Gesammelte Science-Fiction & Dystopie Romane (12 Titel in einem Band). Paul Scheerbart
und die Augen weit aufreisst – um sehen zu können – mit einem Blick – das ganze All.
Und ein lilienweisses Licht springt auf und leuchtet auf allen Seiten. Und vor dem lilienweissen Licht steht in schwarzer Säulenschrift viele Male auf allen Seiten die grosse Frage:
»Was ist die Unendlichkeit?«
Und darunter steht:
»Kaum ein Finger des Unnennbaren.«
Und Liwûna schwebt mit ihrem Kaidôh durch einen goldenen Sternzackenkranz, der eine runde Oeffnung der grossen Tempelkuppel umsäumt, ins Freie hinaus – in einen braunen Nachthimmel, der mit weissen, schmalen, ovalen Sternen übersäet ist.
Draussen ist es kühl.
Und Kaidôh fühlt, dass ein starker Arm seinen ganzen Körper wagerecht legt, sodass er nicht mehr die weissen Sterne sieht – sondern nur noch die Kuppeln.
Die Liwûna neben ihm liegt auch wagerecht in der Luft mit dem Gesicht nach unten wie er.
Und so schweben sie empor rückwärts – also dass sie immer mehr von den Kuppeln und Dächern der Sternriesentempel sehen.
Die Beiden schwebten, während ihre Gewänder rauschten und knatterten, neben Türmen und Säulenhallen immer höher so schnell, als wenn die Beiden von Riesenmäulern, die oben Luft einsogen, hinaufgezogen würden.
Und dann liegt das ganze Tempelreich in aller seiner Herrlichkeit unter ihnen.
Kaidôh ist ganz berauscht von diesem gewaltigen Anblick.
In der Mitte thront ein Kuppeldach, das einer goldenen Riesenperle gleicht; das Gold windet sich in Schlangenlinien hin und her – gekörntes Gold, blankes Gold und getriebenes Gold.
»Das sind natürlich lauter bewegliche Sternriesen!« erklärt die Liwûna. Die Goldkuppel ist von hellblauen und dunkelblauen Zackenringen umrändert. Die Ränder sind aber breit.
Ein Kranz von kleineren spitzen Silbertürmen umzäunt die Zackenringe. Um diesen Mittelpunkt sind nun hellgrüne und dunkelgrüne Riesenwürfel herumgestreut – die liegen wie Steinfelder da – bilden aber gleichfalls einen regelrechten Ring – einen so breiten allerdings, dass es schwer fällt, ihn als solchen zu überschauen.
Und um die grünen spitzen- und kantengrossen Würfel hat sich ein breiter grüner Wolkenring gelagert. Der Wolkenring ist im Innern sehr unregelmässig und zeigt viele tiefe Thäler, in denen das Wolkengrün beinahe schwarz erscheint.
Und ganz breite funkelnde Glastürme ragen auf allen Seiten hinter den grauen Wolken in den Nachthimmel hinauf.
Und die Glastürme sind ganz hell, als wären sie sämtlich innerlich erleuchtet; an den vielen rechteckigen Kanten der Türme funkeln die Regenbogenfarben wie an Brillanten. Kaidôh kann nicht über die Türme hinüberschauen; sie steigen alle rechteckig als breite Massen auf, die sich oben nicht verjüngen; sie tragen auf ihrer ganz stumpfen Spitze auf ganz flachem Dach unzählige kleinere Türme, die wie Schornsteine aussehen und noch stärker funkeln, als die breiten rechteckigen Türme, die das Grundgemäuer bilden.
Kaidôh schwebt noch schneller aufwärts – immer höher und höher. Der Mittelpunkt – das sieht er nun ganz deutlich – leuchtet in seinem eigenen Licht. Die goldene Mittelkuppel leuchtet wie heftige Sonnen. Milder leuchten die blauen Zackenringe und ganz milde die grünen Würfel; die silbernen Türme zwischen beiden glimmen nur so wie Phosphor im Dunkeln. Die grauen Wolken erhalten ihre Helligkeit von den grünen Würfeln und den Glastürmen.
Die ungeheuren Lichtmassen erscheinen in ihrer Wirkung so klein, da die Entfernungen so furchtbar gross sind.
Und Kaidôh gelangt allmählich in so ferne Höhen, dass er auch über die Glastürme hinwegsehen kann.
Und hinter den Glastürmen sieht er nun einen runden Reifen von gewaltigen Pyramiden – ein Diadem von gelben Topasen und lilafarbigen Amethysten, die sich abwechselnd folgen. Das Pyramidendiadem liegt weit hinter den Glastürmen.
