Gesammelte Science-Fiction & Dystopie Romane (12 Titel in einem Band). Paul Scheerbart
vor Kaidôhs Augen.
Die himbeerroten Gasbälle, aus denen fortdauernd kleinere Gasbälle vorspringen, rollen puffend und piepsend an Kaidôh vorüber; und eine Kometenjagd schiesst ihnen nach. Die Kometen ähneln schaumartigen Silberkronen und sausen bald so schnell dahin, dass Kaidôh schliesslich den ganzen Himmel nur mit dickeren und dünneren Silberstreifen durchzogen sieht.
Liwûnas Eidechsenleib reckt sich und schrumpft zusammen – ihre Flügel sind bei dem scharfen Silberlicht unsichtbar geworden.
Die Kometen sind jedoch nach kurzer Frist verschwunden, und Kaidôh stürzt weiter kopfüber in einen riesigen Trichter, dessen Wanderungen aus ungezählten krallenartigen Gaspolypen bestehen – das sind unheimliche krötenbunte Sternwelten mit sehr vielen Radaugen, deren Speichen wie Phosphorquellen gleissen.
Kaidôh stürzt immer mit dem Kopfe voran nach unten und sieht, dass lange, zappelnde Polypenarme ihn umhalsen, und fühlt sich um sich selbst gedreht, grässlich rasch, und glaubt wieder, seine Todesstunde sei gekommen.
Und er will noch sehen, und er will noch hören.
Er sieht aber nur, dass alle diese Gaswelten mit den krötenbunten, zappelnden Krallen auf ihn eindringen, dass er glaubt, ersticken zu müssen. Und er hört in seinen Ohren eine fremde Stimme – die tönt wie lauter kleine Silberglocken:
»Leben heisst: vorhersterben. Sterben heisst: vorherleben.«
»Was vorherleben?« fragt Kaidôh.
»Das nächste!« tönt es wider.
Kaidôh denkt, ein Ungeheuer naht.
Er sieht was auf seiner Nase – ein dickes, schwarzes Tier ist es – mit zwei langen durchsichtigen Hörnern.
Das Tier sagt:
»Ich bin Liwûna! Und ich werde dich wieder in die richtige Lage bringen. Ich kann mich auch in kleinere Weltstücke verwandeln. Ich kann alles. Erkennst du nun, wie vielgestaltig deine Sehnsucht ist? Deine Sehnsucht ist wirklich nicht in einem fort sehr gross. Bilde dir das nicht ein. Ich werde nun zur Dampfwolke werden. Pass auf!«
Und Kaidôh sieht und fühlt plötzlich lauter heissen, weissen Dampf um sich. Er bemerkt, dass seine Fäuste schon weitab von seinen Körperseiten sind.
Und er nimmt wahr, dass seine Beine mit grosser Schnelligkeit durch die Welt fliegen, während sein Kopf stille steht.
Und der grosse Kaidôh hat die Empfindung, seinen Kopf wieder oben zu haben.
Und da sieht er ganz vergnügt in die Dampfwolken, die auf und abwirbeln – und Liwûna sind – was ihm unbegreiflich zu sein scheint.
»Sollte meine Sehnsucht ebenfalls unbegreiflich sein?«
Also fragt er sich selbst.
Und er hört aus den Wolken ein tausendstimmiges 'Ja!' erschallen.
»Das klingt ja so,« ruft er nun erstaunt, »als wenn Liwûna aus unzähligen Wesen bestände. Ist meine Liwûna in der Mehrzahl da?«
Und wiederum tönt ihm das tausendstimmige 'Ja!' um die Ohren.
»Was ist verständlich in dieser Welt?«
Also fragte flüsternd Kaidôh – der Riese. Und es wurde so kalt in dem weissen, heissen Dampf, und er sagte zusammenschauernd:
»Nur Narren denken über alles nach.«
Er wollte nicht mehr nachdenken.
Die Dampfwolken verzogen sich langsam, und ein gelbes, grelles Licht drang körperhaft wie Wasser von allen Seiten rieselnd auf ihn ein.
Und er fühlte wieder wohlthuende Wärme. Weiche Tropfen betupften seine Haut, sodass er wieder staunte – denn er hatte lange nicht so deutlich seine Haut empfunden.
»Du bist mitten in einer grossen Gassonne.«
So rief ihm zischend wieder mal eine Stimme zu, die er einmal gehört hatte.
