Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
zu werden vermochte.
»Ei,« stotterte er, sich abwendend, »du weißt ja, der einfältige Junge, den sie hat« – er stand auf und spuckte zum offenen Fenster hinaus, welche Gelegenheit er benutzte, von der Gesellschaft abgewendet darin liegen zu bleiben.
»Nun, der Junge!« fragte Josina mit einem Ton von Unschuld und Naivität, dessen Unverfänglichkeit nicht wiederzugeben ist.
Philipp lachte laut auf, über die Freiin sowohl als auch aus Vergnügen, ein so interessantes Familiengeheimnis zu entdecken. Der Hofrat trat aus dem Fenster zurück. »Komm, Philipp,« sagte er, »hüte dich vor den Weibern; sie taugen alle miteinander nichts, und ein ordentlicher Jäger sollte sie alle aus dem Hause jagen, denn seine Hunde bekommen nur Flöhe von ihnen – – Was – Teufel! – Wo war das? Das sind die Grünscheidter!«
Man hörte in der Ferne Jagdsignale blasen. Der Hofrat ward kirschbraun vor Wut. »Auf dem Mühlenberge!« schrie er, warf die Nachtmütze auf den Boden und griff nach der Flinte, die in der Ecke stand; ein kurzer Pfiff lockte die Hunde unter dem Frühstückstisch hervor, und die ganze Meute stürzte nun zusammen zum Zimmer hinaus.
Zweites Kapitel
In einem frischen, wiesengrünen Talgrunde, eine kleine Stunde oberhalb Diependahls, an demselben Murrbache, liegt das Rittergut Grünscheidt, das zu der Zeit, von der wir reden, etwas vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts, von einem seit einigen Jahren verwitweten Herrn und seinem einzigen Sohne bewohnt wurde. Herr von Driesch war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, klein und ziemlich starken Körperumfangs, was aber der außerordentlichen Lebendigkeit seines Geistes und aller seiner Bewegungen keinen Eintrag tat. Er hatte eine von der Erziehung seiner meisten Standesgenossen sich vorteilhaft unterscheidende Bildung erhalten; während jene, als Jagdjunker an irgendeinen kleinen Fürstenhof gegeben, durch allerlei Mühsal, schlimmer als die Prüfungen eines Johanniterordensnovizen, unter häufig beigezogener Hilfe der Hundepeitsche zum »fermen Weidgesellen« ausgebildet wurden, war Herr von Driesch als ein jüngerer Sohn zu den Jesuiten in die Schule gegeben worden und hatte von ihnen ein sehr gutes Latein und viel mehr Griechisch gelernt, als er später, nach dem Tode des älteren Bruders, zur Regierung seiner Güter anwendbar fand. Trotzdem war er bis jetzt ein Liebhaber der Humaniora geblieben und übersetzte Anakreon und Vergils Eklogen im Geschmacke der zweiten schlesischen Dichterschule; er war Mitglied des Pegnitzer Blumenordens und seinen Mitschäfern unter dem Namen »der Säuberliche« bekannt.
Im Besitze einer größeren Bildung und Wissenschaft, als die seiner meisten Standesgenossen war, mochte Herr von Driesch seiner Erhaltung auch größere Rücksichten schuldig zu sein glauben; er hatte zum Symbolum, weil ein solches jeder ausgezeichnete Mann damals führen mußte, die Eule der Minerva gewählt, die sehr tiefsinnig auf einer kahlen Leimrute saß und die Spatzen betrachtete, die festgeklebt an den kleinen Stangen flatterten. Darüber stand: »Wer sich unnütz in Gefahr begibt, kommt darin um.« Der Hofrat, Freiherr von Katterbach, der jedem Menschen etwas Schlechtes nachsagte, behauptete, daß Driesch an jedem Hasen vorbeischieße, sei lauter Sympathie. Dies war eine abscheuliche Verleumdung; es war nichts anderes, als eine sehr lebendige Phantasie, die Herrn von Driesch bei einzelnen Gelegenheiten auf Augenblicke zaghaft erscheinen ließ.
Er war ein gutmütiger Mann, solange es nicht wider seinen eigenen Vorteil lief, und liebte den Frieden und das Geld, aber von allen Dingen Zänkereien und Feindschaften am wenigsten. Ein wahres Herzeleid war ihm deshalb, daß ihm so nahe, drüben auf Diependahl, der Hofrat saß, der die Unverschämtheit hatte, seine Koppeljagd auf dem Mühlberge, einem Distrikte inmitten beider Güter, in Anspruch zu nehmen und ihm nebenbei alles mögliche Leid zu tun. – Schon die Familie von Schemmey, die vor den Katterbachs Diependahl und die andern Güter des Hofrats besessen, hatte den Prozeß über die Koppeljagdgerechtsame auf dem Mühlenberge mit den Grünscheidtern begonnen; aber sie hatte dem Rechte seinen Lauf gelassen und die Driesch waren im Besitze geblieben. Der Hofrat dagegen, obwohl er mit Driesch verwandt war und diesen nach seinem Tode zum Lehnsfolger gehabt haben würde, schritt, nach langjährigem Harren auf ein Urteil, auf dem Wege der Tat vor, ließ auf dem Mühlenberge keine Rebhuhnfeder übrig und versicherte, er werde jeden totschießen, der sich mit Hund und Flinte in seiner Hofesaat sehen lasse.
