Gesammelte Werke von Guy de Maupassant. Guy de Maupassant
Reihe längs der Brüstung, und man war über den weiten ungeheuren Horizont begeistert. Am Fuße eines langen Hügelrückens floß die Seine nach Maison-Lafitte zu, wie eine Riesenschlange, die auf einer großen Wiese lag. Rechts auf dem Kamm der Hügelkette hob sich die Wasserleitung von Marly vom Himmel ab; sie sah wie eine riesige Raupe mit breiten Pfoten aus, und Marly selbst verschwand in dem dichten grünen Laub der Bäume.
Auf der weiten Ebene, die sich vor ihnen ausbreitete, sah man hin und wieder kleinere Dörfer. Die Seen von Vesinet bildeten schöne weiße Flecke in dem spärlichen Grün der kleinen Haine. Links, ganz in der Ferne, ragte über dem Horizont der spitze Turm von Sartrouville.
Walter erklärte:
»Nirgends in der Welt findet man solch ein Panorama. Selbst in der Schweiz gibt es nichts Ähnliches.«
Dann begann man langsam auf und ab zu gehen, um den Blick auf die weite Landschaft zu genießen.
Georges und Suzanne blieben etwas zurück. Sobald sie ein paar Schritte von den anderen entfernt waren, sprach er mit gedämpfter, leiser Stimme zu ihr:
»Suzanne, ich liebe Sie über alles, ich liebe Sie zum Wahnsinnigwerden.«
Sie flüsterte:
»Ich auch, Bel-Ami.«
Er fuhr fort:
»Wenn Sie nicht meine Frau werden, verlasse ich für immer Paris und dieses Land.«
»Versuchen Sie doch, Papa um meine Hand zu bitten, vielleicht willigt er ein.«
Er machte eine kurze, ungeduldige Bewegung.
»Nein, ich sage es Ihnen zum zehntenmal, es ist zwecklos. Er würde mir nur sein Haus verbieten; er jagt mich aus der Zeitung fort, und wir werden uns nicht einmal sehen können. Das würde das hübsche Ergebnis sein, wenn ich in der üblichen Form um Sie anhalte. Man hat Sie dem Marquis de Cazolles versprochen, und man hofft, daß Sie schließlich doch ja sagen. Man wartet.«
»Was soll man da tun?« fragte sie.
Er sah sie von der Seite an und fragte zögernd:
»Lieben Sie mich so heiß, daß Sie für mich eine Torheit begehen könnten?«
»Ja«, sagte sie entschlossen.
»Eine große Torheit.«
»Ja.«
»Eine sehr große Torheit.«
»Ja.«
»Hätten Sie genügend Mut, Ihrem Vater und Ihrer Mutter zu trotzen?«
»Ja.«
»Bestimmt?«
»Ja.«
»Also gut. Es gibt ein einziges Mittel, die ganze Sache muß von Ihnen und nicht von mir ausgehen. Sie sind die Lieblingstochter, ein verwöhntes Kind. Sie dürfen alles sagen; man wird auch über eine neue Keckheit Ihrerseits nicht so arg erstaunt sein. Also hören Sie zu. Wenn Sie heute abend nach Hause kommen, suchen Sie Ihre Mama auf, wenn sie ganz allein im Zimmer ist und gestehen ihr, daß Sie mich heiraten wollen. Sie wird in eine große Aufregung geraten und sehr wütend sein …«
Suzanne unterbrach ihn:
»Oh, Mama wird mit größter Freude einwilligen.«
»Nein,« sagte er lebhaft, »Sie kennen sie nicht, sie wird noch zorniger und aufgeregter sein als Ihr Vater. Sie werden sehen, wie sie es Ihnen verweigert. Aber Sie halten sich. Sie geben nicht nach. Sie wiederholen immerfort, daß Sie mich heiraten wollen, nur mich allein und niemanden andern. Werden Sie das tun?«
»Ja, ich werde es tun.«
»Wenn Sie von Ihrer Mutter kommen, sagen Sie dasselbe Ihrem Vater, aber sehr ruhig und entschlossen.«
»Ja, sehr gut; und dann?«
»Und dann … und dann kommen wir an den schwierigsten Punkt. Wenn Sie entschlossen, richtig entschlossen sind, meine Frau zu werden, meine liebe, liebe, kleine Suzanne … dann … dann entführe ich Sie.«
Sie fuhr vor Freude auf und begann in die Hände zu klatschen. .