Und er sah einen Schlangenkopf vor sich – der sprach kalt und lachend:
»Liwûna ist zur Knotenschlange geworden.«
Und er fühlte, wie ihr hellgrüner, ungeheurer Schlangenleib mit den vielen Knoten sich um alle seine Glieder wand und nur die Arme und den Kopf freiliess.
In Liwûnas hellgrünem Schlangengesicht war die Schlangenhaut so fein, dass Kaidôh die schwarzen Adern deutlich unter der Haut sehen konnte; er sah in den Adern das schwarze Blut dahinströmen wie wilde Wasserfälle; er unterschied sogar weisse Schaummassen in den schwarzen Fluten. Die Schlange sagte ruhig:
»Du hast gehört und hast gesehen, dass ich in sehr vielen Gestalten dir erscheinen kann. Ich kann dir in unendlich vielen Gestalten erscheinen. Wenn deine Liwûna das schon kann, denkst du da, dass grosse Sterne das nicht auch können? O ja – sie können das. Jedes Stück Welt erscheint anderen Sinnen anders. Da das Erscheinen aber ein Sein ist, so ist jedes Stück Welt auch immer wieder etwas andres, in jedem Augenblick – zu gleicher Zeit das Eine und auch alles Andre – alles, was es scheinen oder sein kann – ist es auch immer. Und was vom Stück gilt, wird wohl vom Ganzen erst recht gelten. Auch der Allgeist ist nur in unendlich grosser Mehrzahl zu denken. Und mit einem so unbegreiflich grossen Geiste willst du dich vereinen? Weisst du, wie dein massloser Wunsch zu behandeln ist? Ich dächte, Du könntest dir die Frage selber beantworten.«
Kaidôh sah, dass Liwûnas Schlangengesicht immer wilder blickte, ihre zwei grossen Augen wurden ganz weiss und traten weit vor. Die schwarzen Adern schwollen heftig an. Und der Riese Kaidôh hatte ein Gefühl, als würde ihm der ganze Rumpf durch den Schlangenleib vom Kopf getrennt – er fühlte seinen Rumpf nicht mehr – und glaubte, nur noch Kopf zu sein und weiter nichts.
Und ihm gingen die Gedanken ganz und gar durcheinander, und es befiel ihn plötzlich eine zuckende Angst – Angst vor dem Wahnsinn.
Und er rief laut:
»Liwûna! Liwûna! Ich will nicht mehr das Ganze. Es ist zu gross. Es ist zu viel. Ich will nur einen Teil – nur ein Stück von der Welt. Ich will nicht mehr das Gewaltigste.«
»Was willst du also?« fragte die Liwûna rauh.
»Ich will,« erwiderte der Kaidôh scheu, »eine vereinfachte Welt. Und mit der will ich zusammen eins werden.«
Und Kaidôh fühlte wieder seinen Rumpf unter sich – aber seine Fäuste schienen ihm noch weiter entfernt zu sein – seine Arme standen steif im rechten Winkel zum Körper.
»Eine einfache, gewaltige Stunde!«
Also schrie Kaidôh in grässlicher Angst.
Und die Kartenschlange verschwand.
Alles wurde dunkel.
»Ich will sterben,« flüsterte der grosse Riese, »denn das Leben ist zu schwer zu ertragen. Der rasende Wirrwarr ist zu gross. Man verliert zu oft den Kopf, und alles wird sinnlos. Und ich sehne mich doch nur nach der gewaltigen Stunde – und die finde ich doch nur – wenn ich sterbe.«
Seine letzten beiden Worte klangen dumpf hallend durch die Finsternis, und ferne Echos riefen höhnisch zurück:
»Ich sterbe! Ich sterbe!«
Und er fliegt lange dahin, ohne jeden Gedanken – in der Finsternis.
Dann aber fühlt er, dass er nur mit Mühe weiter kann. Er muss stehen bleiben.
Er versucht, die Fäuste aufzumachen und die Finger auszuspreizen, als wenn er Halt suchen möchte – da er ja keinen Boden unter den Füssen fühlt.
Und er kann die Fäuste aufmachen; es geht so ganz allmählich.
Und ihm ist so, als hänge er in der Finsternis.
Und er weiss nicht, wo er ist.
»Ich wusste,« sagt er, »allerdings niemals, wo ich war. Das weiss ja keiner. Daran muss man sich gewöhnen.«
Winde pfeifen