Laßt nur den ersten Jagdtag kommen, hatte Herr von Driesch schon oft mit Würde gesagt; ihr sollt sehen, wie ich mich werde zu maintenieren wissen. – Der erste Jagdtag war nun gekommen. Herr von Driesch erhob sich vor Sonnenaufgang, weckte seinen Sohn Johannes, einen vielversprechenden Jüngling von bedeutender Körperkraft, fast weißen Haaren und mit einem Gesichte, das an Ausdruck rührender Kindlichkeit mit einem weinenden Säugling wetteifern konnte, und stieg, von ihm, einem Jäger und seinen Hunden begleitet, auf den Mühlenberg.
Oben angekommen mußten Johannes und der Jäger sich auf eine Wallhecke stellen und die Jagdsignale der Grünscheidter blasen. Die Töne schmetterten hell und lustig durch die frische, duftige Morgenluft; eine Fanfare nach der anderen rollte über die tauglänzenden Gebüsche, durch die dünnen, flockigen Nebelwolken, die auf den Talgründen standen und jetzt, unter den Strahlen der aufsteigenden Sonne sich kräuselnd, leise verflatterten. Hoch in den Lüften schmetterten die Lerchen, die Hunde liefen suchend den Hang hinan und hinab, brachen schnuppernd durch den Ginster und die Brombeerranken. Dann schlugen sie plötzlich laut an und machten wütende Sätze im Kreise umher, denn der Pegnitzschäfer hatte aus lauter Vergnügen über die schöne Natur und den herrlichen Morgen seine Flinte in die Luft abgeschossen.
»Ei, ei! Ew. Gnaden!« sagte der Jäger, indem er das Horn absetzte und ein saures Gesicht machte.
»Was willst du, Anton? Blas' weiter! Immer lustig drein! Wir wollen uns maintenieren, wir wollen den jüngsten Besitz wahren! Hurra! Geblasen, Johannes!«
»Aber, Gnaden Papa, jetzt wird's Zeit; die Diependahler könnten kommen; der Rauch steht schon lange über ihrem Dach!«
»Ei was, die schlafen, die Sonne ist ja kaum auf; und laß sie kommen! Noch eins, Anton! So, immer zu! Hurra, hoho!« – Herr, von Driesch feuert den zweiten Schuß in die Luft ab; dann sprang er in die Höhe und sang, so heiter wie eine Meise im Hanfsamen, mit improvisierter Melodie seine jüngste Uebersetzung aus dem Vergil:
O Tityrus, der du im Buchenschatten ruhst,
Auf magrem Haberrohr ein Liedchen pfeifen tust,
Wir fliehn die Grenze jetzt und süße Vatermatten,
Indes du, Tityrus, ganz faul gelehnt im Schatten,
Läßt widerhallen Feld und Wald, das ist gewiß,
Vom Lob der schön' und zarten Amaryllidas! – Hurra!
»So, Anton, immer lustig fort! Das ist die possessio novissima, Johannes! Merk' das, Junker! Der Teufel hole die Diependahler! 's ist doch ein wunderschöner Morgen. Da, Anton, lade die Flinte mal wieder.«
Anton zögerte mit dem Laden, da er gar nicht für angemessen fand, seinem Herrn in der abscheulichen Angewohnheit Vorschub zu leisten, das gute Pulver in die Luft ab- und so sich selber anzufeuern. – »Ew. Gnaden, Ew. Gnaden!« sagte er kopfschüttelnd, »wir können's anderswo nötig haben!«
»Um Gottes willen, Papa!« rief jetzt Johannes, indem er von der Wallhecke heruntersprang.
»Was ist's, Schlingel? Du fürchtest dich? Junker, willst du blasen!«
In diesem Augenblick knallte seitwärts ein Schuß – noch einer. – »0 Gott, die Juno, die Juno!« rief Anton, der oben stand; »Herr von Katterbach haben die Juno totgeschossen!« Er griff nach seinem Gewehr und wollte in das nahe Gebüsch eilen.
»Bleib hier, Anton, hier!« rief Herr von Driesch, der blaß geworden war und zu zittern anfing. Die Zweige des Gebüsches öffneten sich, und Türk, der andere Hund, kam heraus mit blutigem, zerschossenem Hinterlauf und hüpfte winselnd auf seinen Herrn zu. Gleich darauf wurden die tauspritzenden Aeste höher noch einmal bewegt, schlugen auseinander und heraustrat der Hofrat, Freiherr von Katterbach, mit verzerrten Mienen, ohne Mütze,