Und der Pyramidenring wird wieder von Perlenfeldern umrahmt. Es sind aber schwarze sehr höckrige Perlen, zwischen denen vereinzelt wie Thränentropfen kugelrunde rosafarbige Perlen schimmern.
Und Kaidôh schwebt noch höher und empfindet das Ganze als grossen Tortenstern.
Hinter den schwarzen und roten Perlen recken sich aber noch in der Runde in regelmässigen Abständen sieben weisse Zungen vor, deren lange lange Spitzen hoch aufragen – wie die Spitzen der Schnabelschuhe.
Die spitzen Zungen sind weiss wie weisser Sammet und übersäet von vielkantigen dunkelrot glühenden Granaten; das Weisse herrscht aber wie Schnee leuchtend vor – so viele Granaten sinds nicht.
Neben den Zungen ist tiefschwarze Nacht ohne Stern.
Ein siebenzackiger Tortenstern liegt unter Liwûna und Kaidôh.
Von den Glastürmen sind nur die Kappen der balkenförmigen kleineren Türme zu sehen – die sprühen aber ihr buntes Licht in Scheinwerfern durch das Wolkenreich, sodass das auch zuweilen ganz bunt wird – bunter als alles Andre.
Der Wolkenring wechselt jetzt immerzu die Farbe – öfters ist er schwarz und weiss gestreift.
Auf den Spitzen der sieben weissen Schnabelzacken sitzen wie feine hohe Federsträusse blutrote Kometenschweife.
Durch die hochaufragenden weissen Schnabelzungen mit den weit hinaus ins Weltall steigenden Blutkometen erhält das ganze Tempeldächerreich von oben gesehen die Form einer seltsamen Himmelsblüte.
»Du hast wohl schon,« sagt Liwûna, »ganz und gar vergessen, dass du das Gewaltigste suchtest – nicht so, Kaidôh? Du wolltest dich mal mit dem Unnennbaren, der alles ist, vereinen. Das liegt nun hinter dir, nicht wahr? Du musst nicht so masslos in deiner Gier sein. Verbinde dich doch mit dieser Himmelsblüte!«
Kaidôh sieht die Tempeldächer noch lange an, lässt das Gold und das Silber, das Blau und Grün, die Würfel, Perlen, Pyramiden, Kometen, Granaten und die Wolken mit den bunten Glaslichtern so recht fest in seinen Augen wirken und erwidert dann langsam:
»Diese Himmelsblüte ist ein grosses Glanzwunder – aber sie umschliesst nicht alles. Sie zeigt die Mannigfaltigkeit der Welt in sehr stark vereinfachter Form mit vereinfachtem Farbenspiel; durch Regelmässigkeit ist alles vereinfacht.«
»Die Welt ist,« spricht da hart die grosse Liwûna, »so entsetzlich grossartig, dass sie selbst von Sternriesen nur in einem vereinfachten Sinnbilde zu erfassen ist. Bedenke nur, was schon alles aus der blossen Vermischung von Farben und Formen entsteht.«
»Ich empfinde,« fährt nun Kaidôh fort, »diese Tempeldächer als Bestandteile von Häusern. Und alles Hausartige hat für mich etwas Schneckenartiges. Dass selbst Sternriesen noch des Hauses bedürfen, verkleinert sie in meinen Augen um ein ganz Beträchtliches. Ich liebe es – ganz frei im All zu sein – ohne beengende Kräfte, die uns doch bloss die Aussicht ins All – ins Ganze – versperrt. Ich will nun mal im Ganzen aufgehen – und nicht in neuen Kapseln. Und daher fürchte ich, dass ich selbst dann, wenn ich mich mit dieser Himmelsblüte unlöslich für ewig verbunden hätte, genau dieselbe Sehnsucht haben könnte – wie bisher.« Nach diesen Worten ist es still im weiten All.
Dann aber hört Kaidôh ein donnerndes Lachen neben sich.
Und er fragt verwundert: »Kann Liwûna lachen?«
Doch das Lachen tönt so laut, dass seine Worte von dem Lachen verschluckt werden.
Und während des fortwährenden Lachens neben sich wird die Himmelsblüte kleiner und kleiner – ziemlich rasch.
Kaidôh steigt noch schneller empor.
Ihm ist dabei so, als drückten tausend Bleiwelten auf seinen breiten Rücken.
Und bald ist die Himmelsblüte nur noch ein bunter funkelnder Lichtpunkt, der sich allerdings sehr scharf von den andern weissen Sternen, die schmale ovale Form haben, unterscheidet.
Das Gelächter