»Oh, welches Glück! Sie werden mich entführen, wann werden Sie mich dann entführen?«
Die ganze Poesie der nächtlichen Entführungen mit Postkutschen, Herbergen und all den wunderbaren Abenteuern, wie sie in den Büchern stehen, fuhr ihr plötzlich wie ein märchenhaftes Traumbild, das sich verwirklichen sollte, durch den Kopf. Sie wiederholte:
»Wann werden Sie mich entführen?«
Er antwortete ganz leise:
»Heute noch … heute abend… vielleicht in der Nacht.«
Sie fragte zitternd:
»Und wohin gehen wir?«
»Das ist mein Geheimnis. Aber überlegen Sie sich genau, was Sie tun. Bedenken Sie, daß nach dieser Flucht Ihnen nichts anderes übrigbleibt, als meine Frau zu werden. Es ist das einzige Mittel, aber es ist … sehr gefährlich … für Sie …«
Sie erklärte:
»Ich bin entschlossen … Wo werde ich Sie treffen können?«
»Können Sie das Palais ganz allein verlassen?«
»Ja. Ich kann die Seitentür aufschließen.«
»Nun gut! Wenn der Portier sich schlafen gelegt hat, erwarte ich Sie auf dem Place de la Concorde. Sie finden mich in einer Droschke, gegenüber dem Marineministerium.«
»Ich komme«, sagte sie.
»Bestimmt?”
»Ganz bestimmt.«
Er nahm ihre Hand und drückte sie.
»Oh, wie ich Sie liebe, wie Sie gut und tapfer sind! Sie wollen also den Marquis de Cazolles nicht heiraten?«
»O nein.«
»War Ihr Vater sehr böse, als Sie nein sagten?«
»Das will ich wohl meinen, er wollte mich in ein Kloster schicken.«
»Sie sehen also, daß wir energisch sein müssen.«
»Ich werde es auch sein.«
Sie sah vor sich die weite Landschaft, den Kopf voll Gedanken über die Entführung. Sie würde noch weiter ziehen … mit ihm! … Sie wurde entführt! … Sie war stolz darauf! Sie dachte nicht an ihren Ruf, an das Infame und Schändliche, was ihr vielleicht bevorstand. Wußte sie etwas davon? Ahnte sie das überhaupt?
Frau Walter wandte sich um und rief:
»Aber komm doch, Kleine! Was machst du da mit Bel-Ami?«
Sie holten die anderen ein. Man sprach über Seebäder, wo man bald sein würde.
Dann fuhren sie über Chatou zurück, um nicht denselben Weg noch einmal machen zu müssen. Georges sagte nichts. Er dachte: »Also, wenn diese Kleine etwas Mut hat, dann würde die Sache endlich klappen.«
Seit drei Monaten spann er um sie das unwiderstehliche Netz der schmeichelnden Zärtlichkeit. Er bezauberte, er verführte und eroberte sie. Er hatte sich von ihr lieben lassen, er strengte sich an, so gut wie er es irgend konnte. Er hatte mit Leichtigkeit ihre Puppenseele gewonnen.
Er hatte zunächst erreicht, daß sie dem Marquis de Cazolles absagte. Nun hatte er erreicht, daß sie mit ihm durchgehen würde, denn es war das einzige Mittel.
Daß Frau Walter niemals zustimmen würde, ihm ihre Tochter zu geben, das begriff er sehr wohl. Sie liebte ihn noch, sie würde ihn immer lieben, und zwar mit einer leidenschaftlichen Wucht. Er hielt sie durch seine berechnete Kälte in den Schranken, aber er fühlte, wie sie von einer gierigen, ohnmächtigen und verzehrenden Leidenschaft gequält wurde. Sie würde nie nachgeben. Sie würde nie zulassen, daß er Suzanne heiratete. Aber sobald er die Kleine in der Ferne versteckt hielt, dann konnte er mit dem Vater unterhandeln,