diesen Abgrund, ahnte, fühlte das wirre Treiben aller jener wunderbaren Dinge und Geschöpfe darin und erschrak vor diesem fremden Leben in seinem eignen Innern.
Er gehörte zu den wenigen Menschen, denen nichts so gering und unscheinbar auf der Welt ist, dessen ursprüngliche Schönheit sich ihnen nicht auch im Glanze und Glücke seiner Urform, seiner Harmonie mit seiner ewigen Bestimmung zeigte; nichts war so verachtet und gemein, das sich ihm nicht unwillkürlich enthüllte in seiner ewigen Natur und Schönheit, frei von der Sünde. Auf der andern Seite war nichts so glänzend und am Lichte prunkend, an dem die Füllhörner seiner Intuition und seines Zartgefühls nicht die wunde Stelle ausgefunden, nichts so groß, dessen innere Hohlheit er nicht geahnt, durchschaut hätte. Würde das Leben ihm Purpurteppiche auf dem Chore seiner schönsten Kathedrale ausgebreitet haben, um ihn zum Könige zu krönen – er hätte durch den Scharlach und die Gewölbe in die düstre Gruft darunter blicken müssen, wo man die Könige begräbt. Dieses unwillkürliche Bewußtsein des »Abgrunds« im Leben machte ihn traurig; er hätte bitterlich weinen können, wenn er die Philister so fröhlich und unbesorgt jubeln und zechen sah, und dachte, wie wenig es eines Simson bedürfe, um die Säule, die ihren Saal trug, wegzureißen und sie alle unter dem Schutte zu begraben.
Hiermit hing auf der einen Seite die feste und gläubige Religiosität seines Charakters zusammen; es war damit seinem Gemüte die Offenbarung des Grunddogmas des Christentums, des von einer Ursünde nämlich, gegeben – in dem übrigens eine tiefere Weisheit liegt, als unsre Philosophie sich träumen läßt. Auf der andern Seite nährte diese Gemütsrichtung eine solche Schar jener Grillen und träumerischen Stimmungen, daß daraus notwendigerweise ein Hemmnis für die Frische seiner Tatkraft entsprang und jeden Augenblick die Energie seines Wollens in eine neue Fessel geriet. Er fühlte diesen niederdrückenden Einfluß, den die Ursünde, die innerliche Zwietracht und Gespaltenheit der Welt und der unter ihr und ihm klaffende Abgrund auf sein immer beschaulicher werdendes Gemüt übten; und wie christlich, ja skrupulös kirchlich er auch war, ihm schwebte doch ein andres Ideal vor, eine ungebrochenere Welt, in welcher auch er in sich ungeteilter, ungebrochener, eines gesunden und kräftig nach außen wirkenden Daseins freudiger gewesen wäre. Die Heimat seiner liebsten Gedanken war das glühende blühende Heidentum; und wenn er sinnend die Wimper schloß, lag vor dem Auge